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Energiesicherheit in Krisenzeiten

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Als Winston Churchill, damals Minister für die britische Flotte, am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Kriegsschiffe der Royal Navy von Kohlebefeuerung auf Öl umstellen ließ, befürchteten seine Kritiker, dass das aus Persien importierte Öl – im Gegensatz zur Kohle aus Wales – bald ausgehen könnte. Auf die Frage nach der Sicherheit der neumodischen Energiequelle Öl in Krisenzeiten hatte Churchill eine Antwort parat: »Sicherheit und Verlässlichkeit liegen darin – und nur darin –, dass wir die Auswahl haben.« Diese Auswahl hatte England – im Gegensatz zu seinem baldigen Kriegsgegner Deutschland – wegen der gerade entdeckten Ölvorkommen in Persien.

Churchills Regel, dass Energiesicherheit zu einem wesentlichen Teil darin besteht, eine Versorgung aus mehreren Quellen sicherzustellen, gilt auch heute noch. Keine Macht der Welt verlässt sich bei ihrer Energieversorgung allein auf das Funktionieren der globalen Märkte. Energiesicherheit war immer auch Bündnis- und Außenpolitik. Anders als 1910 spielen heute aber auch die Grenzen, die der Umwelt- und Klimaschutz der Expansion unserer Weltwirtschaft auferlegt haben, eine zentrale Rolle.

Heute genießt das Thema Energiesicherheit wieder so viel Aufmerksamkeit wie seit der Ölkrise der siebziger Jahre nicht mehr. Seit dem Eintritt Chinas, Indiens und anderer großer Schwellenländer in die Weltwirtschaft werden Öl und Erdgas knapp. Die Preise sind auf einen historischen Höchststand gestiegen. Außerdem hat eine Reihe von politischen Krisen und Naturkatastrophen am Anfang des neuen Jahrtausends deutlich gemacht, wie verwundbar das weltweite Energiesystem ist. Dazu gehören der Krieg im Irak, die Krise um das iranische Atomprogramm, die neue aggressive Außenpolitik Russlands und natürlich der Hurrikan Katrina, der im Sommer 2005 die Ölförderung im Golf von Mexiko lahmlegte. Sollte es in mehreren der genannten Regionen gleichzeitig zu einer Krise kommen, könnte die Versorgung des Weltmarkts mit Öl und Gas tatsächlich ernsthaft gefährdet sein. Allein das Wissen um die Möglichkeit einer solchen Konstellation hält die Preise hoch. Irans fundamentalistischer Präsident Ahmadinejad nutzte dieses Wissen, als er im Moment des Libanonkriegs ankündigte, der Ölpreis könne auf 200 US-Dollar pro Barrel steigen. Venezuelas populistischer Präsident Chavez zielt auf die Psychologie der internationalen Ölhändler, wenn er zum wiederholten Mal mit einem Exportstopp in die USA droht. Auch die Gas-Supermacht Russland kokettiert mit der Drohung, ihre Exporte zukünftig von Westeuropa nach Ostasien umzuleiten. Auch wenn eine solche Drohung technisch schwer umsetzbar und höchstens langfristig realistisch ist, so tut sie doch beim Empfänger ihre Wirkung. Das Gefühl der Abhängigkeit vom russischen Gas hat die politischen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen schon jetzt zu Moskaus Gunsten verändert. Sowohl die europäischen wie auch die ostasiatischen Staaten versuchen derzeit, möglichst langfristige Lieferverträge mit Russland abzuschließen. Sie sind dabei bereit, für das Ziel der Versorgungssicherheit über einen längeren Zeitraum Vertragsbedingungen zu akzeptieren, die über den aktuellen Weltmarktpreisen liegen.

Dabei hat der Begriff Energiesicherheit für unterschiedliche Länder verschiedene Bedeutung. Für Europa und Nordamerika bedeutet er weiterhin – im Churchill’schen Sinn – die Notwendigkeit der Diversifizierung und den Zugang zu unterschiedlichen Energieversorgern und -quellen. So definiert jedenfalls das 2006 erschienene Grünbuch Energie der Europäischen Kommission den schillernden Begriff. China und Indien befürchten, dass ihrer rapide wachsenden Wirtschaft der Energienachschub ausgeht und sie deswegen ihr volles Entwicklungspotenzial nicht entfalten können. Japan, das alle fossilen Ressourcen auf dem Seeweg importieren muss, strebt vor allem offene Weltmärkte an und die Möglichkeit, überall auf der Welt frei investieren zu können. Auch die USA bevorzugen einen liberalisierten Weltenergiemarkt ohne staatliche Beschränkungen. Die amerikanischen Energiekonzerne nehmen schon heute eine dominante Rolle im weltweiten Ölhandel ein und wollen diese gerne weiter ausbauen. Russland, Saudi-Arabien und die anderen großen Öl- und Gasexporteure meinen die Sicherung verlässlicher Absatzmärkte, wenn sie von Energiesicherheit sprechen.

Für langfristig stabile Weltenergiemärkte müssen außerdem sowohl die Produktions- als auch die Transport- und Verarbeitungskapazitäten Sicherheitsmargen aufweisen. Sonst ist das System insgesamt nicht krisenresistent. Je dezentraler ein Energiesystem aufgebaut ist, desto weniger Pipelines und Schifffahrtswege müssen bewacht werden, und desto weniger kann ein terroristischer Anschlag an der Straße von Hormuz die Börsenkurse an der Wall Street zum Einsturz bringen. Die erneuerbaren Energien können, wenn sie zu einer größeren Unabhängigkeit von Importen und einer vielfältigeren Energieversorgungsstruktur führen, einen Gewinn an Energiesicherheit bringen, solange nicht nur das Erdöl aus Saudi-Arabien durch den Biosprit aus Brasilien abgelöst wird.

Wichtig sind Transparenz und der freie Zugang zu verlässlichen Informationen über Fördermengen und Reserven. Nur so können Preisspekulationen verhindert und der Verdacht zerstreut werden, dass die Förderung und der Export bestimmter Energieträger künstlich niedrig gehalten wird, um die Preise hochzuhalten. Die westlichen Industrieländer befürworten deshalb, dass bedeutende Schwellenländer wie China und Indien mittelfristig der Internationalen Energieagentur (IEA) beitreten. Die IEA sammelt und veröffentlich international vergleichbare Daten über Energieproduktion und -handel und liefert damit eine verlässliche Grundlage für energiepolitische Entscheidungen von Staaten und Privatunternehmen. In autoritär geführten Staaten wie Russland und China werden Wirtschaftsdaten, wie die Höhe des Energieverbrauchs und der einheimischen Reserven, oftmals wie Staatsgeheimnisse gehütet.

Eine sichere Energieversorgung gehört zu den Grundvoraussetzungen einer funktionierenden Wirtschaft. Heute, in Zeiten der wirtschaftlichen Globalisierung, schaffen es nur wenige Länder, sich bei der Energieversorgung vollkommen unabhängig von Importen zu halten. Zu den wenigen Ausnahmen gehören kleine, von der Natur besonders begünstigte Länder. So kann Island seinen Energiebedarf fast vollständig aus einheimischer Wasser- und Geothermalenergie decken. Langfristig möchten die Isländer sogar ihre Erdöleinfuhren durch flüssigen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien ersetzen. Im Gegensatz zu Island ist Deutschland weder eine Insel, noch verfügt es über die natürlichen Voraussetzungen, seine Energieversorgung autark sicherzustellen. Deutschland und die meisten anderen Länder sind darauf angewiesen, beim Thema Energie mit ihren Nachbarn und anderen, weiter entfernten Ländern zusammenzuarbeiten.

Im Zeitalter der Industrialisierung fand der Aufbau der nationalen Energieindustrie in den meisten Ländern unter staatlicher Regie statt. Heute hat sich in allen westlichen Ländern eine Mischung von Markt und Staat, von öffentlichen und privaten Versorgungsunternehmen herausgebildet. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union beschlossen in den neunziger Jahren, einen gemeinsamen Energiebinnenmarkt zu schaffen und ihre Energiemärkte zu liberalisieren. Seitdem wurden, beispielsweise in Deutschland und Großbritannien, zahlreiche ehemals staatliche Energieunternehmen privatisiert. Außerdem werden die nationalen Energiemärkte innerhalb der EU schrittweise für Unternehmen aus den anderen Mitgliedstaaten geöffnet. Wirtschaftliche Integration kann, wie in der Europäischen Union, zur politischen Integration führen. Gegenseitige Abhängigkeiten schaffen den Anreiz, Probleme in gemeinsamen politischen Institutionen zu lösen. Wirtschaftliche Autarkie, auch was die Energieversorgung angeht, ist in einer sich globalisierenden Weltwirtschaft ohnehin nicht mehr möglich. Ressourcennationalismus und der Versuch, aus dem Weltmarkt auszutreten, funktionieren nicht. Die politische Kontrolle über die Energiemärkte sollte deswegen über internationale Kooperation und Abkommen erfolgen und nicht dadurch, dass der eigene Öl- oder Gasreichtum zum Instrument einer autoritären Innenpolitik oder einer imperialen Außenpolitik wird.

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