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Geschlechterstereotype

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Kinder werden bereits vor der Geburt in Schubladen gesteckt. „Was wird es denn?“ ist eine der Fragen, die werdenden Eltern – vor allem Müttern – sehr häufig gestellt wird. Schon zu diesem Zeitpunkt werden Geschlechterstereotype produziert: „Es ist so unruhig und wild, es wird wohl ein Junge“, ist eine häufig verwendete Floskel. „Dein Kind scheint so ruhig zu sein. Das wird bestimmt ein Mädchen.“

Kinder kommen ohne eine Geschlechteridentität auf die Welt. Sie wissen nicht, wie sich ein „richtiger Junge“ oder ein „richtiges Mädchen“ in unserer Gesellschaft zu verhalten haben und was von ihnen erwartet wird. Zu diesem Zeitpunkt stehen ihnen noch alle Möglichkeiten und Chancen einer freien Entwicklung offen. Die Prägung durch geschlechterstereotype Vorstellungen beginnt bereits, bevor das Kind auf die Welt kommt: Kinderzimmer werden in rosa und blau eingerichtet, und es wird blaue und rosa Kleidung gekauft – dies ist für das Kind jedoch völlig irrelevant. Interessant ist, dass bis weit in das 20. Jahrhundert hinein rosa die Farbe der Jungen (vgl. Süddeutsche Zeitung 2012) und blau die der Mädchen (vgl. Heine 2011) gewesen ist. Der Kapitalismus spielt dabei eine wichtige Rolle: Familien, die mehr als ein Kind bekommen, kaufen Kleidung bei unterschiedlichen Geschlechtern mehrfach: einmal in blau und einmal in rosa. Aber auch die Arten der Spielzeuge unterscheiden sich: Jungen bekommen sehr viel häufiger technische und aktive Spielzeuge geschenkt (zum Beispiel Autos), während Mädchen eher passive Spielzeuge (beispielweise Puppen) geschenkt bekommen, die sie sehr früh in die Care-Rolle zwängen.

Michael Meuser, Professor der Soziologie der Geschlechterverhältnisse von der TU Dortmund, (vgl. Döge, Meuser 2001, S. 15), schreibt zum Thema Aktivität vs. Passivität: „Soziale Unterschiede sind nach der Unterscheidung männlich/weiblich codiert. Der weiblichen Welt des Innen und des Passiven steht die männliche des Außen und des Aktiven gegenüber. Alle sozialen Beziehungen werden im geschlechtlichen Code erfasst.“ Es ist hilfreich, sich das einmal bildlich vorzustellen: Wir nehmen zwei Schubladen und schreiben auf die eine „Junge“ und auf die andere „Mädchen“, die anderen unzähligen Schubladen lassen wir abseits liegen und ignorieren sie. Dann werfen wir dort bereits vor der Geburt Vieles hinein: In die eine Kiste werfen wir Action-Figuren, Waffen, blaue Strampler, die Jahreskarte für den Karateverein neben einen Fußball, einen Freifahrtschein für übergriffiges Verhalten, die Bewerbung für die Ausbildung als KFZ-Mechaniker oder Manager und eine Karte, auf der steht: „Um uns und um unsere Gefühle brauchen und sollten wir uns nicht so sehr kümmern“. In die andere Schublade werfen wir den pinken Strampler, Puppen, Küchenspielzeug, Glitzer, Schminke, ein Pony, Kleider, die Bewerbung als Erzieherin und schreiben „fürsorglich, liebevoll, empathisch und allzeit bereit“ auf eine Karte. Diese Schubladen sind eigentlich keine Schubladen, sondern ein Gefängnis, beziehungsweise ein Korsett, in dem Menschen ihr Leben lang herumlaufen. Auch existieren für die meisten Menschen nur diese beiden Schubladen, die kaum verlassen werden können. Wer aus diesen Schubladen ausbricht, wird sanktioniert. Trägt der Junge ein Kleid, schminkt sich oder geht mit lackierten Fingernägeln in die Schule, bekommt er dies augenblicklich negativ zu spüren. Tritt ein Mädchen selbstbewusst auf, sagt seine Meinung und spielt gerne Fußball, dann wird ihm das Mädchensein abgesprochen. Wobei auch hier Unterschiede in der Bewertung gemacht werden: Sagt eine Frau auf der Arbeit ihre Meinung, ist sie unbequem und zickig, macht dies ein Mann, dann ist er durchsetzungsstark und eine Führungspersönlichkeit. Benennt ein Mann seine Gefühle, wird er als „Mädchen“ verhöhnt.

Ich möchte dazu ein Beispiel aus meiner Arbeit aus den stationären Hilfen zur Erziehung nennen: In der Wohngruppe lebte ein Mädchen. Wir nennen sie hier einmal Pia. Pia spielte sehr gerne Fußball. Sie trainierte oft, unter anderem mit Jungen. Sie spielte in einem Verein und wollte an Turnieren teilnehmen. Pia war zudem sehr selbstbewusst, ließ sich nicht unterkriegen, hatte des Öfteren mit Jungen körperliche Auseinandersetzungen, verstand sich mit den meisten anderen Mädchen der Wohngruppe nicht besonders gut, und sie hatte eine etwas tiefere Stimme, als wir es von Mädchen gewöhnt sind. Daraufhin gab es hitzige Diskussionen des pädagogischen Fachpersonals in Teamsitzungen. Es wurde versucht, Pia in die Schublade „Mädchen“ zu zwängen, doch sie schien nicht in diese zu passen. Somit kamen die pädagogischen Fachkräfte zu dem Schluss, dass es einen ganz einfachen Grund für das „merkwürdige Verhalten des Mädchens“ geben müsste: Sie war eigentlich ein Junge. Ein Mädchen im falschen Körper. Diese Situation macht deutlich, wie schwer es Menschen fällt, sich von den Vorstellungen von Geschlechterstereotypen zu lösen. Einem Mädchen wird eher das Weiblich-Sein abgesprochen, als dass es akzeptabel ist, dass sie einfach Interesse an Fußball hat, aus Geschlechterzuschreibungen ausbricht und sich nicht unterordnet, sondern selbstbestimmt ihre Meinung und Interessen vertritt.

In der aktuellen Diskussion wird deutlich, dass der biologische Anteil, den ein Mann für eine Befruchtung leistet, enorm gering ist. Zudem ist unsere Gesellschaft auf das Modell Kleinfamilie geeicht. In populär-wissenschaftlichen und rechten Publikationen wird argumentiert, dass Jungen ein männliches Vorbild benötigen würden, um ein „richtiger Mann“ zu werden. Damit werden gleichgeschlechtliche Paare und Alleinerziehende diskriminiert; es wird ihnen die Fähigkeit zu einer liebevollen und guten Erziehung abgesprochen. Dabei zeigen Studien ein ganz anderes Ergebnis: Christina Mundlos (2017a, S. 153) schreibt bezugnehmend auf die Ergebnisse der Studie „Gender Role Differences in College Students from One- and Two-Parent-Families“: „Bei einer amerikanischen Studie, in der Jugendliche untersucht wurden, die in Ein-Eltern-Haushalten aufwuchsen, stellte sich heraus, dass diese Kinder weniger stark zu geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen neigten. Mädchen wurden als unabhängiger beschrieben und Jungen als sensibler, als dies in traditionellen Familien mit Mutter und Vater der Fall war. Wenn Kinder also nicht in einer herkömmlichen Mutter-Vater-Struktur aufwachsen, gibt es für sie keinen Grund anzunehmen, es gäbe Eigenschaften, die eher weiblich oder eher männlich wären. Ganz selbstverständlich erleben sie ja in ihrer eigenen Familie, dass ein Geschlecht alle Aufgaben und Funktionen abdecken kann. Dass Kinder sich also weniger stark genötigt sehen, in eine gesellschaftlich vorgegebene Geschlechterrolle passen zu müssen und alle ihre charakterlichen Anteile ausleben können, kann als Vorteil gesehen werden – ganz sicher aber stellt es keinen Nachteil dar.“

Toxische Männlichkeit

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