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Kapitel 2 - ROSMARIN

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MENDRICK.

Ich hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Ständig machte ich mir über den jungen Wolfskrieger Gedanken, der drüben in Kimamas Hütte lag, mit einem tiefen Kratzer über der linken Wange, lange, zerzauste, dunkle Haare, und dieser weißen Kette mit der Wolfskralle um den Hals. Es war schwer zu glauben, dass dieser schmächtige, kraftlose Junge ganz allein aus dem Schloss der Schneekönigin ausgebrochen war, ohne dabei bemerkt zu werden. Gerade das wies darauf hin, dass er ein Geheimnis verbergen musste. Aber wieso sollte er seine Kräfte verleugnen? Vor uns, die ihn gerettet hatten?

Pauline und ihre Großmutter waren bereits wach, als ich des Morgens zu ihnen in die Hütte kam. "Möchtest du eine Tasse frische Ziegenmilch?", bot mir Kimama an. "Nein, danke", antwortete ich und sah mich um, "wo ist der Wolfsjunge?" Kimama und Pauline senkten beide betreten die Blicke. "Was? Was ist mit ihm? Wo ist er?", rief ich aus. "Er ist verschwunden", antwortete Pauline dumpf, "als wir aufwachten, war er weg." Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Wie? Das ist doch...! Nicht möglich!" - "Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat", sagte Pauline und strich sich mühevoll ihr buschiges, aschbraunes Haar aus dem Gesicht, "aber weder Kimama noch ich haben irgendetwas bemerkt. Nicht mal Chitto hat gebellt." - "So muss er wohl auch aus dem Schloss entkommen sein", vermutete Kimama. Ich ließ mich aufs Strohlager und die Schafswolldecke sinken, wo der Knabe gestern Abend noch gelegen hatte, und schüttelte ratlos den Kopf. "Das ist also der Dank", murmelte ich, "wir retten ihn vorm Kältetod und er dankt es uns indem er einfach verschwindet." - "Du wolltest ihn doch sowieso nicht da haben", entgegnete Pauline trocken, während sie sich mit verschränkten Armen an die Wand lehnte. Ich funkelte sie wütend an. "Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe!" - "Womöglich hat er dir zugehört und beschlossen, wir wären besser dran ohne ihn, ist er doch nur eine Last für uns und irgendjemand, den wir eigentlich nicht brauchen", fuhr Pauline fort, meine Stimme imitierend. Ich kullerte mit den Augen. "Klar, dass ich jetzt der Schuldige bin." - "Hört auf damit!", ging Kimama dazwischen. "Ich bin sicher, der Knabe hatte seine Gründe, warum er uns verlassen hat." - "Bestimmt", sagte Pauline schneidend, "und Mendrick ist einer dieser Gründe." - "Ja, ich hab's verstanden!" Ruckartig stand ich auf. Meine Wangen glühten rot, weil ich so verärgert war. "Aber ich latsche doch nicht Ewigkeiten durch den Schmetterlingswald, ständig gefolgt und beobachtet von Modoroks, für nichts und wieder nichts!" - "Hör endlich auf, dich aufzuregen", erwiderte Pauline, "die Kummerfalten auf deiner Stirn bleiben dir sonst noch." - "Ach", knurrte ich. Plötzlich schwang die Tür auf. Meine Augen weiteten sich. Da stand doch tatsächlich Yuri. Er zitterte vor Kälte. "Yuri?", platzte Pauline heraus und sank auf den Holzstuhl. "Wo warst du?" Yuri antwortete nicht. Er ging in die Hütte, schloss die Türe hinter sich und blieb mucksmäuschenstill mit dem Rücken an die Tür gelehnt stehen. "Hast du nicht gehört, was sie dich gefragt hat?", entfuhr es mir. "Wo warst du? Antworte!" - "Nirgendwo." - "Wie bitte?" - "Nirgendwo." Seine Unterlippe bebte. "Dir ist ganz kalt", bemerkte Kimama, "du brauchst warme Kleider. Hier, ich hab da noch einen Pullover aus brauner Schafswolle von Paulines Vater." Sie kramte in dem kleinen Holzschrank herum, der in der Ecke stand, holte den besagten Pullover hervor und stülpte ihn Yuri über. Er war ihm viel zu groß, aber er schien ihn zu wärmen. Yuri sagte nichts und bewegte sich auch nicht von der Stelle. "Sag mal, was ist eigentlich dein Problem?", bellte ich ihn schließlich an. "Du redest nicht, du verschwindest und tauchst plötzlich wieder auf... denkst du nicht, dass du uns eine Erklärung schuldig bist?" Jetzt sah er mir das erste Mal direkt in die Augen. Ich hielt den Atem an, denn sein Blick war tiefer, als ich erwartet hatte. "Ich bin niemandem etwas schuldig", sagte er kühl, drehte sich um, öffnete die Tür und verließ die Hütte. "Yuri, warte!", rief Pauline und stürzte hinter ihm nach. Ich hinterher. Kimama beobachtete uns von der Hütte aus. Pauline bekam Yuri am Pulloverärmel zu fassen und er blieb ohne langes Herumzerren stehen. "Bleib hier", sagte Pauline. Er sah sie nicht an. "Warum?", fragte er. Pauline suchte nach Worten. "Hör zu, ich… ich weiß nicht genau, wer du bist und du musst es uns auch nicht sagen, aber… ich… ich weiß, dass wir dich nicht umsonst da draußen... gefunden haben. Es gibt keine Zufälle." - "So?", erwiderte Yuri unbeeindruckt und presste dann die Lippen aufeinander. "Bleib", sagte ich nun ebenfalls, "es ist zu gefährlich für dich allein. Wohin willst du überhaupt gehen?" - "Nirgendwohin", antwortete Yuri leise. "Nirgendwohin?", wiederholte ich. "Ja", antwortete Yuri matt, "die Schneekönigin hat gesagt, sie sind dort. Im Nirgendwo." - "Wer? Von wem sprichst du? Wer ist dort?", fragte Pauline. Yuri sackten die Knie weg. Pauline packte ihn an den Schultern und stützte ihn. "Yuri, wer ist dort?", fragte sie noch einmal. "Familie", krächzte Yuri, "nirgendwo… nirgendwo…" Ich ließ die Schultern hängen. Der Knabe war wohl doch verstörter, als ich gedacht hatte. "Komm", sagte Pauline sanft zu Yuri und nahm ihn an der Hand, "komm zurück in die Hütte mit uns. Du bekommst eine Tasse heiße Ziegenmilch, um dich aufzuwärmen. Und dann sehen wir weiter, ja?" Yuri sagte nichts, aber er ließ sich von Pauline mitnehmen. Dorfhund Chitto zog den Schwanz ein und legte die Ohren an, als Yuri an ihm vorbeiging.

Zunächst sagte keiner ein Wort, als wir gemeinsam am Tische saßen und Yuri beim Trinken seiner Ziegenmilch zusahen. Er trank ganz vorsichtig; so, als ob er Angst hätte, jeder Schluck könnte ihm irgendetwas antun. "Die ist gut", sagte er plötzlich erleichtert, "die ist gut, die Milch. Die schmeckt." Kimama rang die Hände. "Ach, du armer Junge…! Sie haben dir nichts Ordentliches zu essen und trinken gegeben, nicht wahr? Du bist ja so mager…" Yuri blinzelte. "Ich musste eigenartige Flüssigkeiten trinken. Was die bezwecken sollten, weiß ich nicht genau. Jedenfalls ist mir danach oft etwas Schlimmes passiert. Wenn ich nicht getrunken habe, haben sie es mir gewaltsam eingeflößt." Er ließ die Tasse Ziegenmilch sinken und starrte vor sich hin. Mir wurde mulmig zumute. "Was meinst du mit etwas Schlimmes?", fragte ich langsam. Yuris Körper begann zu beben. Er versuchte, es zurückzuhalten, woraufhin er zu schwitzen anfing. "Keine Luft", stöhnte er, "mein Atem… ich konnte plötzlich nicht mehr atmen... nicht mehr gehen… Schmerzen... und dann waren da Stimmen... seltsame Stimmen in meinem Kopf... Fratzen... Schmerzen..." - "Schon gut, mein Junge", sagte Kimama zärtlich und legte nach kurzem Zögern ihre runzlige Hand auf die seine, um ihn zu tätscheln, "du musst nicht darüber reden und brauchst auch nicht mehr daran zu denken. Jetzt bist du bei uns, jetzt ist alles gut, nicht wahr?" - "Mh", sagte Yuri. Er atmete tief durch, schlug betreten die Augen nieder und nippte wieder an seiner Ziegenmilch. Pauline hatte ihren Kopf in die Hände gestützt und betrachtete Yuri mit traurigen, ratlosen Blicken. "Bist du müde, Yuri?", fragte sie ihn dann. "Ich meine, du warst wohl bereits in der Nacht... unterwegs. Du musst müde sein." - "Ja", antwortete Yuri. "Möchtest du gerne schlafen?", fuhr sie fort. "Nein", sagte Yuri. "Nein?", wiederholte Pauline überrascht. "Nicht schlafen", flüsterte Yuri, "ich sehe grässliche Dinge, wenn ich schlafe." Kimama schüttelte seufzend den Kopf, erhob sich, öffnete den kleinen Wandschrank und holte ein Kästchen voller intensiv duftender Kräuter und Pflanzenextrakte heraus. "Das ist Arznei deines Großvaters", sagte sie zu Pauline und hielt ihr das Kästchen unter die Nase, "er hat dir sein Buch vermacht, du kennst dich besser mit Heilpflanzen aus als ich. Wir sollten Yuri etwas geben, das seine Alpträume ein wenig bändigen kann." - "Nichts zu trinken… bitte", entfuhr es Yuri. "Nein, du musst nichts trinken", beschwichtigte Pauline, "ich werde dir ein Kissen nähen und es mit Baldrian, Thymian, Kamillenblättern und reichlich Rosmarin füllen. Das vertreibt Alpträume und hilft gegen Panikzustände." Sie holte die erwähnten Kräuter aus dem Kästchen heraus. "Oh je", sagte sie dann, "Rosmarin fehlt." - "Ich besorge welchen", bot ich an, erhob mich, warf meinen Mantel aus Kuhfell über und ging zur Türe. "Danke, Mendrick", sagte Pauline. Ich nickte und öffnete die Tür. "Danke, Mendrick", wiederholte Yuris raue Stimme. Ich hielt kurz inne, schloss dann die Tür hinter mir und stapfte in den Schnee hinaus.

"Wohin des Weges, Zaubererfreund?", fragte mich der neugierige Landogar, der Dorfälteste. Einige seiner Enkelkinder spielten fröhlich im Schnee – ein Bild, das einen zu Kriegszeiten zu Tränen rühren konnte. Seit die Schneekönigin an die Macht gekommen war, gab es keine Einheit und Brüderlichkeit mehr in Sternland. Jeder schien gegen jeden zu sein. Niemand vertraute mehr dem anderen. Es war zugegebenermaßen auch schwierig, jemandem zu vertrauen. Spione der Schneekönigin lauerten überall, und jeder, der sich öffentlich gegen sie bekannte, hatte damit den sicheren Tod in der Tasche. Vor allem nichtmagische Menschen waren der Schneekönigin ein Dorn im Auge; diese Debatte hatte auch den Krieg erst überhaupt ausgelöst. Sie wollte eine klassifizierte Welt, in der es die Mors, die Magischen, und die Elmors, die Nichtmagischen, gab; die Mors als "reinblütige", herrschende Partei in Reichtum und Erfolg, und die Elmors als deren Sklaven, deren Mittel zum Zweck, die "Unterschicht". Da magische Fähigkeiten unserem Glauben und den alten Schriften nach zufolge nur von den Göttern auferlegt werden können, war die Kalte Hexe der Meinung, dass eben auch nur magische Menschen es würdig waren, ein angemessen Leben zu führen. Für die meisten war das natürlich ein kompletter, menschenverachtender Unsinn; für viele andere aber leider auch Tatsache, was dazu geführt hatte, dass sich die Schneekönigin über die Jahre hinweg eine Masse an Befürwortern und Unterstützern zueigen machen konnte. "Na?", holte mich Landogar aus meinen Gedanken. "Willst du mir nun antworten, Zaubererfreund? Oder bist du bereits genauso schwerhörig wie meine Frau? Oh, die Götter haben sie selig...!" - "Ich besorge nur ein paar Kräuter, Landogar", erklärte ich und wollte weitergehen, aber Landogar hatte noch eine Frage. "Hat die gute Kimama etwa einen Gast? Sie hat seit gestern Abend ihre Hütte nicht mehr verlassen. Nur einmal, zum Ziegenmelken." Er zwirbelte seinen grauen Bart. "Kimama kümmert sich um einen jungen Knaben, den Pauline und ich verletzt im Wald aufgefunden haben", winkte ich ab. "Wart ihr nicht auf der Suche nach dem Auserwählten?", bohrte Landogar weiter, "dem legendären Wolfskrieger, der die Schneekönigin bezwingen soll?" Ich räusperte mich, nickte und erwiderte: "Ja, aber wir sind leider nicht fündig geworden." - "Wie schade", meinte Landogar. "Ich muss weiter", sagte ich, "wir sehen uns später, Landogar." - "Viel Glück beim Kräutersuchen", rief mir der Alte hinterher, "es ist schwer, unter dem vielen Schnee und Eis noch lebende Pflanzen zu finden."

Der Wind hatte gedreht und blies mir beißend kalt ins Genick. Ich zog die Kapuze meines Mantels tiefer in die Stirn und stellte den Kragen auf. Als ich so durch den Schmetterlingswald ging, versuchte ich, mich daran zu erinnern, wie es hier ausgesehen hatte, bevor die Kalte Hexe vor knapp achtzehn Jahren unseren guten König Gaidemar gestürzt und den Thron neu erobert hatte. Es war traurig und bitter: Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern. Alle Bilder, die kamen, waren bestimmt von Kälte und Finsternis. Ich entdeckte Hufspuren der Modorok-Rösser im Schnee und schnaubte entrüstet. Das Geschlecht der Modoroks war lange Zeit eine Generation ehrwürdiger Soldaten gewesen, die aber im Laufe der vergangenen Jahre zu Untergebenen der Schneekönigin geworden waren und sich ihr bis heute als treu ergeben erwiesen. Ich erreichte die Waldlichtung, zu der ich wollte: die Sonnenmeer-Waldlichtung, die laut Kimamas Erzählungen einst das schönste und an Pflanzen reichste Fleckchen des Schmetterlingswaldes gewesen war. Ich suchte nach Rosmarin, wurde aber meinen Erwartungen gerecht und fand nichts. Plötzlich überkam mich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden und zog augenblicklich meinen Zauberstab aus der Mantelinnentasche. "Wonach suchst du und findest nicht?", fragte eine glasklare Stimme und aus dem verschneiten Dickicht trat eine zarte Gestalt hervor. Ich ließ den Zauberstab sinken. "Eine Meliade!", entfuhr es mir überrascht. Waldnymphen wie diese wurden schon lange nicht mehr in der Gegend gesichtet. Sie trug ein knielanges, fahlbraunes Kleid und ihre Haut war dunkelgrün. Sie war bloßfüßig und versank nicht im Schnee, als sie langsam Fuß vor Fuß setzte. Die blassgrünen Lippen hatte sie aus Neugierde leicht geschürzt; ihre spitz zulaufenden Ohren blickten unter den kurzen, wirren, hellbraunen Haaren hervor und bewegten sich leicht, als sie mir lauschte, während ich sprach: "Verzeih, ich habe noch nie eine Meliade gesehen. Ich kenne sie nur aus Geschichten. Mein Name ist Mendrick und ich bin Zauberer aus Abeytu. Ich stehe aber, im Gegensatz zu den meisten anderen meinesgleichen, nicht auf der Seite der Schneekönigin und lebe seit meinem achtzehnten Lebensjahr, also seit knappen fünf Jahren, drüben bei den Leuten im friedlichen Fischerdorf." - "Im Fischerdorf", sagte die Meliade, "gibt es denn noch genügend Fische im nahe gelegenen Teich? Ich bildete mir ein, er sei zugefroren." - "Du hast dich nicht getäuscht", antwortete ich und steckte meinen Zauberstab zurück in die Mantelinnentasche, "der Teich ist schon lange tot und mit ihm all die Fische. Die Bewohner des Dorfes leben nur noch von dem, was ihnen ihre wenigen Nutztiere geben können – Milch von den Ziegen, Eier von den Hühnern, Wolle und, seltener, Fleisch von den Schafen." - "Das ist traurig", erwiderte die Meliade. "Ich heiße Gwendolin und bin aus dem westlichen Teil dieses Waldes hierher in den Norden geflohen, nachdem die Truppen der Schneekönigin eingefallen sind und unsere Baumhäuser zerstört haben, weil wir uns ihrer Herrschaft nicht beugen wollten. Meine Mitschwestern wurden alle getötet." - "Das tut mir Leid", sagte ich. "Wieso?", fragte die Meliade namens Gwendolin. "Es ist ja nicht deine Schuld." Sie lächelte mild und entblößte eine Reihe strahlend weißer, perfekter Zähne. "Also, Zauberer Mendrick, wonach hast du denn so verbissen gesucht, bevor ich aufgetaucht bin?" - "Ich brauche Rosmarin für einen Dorfbewohner", sagte ich, "es geht ihm nicht gut. Er benötigt einige Kräuter, die ihm zur Beruhigung verhelfen können." - "Ich glaube, ich weiß, wer dir Rosmarin geben kann", freute sich die Meliade, "ihr Name ist Pau und sie ist eine gute, einfache Kräuterhexe. Sie lebt in einer unterirdischen Erdhöhlenwohnung, die sie selbst erschaffen hat. Dort findet sie niemand der feindlichen Truppen. Sie wirkt ein wenig ruppig, aber sie ist in Ordnung. Ich kann dich zu ihr bringen." Ich verzog die Mundwinkel. "Ich bin nicht sicher, ob sich deine Kräuterhexe über meinen Besuch freuen wird... oder ob ich mich darüber freuen werde. Ich bin nicht sonderlich begeistert von Hexen." - "Ach!", lachte Gwendolin nur und deutete mir, ihr zu folgen.

Kräuterhexe Paus unterirdische Höhlenwohnung glich einem riesigen Dachsbau und man gelangte über eine banale Strickleiter hinunter, die unter Schnee und Moos verborgen war. Magische Wandfackeln spendeten Licht, sowie unzählige Teelichter, deren Kirschduft den modrigen Geruch des feuchten Holzes überdeckten. Aus Reisig und Holz waren an den Höhlenwänden Regale gebaut; ein simpler Schlafsack aus Riesenwildschafwolle diente als Schlafplatz. "Madame Pau", rief Gwendolin ins dunkle Ende der Erdhöhle hin, "teure Freundin, hier ist Gwendolin! Ich habe dir einen Gast mitgebracht." - "Bei Tante Walpurgas stinkenden Socken!", ertönte Madame Paus mürrische Stimme aus dem Hintergrund, "Gwendolin, ich habe dir doch gesagt, du sollst keine Fremden herbringen! Das könnte uns eines Tages teuer zu stehen kommen!" Sie hatte einen amüsanten Akzent: Den Buchstaben R bildete sie so scharf, dass er sich wie eine Klapperschlange anhörte, die wie ein Pfeil aus ihrem Mund geschossen kam. Sie trat aus dem Schatten hervor und zeigte ihr Angesicht. Die alte Hexe war sehr klein, mollig und ihr Buckel thronte wie ein kleiner Baumstumpf zwischen ihren Schultern. Sie trug eine mantelähnliche Toga aus Büffelfell und schäbige, löchrige Pantoffel. Ihre Augen waren klein und dunkel, glichen denen eines Maulwurfs. "Wer ist das?", fragte sie Gwendolin und deutete mit ihrem dicken Zeigefinger auf mich. Bevor ich etwas sagen konnte, antwortete die Meliade: "Das ist Mendrick, ein Zauberer. Er braucht ein bisschen Rosmarin." - "Zauberer!", schnarrte Pau empört und funkelte mich griesgrämig an. "Raus aus meiner Höhle! Verschwinde!" - "Er kommt nicht in böser Absicht", beschwichtigte Gwendolin sie, "er wohnt drüben im Fischerdorf. Er braucht Heilkraut für einen Freund." Pau kniff die kleinen Augen noch enger zusammen. "Fischerdorf, ja? Woher wissen wir, dass er die Wahrheit spricht?" Sie drehte sich ruckartig um und holte ein kleines Fläschchen mit roter Flüssigkeit aus einem der Regale heraus. "Bevor ich mir anhöre, was er zu sagen hat, muss er ein Wahrheitsserum trinken." Ich musste verächtlich lachen. "Was ist daran komisch?", fuhr mich die Hexe an. "Ich glaube nicht an so etwas", erwiderte ich. "Zauberer", fauchte Pau abwertend und drückte mir das geöffnete Fläschchen, kaum größer als mein Daumen, in die Hand, "wenn du nicht daran glaubst, hast du sicher auch kein Problem damit, es zu trinken." Gwendolin nickte mir zu und ich leerte nach kurzem Innehalten das Gesöff in meinen Rachen. Madame Pau blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Na?", fragte sie und grinste breit. "Spürst du etwas?" Die folgenden Worte kamen wie automatisch aus meinem Mund: "Ich habe das Gefühl, ich kriege Blähungen. Und ich schwitze wie eine Wildsau, die am Spieß gebraten wird. Aber wieso sag ich das eigentlich?" Madame Pau rieb sich zufrieden die Hände. "Es funktioniert! Nun, Zauberer, bist du uns also tatsächlich gut gesinnt?" - "Normalerweise würde ich sagen Nein, weil du eine fette, hässliche, alte Hexe bist und ich fette, hässliche, alte Hexen nicht leiden kann, aber in diesem Falle sage ich Ja, weil Yuri den Rosmarin braucht… jetzt, wo ich gerade so zu Gwendolin rüberschaue, fällt mir auf, wie hübsch sie ist… und meine Blähungen kommen wieder." Mein Gesicht wurde heiß. Ich biss mir selbst auf die Zunge, um zu reden aufzuhören. Pau kullerte mit den Augen. "Gut, das genügt." Sie reichte mir ein weiteres Fläschchen, diesmal eine blaue Flüssigkeit. "Das Gegenmittel", erklärte sie, "von deinen Blähungen will ich nichts mehr hören." Gwendolin kicherte. Ich trank und spürte, wie ich zu schwitzen aufhörte und meine Wangen wieder kühl wurden. "Also", fuhr Pau fort, entnahm mir die Fläschchen und wühlte dann in ihren Utensilien herum, "Rosmarin brauchst du, ja? Was hat er denn, dieser Yuri?" - "Alpträume und so etwas wie Panikattacken", erklärte ich, "er ist allgemein sehr beunruhigt." - "Gut, dann müsste das reichen." Sie gab mir einen Bund Rosmarin. "So, Zauberer, das ist alles, was die fette, hässliche, alte Hexe entbehren kann." - "Danke, Madame Pau", sagte ich kleinlaut. Sie blickte mich erwartungsvoll an. "Was ist denn?", fragte ich und legte den Kopf schief. "Na, wo bleibt deine Gegenleistung?" - "Oh", sagte ich und warf Gwendolin einen viel sagenden Blick zu, "Gegenleistung… davon wusste ich nichts. Ich hab blöderweise auch gar nichts bei mir." - "Zauberer", zischte Pau. Sie stützte die Hände in die Seiten und meinte dann: "Wenn ich mich hier so umsehe, finde ich, dass das alles wieder mal ordentlich von jemandem aufgeräumt und geputzt werden könnte." Ich zog die Nase kraus. "Was, von mir?" - "Na, was denkst du, Bürschchen? Willst du den Rosmarin oder nicht?" - "Ja doch", knurrte ich. "Gut", antwortete Pau, "dann komm gleich heute Abend zum Aufräumen." - "Ihr seid eine Hexe", sagte ich zu ihr, "könnt Ihr die Unordnung nicht einfach weghexen?" Pau warf den Kopf in den Nacken und lachte. "Ich bin eine Kräuterhexe, Bürschchen. Ich mixe Kräutergemische und braue Zaubertränke, aber ich fuchtele nicht mit einem albernen Holzstäbchen in der Gegend herum wie ihr einfältigen Zauberer!" - "Schon gut", murrte ich. "Dann komm gleich heute Abend. Sagen wir, gefühlte zwei Stunden nachdem der Mond aufgegangen ist, ja?" - "Meinetwegen." - "Gut. Dann bis heute Abend." - "Wiedersehen, Madame Pau."

Draußen angekommen sagte ich zu Gwendolin: "Die erwartet doch nicht im Ernst, dass ich heute Abend zu ihr komme, oder?" Gwendolin sah mich entrüstet an. "Natürlich tut sie das! Es ist deine Gegenleistung!" - "Meine Güte", antwortete ich, "was will sie denn machen, wenn ich nicht komme? Mich anspucken?" - "Sie könnte dich vielleicht verfluchen." Ich gluckste amüsiert. "Daran glaube ich nicht." - "Etwa genauso wenig, wie du an die Wirkung des Wahrheitsserums geglaubt hast?", fragte Gwendolin spitz. Ich biss mir auf die Unterlippe und schwieg. "Danke übrigens für dein Kompliment vorhin", fuhr Gwendolin belustigt fort. "Welches Kompliment?" - "Dass du mich hübsch findest." - "Ach, das... ja, ja." - "Ich finde dich auch nicht übel", erwiderte die Meliade, "für ein Menschenwesen siehst du eigentlich sogar ganz ansehnlich aus." - "Na, vielen Dank", brummte ich und steckte den Rosmarin zu meinem Zauberstab in die Tasche. "Hör zu, Gwendolin, ich muss jetzt zurück ins Dorf. Danke für deine spontane Hilfe." - "Aber gern! Auf Wiedersehen, Zauberer!" - "Lebwohl." Und ich ließ die Meliade im Wald zurück.

Yuri

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