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Kapitel 8 - ABEYTU UND AKANDO

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PAULINE.

Yuri ließen wir bis um die Mittagszeit schlafen, kurz bevor wir aufbrechen sollten. Ich ging ins Zimmer um ihn zu holen. Er war wach, als ich eintrat. "Yuri", sagte ich, "ich wollte dich gerade wecken. Wir müssen uns weiter auf den Weg nach Abeytu machen. Hast du Hunger? Die Wirtsfrau hat uns Frühstück gemacht: weich gekochte Zwergdracheneier, Brot, ein wenig Ziegenkäse und etwas Tee…" - "Ich möchte nichts", antwortete er, während er sich aufrichtete. Ich legte die Stirn in Falten. "Bist du sicher? Du hast so gut wie nichts mehr gegessen, seit wir das Dorf verlassen haben. Ich denke, es wäre besser, wenn…" - "Ich will nichts." Er stand auf. Seine türkisen Augen suchten meinen Blick. "Du warst da, in der Nacht, nicht wahr? Als es mir so schlecht ging, meine ich… da warst du da, oder?", fragte er leise. "Ja", erwiderte ich, "ich war da." Er sah nun etwas bedrückt aus. "Was ist los, Yuri?" Er starrte verlegen auf seine Zehenspitzen hinab. "Du hast also meinetwegen am Fußboden geschlafen?" Ich musste lächeln. "Das ist doch kein Problem. Meine Decke war warm und weich genug." - "Trotzdem. Ich habe dir Umstände gemacht." - "Mach dir keine Gedanken, Yuri. Es war völlig in Ordnung. Du schienst durch meine Anwesenheit irgendwie ruhiger und entspannter, da dachte ich… also… zumindest hast du so gewirkt, als würdest du… als würde ich dich beruhigen." Yuri räusperte sich. "Ja, kann schon sein." - "Lass uns runtergehen", sagte ich, meine Verlegenheit locker überspielend, "zieh dir rasch neue Kleider an. Ich hab dir einen neuen Pullover dort drüben auf den Stuhl gelegt. Der andere ist löchrig." - "Pauline?" - "Ja?" - "Gehört der auch deinem Vater?" Ich drehte ihm den Rücken zu und griff nach der Türklinke. "Ja", antwortete ich, trübseliger als gewollt. "Ist das für dich ein Problem?", fragte Yuri kleinlaut. Ich zögerte kurz. "Nein", sagte ich dann, "er würde wollen, dass du ihn trägst, wenn dir kalt ist und du sonst nichts hast." Ich öffnete die Tür. "Komm runter in die Gaststube, wenn du fertig bist."

Ich vermisste meinen Vater.

Meine Mutter Orenda starb bei meiner Geburt. Ihre Mutter, Kimama, zog mich auf wie ihr eigenes Kind, zumal Tristan, mein Vater, fort in den Krieg ging. Er sandte mir Brieffalken wann immer er konnte und jedes Mal versprach er mir, dass er so bald es ging zurück zu mir zurückkehren würde. Mein letzter Stand war, dass er mit seiner Truppe, die für unseren ehemaligen König Gaidemar kämpfte, ins Kiona-Gebirge vorgedrungen war. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört und mit jedem Tag wuchs meine Angst, dass ihm etwas zugestoßen war. Trotzdem gab ich den Glauben an ihn nicht auf, denn es hatte schon öfter einige Monate gedauert, bis er mir wieder eine Nachricht hatte schicken können. Ich betete jede Nacht zu den Göttern, dass sie meinen Vater so gut sie konnten beschützen würden.

Ich liebte ihn sehr.

Yuri kam mit hängenden Schultern und blassem Gesicht die Treppen heruntergeschlurft. "Der sieht ja schrecklich aus", raunte mir Mendrick zu. Irma bot ihm Frühstück an, aber wie auch zuvor bei mir verneinte Yuri und blickte von einem zum anderen. "Es tut mir Leid, dass ich euch solche Umstände gemacht habe und ihr meinetwegen fliehen musstet", sagte er traurig, als sein Blick an unseren Kleinsten hängen blieb. "Fliehen?", schnappte Irma auf. "Fliehen wovor?" - "Vor niemandem", warf Mendrick ein, "der Knabe hat schlecht geträumt heute Nacht." Er schnappte Yuri am Arm. "Ihr wart eine großartige Gastgeberin", sagte Mendrick betont freundlich zu Irma, "ich habe Eurem Mann gleich heute Morgen mit so viel Silberstücken wie ich auftreiben konnte meinen Dank ausgedrückt." - "Ich weiß, Menderich", erwiderte Irma lachend, "er hat sich damit gleich zum Marktplatz aufgemacht, um eine neue Bratpfanne zu kaufen. Ich wünsche euch allen eine gute, ruhige Reise." Ich fragte mich, ob unser Aufenthalt in Abeytu tatsächlich so ruhig verlaufen würde. Wir bedankten uns und verließen mit ein wenig Proviant in unseren Taschen das Wirtshaus.

Wir erreichten Abeytu nach knapp einer Stunde.

Mendricks Gesichtsausdruck verriet, dass die Stadt keineswegs mehr so war, wie er sie als Kind gekannt hatte. Das war nicht verwunderlich. Abeytu war stets dafür bekannt gewesen, die üppigsten Gräser und Felder zu beherbergen, die exotischsten Fruchtstauden und die reichsten Gemüsebeete; nun war alles von Schnee bedeckt und die Wiesen erinnerten eher an totes, vereistes Steppenland. Die Pferde und Rinder hinter den Zäunen wirkten krank und mager; auf den Straßen, die laut Erzählungen vor dem Krieg voller Leben und fröhlicher Musik gewesen waren, war es wie ausgestorben und die Fensterläden der meisten Häuser, die sich kaum von den Wirtshütten und Landhäusern in Baldur unterschieden, waren ganz heruntergezogen. Wir gingen schweigsam durch die Straßen. Einige Leute kamen uns entgegen, spendeten uns aber wenig Aufmerksamkeit. "Wo finden wir deinen Vater?", fragte ich Mendrick leise. Er schien mich gar nicht gehört zu haben, denn seine haselnussbraunen Augen suchten wie gebannt jedes einzelne Gebäude ab. Ein etwa fünfzig Jahre alter, bärtiger Mann mit smaragdgrünem Kapuzenumhang und galantem Gehstock passierte uns und blieb wie vom Blitz getroffen stehen, als er Mendrick sah. Ich bemerkte es und zupfte Mendrick nervös am Mantelärmel. Er wandte sich um: "Was ist denn, Pauline?" Jetzt sah er den Mann und schien ebenso erstaunt zu sein wie dieser. Ich spielte mit dem Gedanken, dass dies vielleicht Balthaszar sein könnte, aber er wurde Mendricks Beschreibungen ganz und gar nicht gerecht. Der Mann griff langsam und lautlos nach seinem Zauberstab; Mendrick ebenso, als er es merkte. Mein Herz klopfte schneller. Keiner traute sich, weiterzugehen. Dorfhund Chitto knurrte und zog die Lefzen hoch. "Ganz ruhig", sagte ich zu ihm, "bleib ruhig, mein Freund..." - "Was ist denn da los? Wer ist dieser Mann?", wisperte mir Heidrun zu. Ich zuckte nur mit den Schultern und tastete nach Kimamas Hand. "Wie lautet die neunzehnte Lektion des traditionellen Lehrbuchs der Gandulf'schen Zauberkunst?", donnerte der Mann, der seinen Zauberstab schneller als Mendrick gezückt und auf ihn gerichtet hatte. Mendrick wich jegliche Farbe aus dem Gesicht. "Sprich!", bellte der Mann. Unsere Kleinsten fingen zu weinen an. "Mittelschwere Entwaffnungszauber!", platzte Mendrick heraus. Ich hielt den Atem an, war darauf gefasst, dass der Mann Mendrick jeden Moment angreifen würde. Aber er ließ den Zauberstab sinken. Sein Gesicht erhellte sich. "Mendrick", stieß er hervor, "du bist es wirklich! Ich dachte schon, du siehst dir bloß ähnlich." Mendrick hielt dem Mann den Zauberstab immer noch drohend entgegen. Seine Stirn legte sich in Falten. "Wer…?" - "Erkennst du mich denn nicht wieder?" Der Mann nahm die Kapuze ab. Mendrick riss die Augen auf. "Erwin!" Unsere Leute warfen einander verwirrte Blicke zu. Selbst mir hatte Mendrick noch nie von einem Erwin erzählt. Mendrick steckte seinen Zauberstab zurück in die Mantelinnentasche und winkte uns freudig herbei. "Keine Sorge, Leute! Das ist Erwin, ein guter…" - "Pssst", ging Erwin dazwischen und sah sich prüfend um, "nicht zu laut, mein Lieber. In dieser Gegend hier haben die Hauswände Ohren. Kommt mit mir, danach können wir in Ruhe reden." Mendrick nickte uns zu und wir folgten dem stattlichen Mann namens Erwin, der sich die Kapuze wieder übergeworfen hatte, in die dunkelste Gasse der Stadt.

"Das ist die Finstergasse, hierhin traut sich fast niemand", scherzte er. "Was Ihr nicht sagt", erwiderte Kimama belustigt. Erwin zog die Nase kraus. Dann stellte er sicher, dass uns niemand beobachtete, nahm seinen Zauberstab zur Hand und tippte damit dreimal an die Steinmauer. Ein blassrosa Funke erschien, fraß sich in die Steine hinein und gleich darauf schoben sie sich zur Seite und gaben den Weg in einen dunklen, unterirdischen Gang frei. "Ein Illusionszauber", sagte Mendrick beeindruckt, "ich hätte schwören können, die Mauer sei echt." - "Vielen Dank", freute sich Erwin und er schickte uns allesamt hinunter in den Gang während er das Portal wieder schloss.

Er führte uns an mittelalterlichen Waffen und diversen Zauberutensilien vorbei. "Ich bin ein langjähriger Freund Balthaszars", erklärte er uns, "und das hier ist der Unterschlupf unserer Geheimorganisation Akando." - "Geheimorganisation?", wiederholte Mendrick verblüfft. "Nun, ja", sagte Erwin froh, "dein Vater ist nicht untätig gewesen in den letzten Jahren. Er hat viele Befürworter gefunden, die sich mit ihm zusammengetan und eine Geheimorganisation, den Orden der Akandos, gegründet haben. Wir bekämpfen die Kalte Hexe und ihre Handlanger aus dem Untergrund. Du weißt schon, Angriffe aus dem Hinterhalt… nicht gerade die feine, sternländische Art, aber die findet man heutzutage ohnehin nur noch selten." Er lachte und entblößte einen vergoldeten Eckzahn. Schließlich hatten wir das Ende des Gangs erreicht und standen nun vor einer großen, schweren Eisentür und einer zweiten Tür, die nicht so spektakulär aussah. "Hinter der Eisentür liegt unser Hauptquartier", sagte Erwin, "Balthaszar plant vermutlich gerade unsere nächste Mission. Die Tür daneben führt zu unseren Schlafgemächern. Hier könnt ihr erstmal die Kinder und die Schwachen unterbringen." So geschah es. Nur Kimama, Mendrick, Yuri, die alte neugierige Nase Landogar und ich blieben bei Erwin. Mendrick war ganz blass vor Aufregung. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. "Dein Vater wird erfreut sein, dich zu sehen", sagte ich. Mendrick nickte nur. Dann griff er nach der Türklinke.

Landogar pfiff durch die Zähne.

Das Zimmer war groß, geräumig und pompös eingerichtet. Schwere, alte Sitzmöbel, ein üppiger roter Teppich, etliche Holzvitrinen und ein futuristisch aussehender Kamin (den Meisterzauberer Balthaszar vermutlich mit einem Feuerzauber angefacht hatte). An der Wand hingen Zauberlichtkugeln, ein großes Gemälde von König Gaidemar und gleich daneben das Wappen des Ordens, zwei verkreuzte Zauberstäbe inmitten eines Schilds, darüber ein Ritterhelm, von einem Zauberumhang umgeben, in den Farben Schwarz und Dunkelgrün. Vor dem Kamin saß jemand in dunklem Umhang, mit dem Rücken zu uns gewandt, in einem gepolsterten Stuhl. Das musste wohl Balthaszar sein. Sein langes, schwarzes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengefasst. Landogar drängte sich neugierig vor mich und Kimama. "Erwin, du fauler Sack", ertönte eine tiefe, melodische Stimme aus dem gepolsterten Stuhl, "du hast heute lange auf dich warten lassen." - "Ich wurde aufgehalten, mein Freund." - "Von wem?" Mendrick, der neben mir stand, atmete tief durch. Erwin nickte ihm ermutigend zu. "Von mir", sagte Mendrick bemüht ruhig. Balthaszar blickte über die rechte Schulter zu uns her. "Und wer seid Ihr, junger Geselle, wenn ich fragen darf? Kommt näher ins Licht, ich kann Euer Gesicht nicht erkennen." Mendrick trat einen Schritt näher. Balthaszars ockerfarbene Augen weiteten sich. Ihm glitt der Zauberstab aus der Hand. "Mendrick", stieß er hervor. Mendrick stiegen die Tränen in die Augen. Mir auch. "Hallo, Vater." Balthaszar stolperte fast über den Stuhl, als er ruckartig aufstand und auf Mendrick zustürzte. "Mein Sohn! Ich kann es nicht glauben, dass du tatsächlich gekommen bist!" Sie warfen sich einander in die Arme. Mir gab es einen Stich. Plötzlich sah ich nicht Mendrick und Balthaszar vor mir, sondern mich und meinen Vater Tristan. Wut, Trauer und Enttäuschung überkamen mich. Ich wandte mich um und lief aus dem Zimmer hinaus.

Niemand schien es bemerkt zu haben.

Ich ließ mich auf den kalten Steinboden des Gangs sinken, lehnte meinen Rücken an der Wand an, stützte mein Gesicht in meine Hände und weinte. Tristan fehlte mir. Wenn ich doch nur wüsste, ob es ihm gut ging! Mehr wollte ich ja gar nicht. Nur die Gewissheit, dass es ihm gut ging. Etwas winselte und ich sah auf und blickte in Chittos treuherziges Gesicht. "Du bist ein braver Junge", sagte ich leise und vergrub meine Stirn in seinem gescheckten Fell. "Pauline, alles in Ordnung?", fragte jemand. Ich hob abermals den Blick. Yuri stand vor mir. Ich schlug die Augen nieder. "Es ist alles gut, Yuri, keine Sorge." - "Du siehst aber nicht so aus, als ob alles gut wäre. Du weinst ja." Chitto bleckte die Zähne und knurrte ihn an, als Yuri sich zu uns hinunter kniete. "Schon gut, Chitto, ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst", sagte Yuri. Ich lächelte schwach. "Liegt vermutlich daran, dass du dich ab und zu in einen großen, weißen Wolf verwandelst." - "Weich mir nicht aus, Pauline", sagte Yuri, "was ist los? Wieso bist du so plötzlich aus dem Zimmer geeilt?" Ich seufzte tief und wischte mir die Tränen von den Wangen. "Es ist meines Vaters wegen", sagte ich schließlich mit gedämpfter Stimme. Es fiel mir nicht leicht, darüber zu reden. "Weißt du, als ich Mendrick und Balthaszar da so sah… Vater und Sohn, wieder vereint… da… da wurde ich plötzlich traurig." Die Stimme versagte mir und ich schwieg. Ich war wütend. Es erschien mir so ungerecht. Natürlich freute ich mich für Mendrick, aber ich fühlte mich vom Schicksal auf eine gewisse Art und Weise benachteiligt. Während Mendrick und Balthaszar einander wieder in die Arme schließen durften wusste ich nicht einmal, ob mein Vater überhaupt noch am Leben war. Vielleicht würde ich ihn nie wieder sehen. Ein Schluchzen ließ meinen Körper erbeben. Hör auf, Pauline, sagte ich in Gedanken zu mir selbst, hör auf, zu weinen. Ich konnte nicht aufhören. Chitto bettete seinen Kopf in meinen Schoß, ohne Yuri dabei aus den Augen zu lassen. "Ich weiß, wie du dich fühlst", sagte Yuri nach einigen schweigsamen Augenblicken, "ich habe meine Familie auch verloren." Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also breitete ich einfach meine Arme aus und nach kurzem Innehalten nahm Yuri mein Angebot einer Umarmung an. In diesem Augenblick kamen Kimama, Erwin und Landogar aus Balthaszars Zimmer. Kimama gab ein erleichtertes "Ach!" von sich, als sie uns beide sah. Sie kniete sich zu uns. "Ihr zwei Schätze", sagte sie gerührt. Ich sah, dass Landogar - neugierig, wie er war - versuchte, durch das Schlüsselloch zurück in Balthaszars Zimmer zu spähen um etwas von ihrer Unterhaltung mitzubekommen; das sah so ulkig aus, dass es mir sogar ein leises Lachen entlocken konnte.

Yuri

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