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Kapitel 5 - TANZ DES GOLDGREIFS

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PAULINE.

Ich konnte meinen Blick nicht von dem Wolf abwenden.

Er lag, von Schnee bedeckt, am Boden und bewegte sich nicht. Nur sein Brustkorb hob und senkte sich auffallend stark. Ich klammerte mich fest an Kimama. Mein Herz schlug wie wild, ich spürte immer noch die Pranken des Modoroks um meinen Körper geschlungen. Tränen liefen mir stumm übers Gesicht. Kimama erwachte als Erste aus der Starre. Sie ließ mich los und kroch vorsichtig auf den Wolf zu, beugte sich über ihn. Er hatte die Augen geschlossen. Sie strich ihm mit zittriger Hand Eisklumpen und Schneeflocken aus dem Gesichtsfell und bemerkte die Narbe, die über seine linke Wange ging. "Bei allen Göttern", stieß sie hervor.

Wir hatten mit dem Regenwasser, das wir gesammelt hatten, einige der Brände löschen können; das andere erledigte ein Schneeschauer für uns. Wir betteten einen schwer verwundeten Peadir auf Stroh in die Herrenhütte, die als einzige komplett unversehrt geblieben war, und neben ihn den Wolf, der noch immer keinen Mucks von sich gegeben hatte. Verarztet wurde Peadirs Wunde mit etwas von Großvaters Arznei: Milchwurz, Spitzwegerich, Ringelblumensaft und einigen Tropfen einer geheimen Spezialmischung, die die Wunde reinigen sollte. Auch Kimamas Platzwunde wurde versorgt und Landogar fertigte einen Verband aus Kuhhaut und Leinenstoff für sie an. Dem Wolf, oder besser gesagt Yuri, träufelten wir ein paar Tropfen Melissenextrakt und einen Schuss Pfefferminz in den Rachen, was als eine Art Beruhigungsmittel fungieren sollte. "Er kann also den Vorgang des Transformierens nicht kontrollieren", sagte Mendrick schließlich, "und den Morphzustand körperlich auch noch nicht wirklich ertragen. Er ist total geschwächt und ausgelaugt." Ich beugte mich über den Wolf und musterte ihn prüfend. "Aber was hat den Transformationsvorgang überhaupt ausgelöst?", fragte Landogar in die Runde. "Als er gesehen hat, dass Pauline in Gefahr ist", erwiderte Mendrick, "ist es plötzlich passiert." Ich horchte auf. "Wirklich?" - "Ja. So, als ob ihn seine Angst um dich emotional überwältigt hat und dadurch die Transformation ausgelöst wurde." Meine Wangen erröteten leicht, aber ich sagte nichts. Mendrick überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: "Irgendetwas Ähnliches muss im Schloss der Schneekönigin ebenfalls vorgefallen sein. So konnte er es schaffen, die Mauern zu durchbrechen, die Wachen zu bezwingen und zu fliehen." Ich zuckte mit den Schultern. "Ja, vielleicht..." - "Unglaublich", brummte Landogar leise. Die anderen Fischerleute tuschelten ebenfalls aufgeregt durcheinander. "Die Prophezeiung hat also begonnen, sich zu erfüllen", wisperte Kimama mit Tränen in den Augen, "Yuri wird Sternland befreien." - "Noch ist nichts entschieden", ging Mendrick dazwischen, "vergesst nicht: Yuri kann seine Transformationsfähigkeiten noch nicht kontrollieren. Mit diesen Voraussetzungen ist es zurzeit schier unmöglich, ihn gegen die Schneekönigin antreten zu lassen." - "Wie lange wird er eigentlich in seinem Verwandlungszustand bleiben?", fragte Landogar. "Das würde mich auch interessieren", sagte ich und legte dem Wolf behutsam die Hand aufs Fell. "Ich weiß es nicht", sagte Mendrick ratlos, "ich habe es noch nie mit einem Transformationskünstler zu tun gehabt." - "Meine Urgroßmutter kannte einen", meldete sich Heidrun, Peadirs Frau. Sie knetete schüchtern ihren langen, blonden Zopf, als sie zu erzählen begann.

"Meine Urgroßmutter wurde in den Kiona-Bergen geboren, in der Eskimostadt Soyala. An ihrem fünfzehnten Geburtstag kamen Reisende in die Stadt, darunter der siebzehnjährige Fakir Harith aus der Silberwüste Maza Skah. Meine Urgroßmutter verliebte sich in Harith und er sich in sie. Aber es war nicht gerne gesehen, dass sich Menschen zweier so unterschiedlicher Völker ineinander verliebten, und Harith war außerdem ein Leben als Nomade gewohnt. Er sagte meiner Urgroßmutter, dass er bald in die nächste Stadt weiterziehen würde. Eines Nachts kündete Soyalas Seherin an, dass Unheil über das Dorf kommen würde, und einige Tage später brach eine unbekannte Krankheit in der Eskimostadt aus. Man fand heraus, dass das Virus von einem seltenen Wüstenkäfer übertragen wurde und beschuldigte Harith und seine Gefährten, dass sie den Erreger von der Silberwüste nach Soyala gebracht hätten. Man jagte sie aus der Stadt. Meine Urgroßmutter und Harith trafen einander aber weiterhin heimlich, so lange, bis der Tag der Abreise gekommen war, der Tag von Hariths achtzehntem Geburtstag. Harith plagte der Gedanke, meine Urgroßmutter zurücklassen zu müssen, denn ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich immer weiter, da auch sie von dem Virus befallen worden war. Harith war geläufig, dass der Biss eines Wüstenkäfers nur mit der Rotdornblume geheilt werden kann, die in den hohen Sandbergen in Maza Skah wuchs und sehr selten von Menschen gefunden wurde. Harith war verzweifelt. Es stand schlecht um Lia, meine Urgroßmutter, und er wusste nicht, wie er zu einer Rotdornblume gelangen sollte. In seiner Trauer, Wut und Enttäuschung merkte er plötzlich, dass er transformieren konnte; denn im Augenblick der Nachricht, dass Lia bald sterben würde, verwandelte er sich in einen prächtigen Goldgreif und flog, so schnell ihn seine gigantischen Flügel trugen, von Soyala zurück nach Maza Skah, erreichte in nur vier Tagen die Sandberge und kam mit einer Rotdornblume im Schnabel zu meiner Urgroßmutter zurück. So konnte er sie retten. Harith gab sein Leben als Nomade für meine Urgroßmutter auf. Weil ihre ungleiche Liebe aber weder in Soyala noch in Maza Skah gern gesehen war, einigten sie sich schließlich, in den Schmetterlingswald auszuwandern und schlossen sich dort einem Fischerklan an."

- "Und, was genau willst du uns nun damit sagen?", unterbrach Mendrick sie unwirsch. - "Ich war ja noch nicht fertig", erwiderte Heidrun unbeeindruckt, "worauf ich hinaus will, ist, dass Harith meiner Urgroßmutter einiges über das Transformieren erzählt hat, sie hat das wiederum ihren Kindern erzählt und so weiter und so fort. Meine Mutter berichtete mir, dass es für Transformationskünstler bekanntlich zwei Möglichkeiten gibt, um den Morphzustand herzustellen oder rückgängig zu machen: entweder simple Bewegungsabläufe, ähnlich denen eines individuellen Tanzes, oder eben durch das Aufrufen starker Emotionen. In jedem Fall - und das ist wesentlich - kann das Morphen erst ab dem achtzehnten Lebensjahr eines Transformationskünstlers genau automatisiert und reguliert werden. Das ist alles, was ich weiß." Mendrick gab ein verzweifeltes, ersticktes Lachen von sich. "Wir müssen also bis zu Yuris achtzehntem Geburtstag warten, bevor wir sicher sein können, dass er mit seinen Kräften richtig umgehen kann?" Heidrun nickte betreten. "Sieht wohl ganz danach aus." Mendrick blies die Backen auf. "Das ist wohl das mit Abstand Bescheuerteste, das ich je gehört habe." Mendrick ließ entmutigt die Arme sinken und seufzte tief. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Seine braunen Augen sahen mich ratlos an. Kimama hob die Stimme: "Wir dürfen uns darüber jetzt nicht zu sehr den Kopf zerbrechen. Als Nächstes sollten wir uns lieber fragen, wo wir eine neue Bleibe finden. In unserem abgebrannten Dorf können wir nicht bleiben. Bis auf die Herrenhütte ist alles zerstört, und unser Vieh ist in den Wald geflohen." Sie warf einen Blick auf Yuri. "Er kann ohnehin nicht bleiben, vor allem nicht jetzt, wenn die Modoroks wissen, wo er ist." - "Wir könnten fürs Erste in meine Heimatstadt Abeytu ziehen", schlug Mendrick vor. "Die Grüne Stadt", sagte Landogar. Mendrick nickte. "Die Zauberstadt?", warf ich ungläubig ein. Mendrick nickte abermals. Ich rollte die Augen. "Ja, das ist natürlich ein äußerst guter Platz für Yuri! Umgeben von unzähligen Verbündeten der Schneekönigin. Die werden sich über ihn freuen..." - "Ich werde meinen Vater verständigen", erklärte Mendrick, "er wird bestimmt wissen, wo wir untertauchen können. Außerdem erwartet schließlich niemand, dass Yuri dort ist. Keiner in Abeytu würde ihn erkennen." - "Außer, die Schneekönigin benachrichtigt all ihre Untergebenen", meinte ich besorgt. "Wir sollten es dennoch versuchen", erwiderte Mendrick entschlossen, "mein Vater wird uns an einen Ort bringen, an dem wir in Sicherheit sind. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer." - "Ich finde Mendricks Vorschlag in Ordnung", sagte Kimama. Die anderen Dorfbewohner stimmten ihr zu. Ich war skeptisch, aber es war bereits beschlossen.

Als wenige Zeit später der Morgen graute, brach unser Klan nach Abeytu auf.

Wir packten das wenige Hab und Gut, das wir besaßen, zusammen, und Mendrick transportierte die schwereren Sachen mithilfe eines Schwebezaubers. Wir gingen in zwei kleinen Gruppen, damit wir weniger auffielen. Die eine Gruppe wurde von Mendrick angeführt; in einem Abstand von etwa einer Stunde folgte uns die zweite Gruppe mit Landogar an der Spitze. Ich trug Großvater Nathaniels Buch bei mir, behutsam unter den Arm geklemmt und beobachtete Yuri, der immer noch in seiner Wolfsgestalt war und beunruhigt auf seinen vier weißen Samtpfoten neben uns hertrottete. Irgendetwas musste ihm große Sorgen bereiten. Chitto, unser treuer Dorfhund, folgte uns brav, schien aber von der Gegenwart des weißen Wolfes nicht sonderlich begeistert. Peadir hatte sich erholt und er konnte, gestützt von zwei kräftigen Männern, gut mithalten. Mendrick hatte eine Nachricht an seinen Vater geschickt, in der er unser Kommen ankündigte, aber nicht etwa durch einen Brieffalken. Nein, Mendrick zog da die Zauberertradition vor: Raben. Er hatte ein Tier mit einem Zauber belegt, sodass es ganz zahm und folgsam wurde; dann hatte er ihm die Nachricht zwischen den Schnabel gesteckt und ihn mit einem zweiten Zauber belegt, einem Orientierungsblitz, wie Mendrick ihn nannte – dieser Zauber bewirkte, dass dem Vogel genau klar wurde, wo und zu wem er fliegen musste. Und der Rabe hatte abgehoben und war ob der Äste der dünnen, kahlen Bäume verschwunden.

Das blieb nicht lange unbemerkt.

Waldnymphe Gwendolin hatte Mendrick unter den Vorbeiziehenden entdeckt und sie steckte vorsichtig ihren Kopf hinter einem Baum hervor. Mendrick deutete den anderen, vorauszugehen; ich wartete auf ihn. Nachdem unsere Dorfleute ein Stück weitergegangen waren, kam Gwendolin im Schwebeschritt mit einem breiten Lächeln auf den blassgrünen Lippen auf uns zu. "Hallo, Zauberer! Wie lieb, dass du mich schon in aller Frühe besuchen kommst. Und du hast eine Freundin mitgebracht!" Ich lächelte sie an. "Das ist Pauline", sagte Mendrick hastig, "aber ganz ehrlich, Gwen, ich bin nicht hier, um dich zu besuchen." Die Meliade war jetzt ganz nah. Ich betrachtete mit Staunen ihre olivenfarbene, samtig weich aussehende Haut. "Wir ziehen fort", sagte Mendrick, "gestern Abend wurde unser Dorf von Modoroks zerstört. Wir können hier nicht bleiben. Sie würden uns bestimmt abermals überfallen und bedrohen, wenn wir hier im Schmetterlingswald blieben." - "Oh", sagte Gwendolin, "aber… wieso jagen sie euch?" - "Das ist eine lange Geschichte", antwortete Mendrick. "Wohin wollt ihr denn gehen?", fragte Gwendolin. Ich tauschte mit Mendrick kurz die Blicke aus, dann sagte er etwas niedergeschlagen: "Das kann ich dir leider nicht verraten. Ich meine, ich vertraue dir, Gwen, aber... der Wald hat Ohren. Es ist äußerst wichtig, dass wir unentdeckt bleiben." - "Oh", sagte Gwendolin noch einmal. "Ich hoffe, du verstehst das", fügte Mendrick hinzu. "Ich verstehe", versicherte Gwendolin, "das heißt, du wirst ab heute nicht mehr zu mir und Madame Pau kommen?" Mendrick seufzte tief und schüttelte dann den Kopf. "Nein." - "Oh", sagte die Meliade ein drittes Mal. Ihr freundlicher Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, aber ihre engelsklare Stimme verriet, dass sie traurig war. "Mendrick", sagte ich und zupfte ihn am Mantelärmel, "wir sollten jetzt wieder weiterziehen. Die anderen warten sicher schon auf uns." Er nickte und wandte Gwendolin den Rücken zu, um zu gehen. Da blieb er noch einmal stehen und drehte sich wieder zu ihr um. "Sei nicht traurig, Gwen", sagte er, "ich komme ja wieder." - "Gewiss", antwortete die Meliade. Dann gingen wir. Mendricks tief hängenden Schultern nach zu urteilen hätte man meinen können, er würde ein Pferd samt Reiter auf dem Rücken tragen. "Du hast die Waldnymphe ganz schön ins Herz geschlossen, hm?", bemerkte ich. Mendrick tat so, als hätte er mich nicht gehört und zog sich dafür die Kapuze seines Mantels so tief in die Stirn, dass ich von seinem Gesicht nicht mehr sah außer ein Paar griesgrämig heruntergezogener Mundwinkel.

Yuri

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