Читать книгу Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod. - Sarah Markowski - Страница 32

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Sonntag, 30.06.2019, 21: 50 Uhr

- Helena

Vorsichtig setzt Helena einen Fuß vor den anderen. Als sie aus Versehen gegen eine leere Glasflasche tritt, zuckt sie erschrocken zurück. Das Klirren war so laut, dass sich sogar der Maskenmann nach ihrem Befinden erkundigt.

„Alles gut!“, ruft Helena in die Dunkelheit hinein.

Nichts ist gut, denkt sie zur gleichen Zeit.

„War das deine Flasche?“

„Nein“, entgegnet Helena, denn die Glasflasche, in der sich nur noch ein kleiner Rest Bier befindet, hält sie immer noch so fest umklammert, als könne sie ihr Halt geben. Sie schaut sich um. Die verwilderte Grünfläche, unbenutzte Container und reihenweise Autowracks; das alles kommt ihr so bekannt vor. Helena schaudert, es ist genau wie in dem Skript beschrieben, das sie Wort für Wort auswendig gelernt hat. Vorsichtig fährt sie mit der Hand über die Motorhaube des völlig ramponierten Mercedes. Plötzlich flammt ein Baustellenflutlicht auf. Helena erschrickt zu Tode. Sie sammelt sich wieder und atmet tief ein und aus, um ihren Herzschlag zu beruhigen. Immerhin ist es nun hell genug, um das Auto näher unter die Lupe nehmen zu können. Sie kniet sich neben den Reifen und fährt mit der Hand über den Boden, um zu überprüfen, was ihr aus den Augenwinkeln gerade aufgefallen ist. Das knöchelhohe Gras ist zu allen Seiten umgeknickt. Stünde der Wagen schon lange dort, wäre unter den Reifen sicher kein Grün mehr gewachsen – jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.

Was hat das zu bedeuten?

„Hey, was machst du da?“

„Nichts!“, ruft Helena vielleicht etwas zu eilig. Sie rappelt sich wieder auf, schaut sich nicht um, und läuft schnell weiter in Richtung des alten Fabrikgebäudes, dessen verrottete Fassade im Licht der Baustellenlampe noch besser zu erkennen ist. Helena bleibt stehen und versucht, sich die Sätze des Manuskriptes genau ins Gedächtnis zu rufen. Ihr Fleiß, alles wortgetreu auswendig zu lernen, macht sich also doch bezahlt.

Auf der Hinterseite entdeckt Mia eine Treppe.

Helena setzt sich wieder in Bewegung, bis zur Hinterseite ist es nicht mehr weit. Sie durchquert eine Absperrung, die ehemals als Zaun gedient haben muss, mittlerweile jedoch nur noch aus einzelnen, verrosteten Drahtstücken besteht, die nebeneinander im Gras liegen und zwischen denen sich Unkraut und Wildblumen emporranken. Es dauert nicht lange, bis Helena die Treppe entdeckt. Das Geländer ist morsch, doch die Stufen scheinen noch ganz in Ordnung zu sein.

Warum tue ich mir das an?

Helena schluckt. Sie mag Abenteuer, doch dieses ist nicht ganz nach ihrem Geschmack.

Das weißt du nicht?, die Worte des Fremden hallen in ihrem Kopf wider, und wider.

„Nein, das weiß ich nicht!“

Trotzdem bewegt sie sich wie fremdgesteuert. Als wüsste sie, dass das alles nur ein Spiel ist, dass alles gut wird, dass das hier nur ein Filmdreh ist, für den neuen Blockbuster, dessen Debüt schon überall angekündigt wird.

Nur ohne Kamerateam. Und ohne Regisseur. Und ohne alles.

Helena seufzt. Gleichzeitig läuft sie die Treppenstufen hinauf, eine nach der anderen.

Ich sollte umkehren, der Gedanke lässt sie nicht in Ruhe, doch ihre Füße laufen wie von selbst. Helena hat keine Angst mehr, obwohl sie die in diesem Moment vermutlich haben sollte. Ihr Kopf schreit stopp, doch alles geschieht wie von selbst.

Vielleicht ist es die Freiheit.

Der Gedanke schießt ihr durch den Kopf, als sie am Rande des Gebäudes steht und durch den Rahmen schaut, der vor einiger Zeit sicher mal als Fassung für ein bodentiefes Fenster gedient hat.

Vielleicht bin ich einfach so froh, draußen zu sein. Ich bin nicht mehr eingesperrt, nicht mehr komplett auf von außen kommende Hilfe angewiesen. Ich bin draußen, in der Natur. Komme, was wolle, es ist alles besser, als ein Leben lang in dieser ultraweißen Zelle verbringen zu müssen.

Helena schaut sich um. Überall liegen Rohre, Bauwerkzeug und Holzplatten. Sie entdeckt eine Leiter am Ende des Raumes, doch die Sprossen wackeln schon beim bloßen Anschauen. Sofort denkt Helena wieder an Mia:

… höher traut sie sich nicht, denn dorthin führt statt einer stabilen Treppe nur noch eine marode Leiter. Mia setzt sich an die Kante des Gebäudes und lässt die Beine baumeln. Ihre Füße schlagen abwechselnd gegen die Hauswand. Ihre Finger tasten die scharfe Kante des Gemäuers ab; hier muss früher mal eine Wand gestanden haben, die – wie so viele andere auch – mit der Zeit vermutlich abgerissen wurde.

Helena läuft mit schweren Schritten zurück zum Fenster. Was vorhin wie von selbst ging, fühlt sich nun an, als hätte sie Eisenketten an den Füßen, die ihr jeden Schritt zusätzlich erschweren. Ihr ist schwindelig; vielleicht ist es die Höhe – womit sie normalerweise keine Probleme hat – oder vielleicht ist es die Aufregung. Vielleicht auch die Kombination aus beidem. Helena tastet sich am übriggebliebenen Mauerwerk entlang, stützt sich aber nicht zu stark ab, da ihr die Tragfähigkeit nicht mehr so stabil vorkommt, wie sie vor einigen Jahren sicher einmal gewesen war oder hätte werden sollen. Sie stellt die Bierflasche auf den Boden, kniet sich hin, und legt den Rest des Weges im Vierfüßlerstand zurück. Ihr Herz pocht in der doppelten Frequenz des gesunden Minutenmaßes und ihr läuft der Schweiß an Stirn und Schläfen hinunter, als sie sich endlich wieder aufrichtet und sicher auf dem Boden sitzt. Ihre Füße baumeln im Freien und klopfen abwechselnd gegen das hohle Mauerwerk. Helena fragt sich, wozu sie das Skript überhaupt auswendig gelernt hat, wenn es im Endeffekt doch nicht überprüft wird.

Vielleicht sollte ich froh sein, denkt sie. Doch ärgerlich ist es trotzdem. So viel Aufregung um nichts.

Helena fragt sich, ob Mia wohl Höhenangst hatte. Zu einem Entschluss kommt sie nicht mehr, da sie eine Stimme aus der Tiefe aus den Gedanken reißt.

„Mia? Mia, bist du da?“

„Ja?“, ruft sie halb fragend zurück, da sie sich nicht vorstellen kann, dass man sie in dem grellen Flutlicht von unten nicht sehen kann. Doch wahrscheinlich gehört das auch zum Skript, denn Mia wird schließlich von einem alten Bekannten entdeckt und angesprochen, während sie hier oben sitzt.

„Du musst noch ein Stockwerk höher!“

„Muss ich das?“

Ein Räuspern. Sie weiß, dass das die falsche Antwort war.

Halte dich ans Skript, Änderungen sind nicht vorgesehen.

Helena schluckt den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie schwitzt vor lauter Angst an Stellen, an denen sie noch nie zuvor geschwitzt hat. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und stützt sich am rauen Betonboden ab.

Sie steht auf, Steine bröckeln vom Rand des Gemäuers.

Helena möchte nicht noch ein Stockwerk höher klettern, sie weiß was dann kommt. Sie kennt das Skript, sie kennt es in- und auswendig. Sie möchte schreien, alles hinausschreien: die Angst, die Ungewissheit, die Erniedrigung, die Verzweiflung, den Schmerz. Doch ihr Hals ist wie zugeschnürt. Alles, was sie von sich geben kann, ist ein stumpfer, erstickter Laut.

Mia verliert den Halt, rutscht ab und stürzt in die Tiefe. Sie ist auf der Stelle tot.

Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.

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