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Kapitel 9 - EIN FALSCHES WORT

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MENDRICK.

Ich war überwältigt.

Ich wusste ja gar nicht, was ich zu meinem Vater sagen sollte. Umso erleichterter war ich, als er den ersten Schritt machte und zu reden anfing. "Oh, mein Junge", seufzte er, nachdem die anderen den Raum verlassen hatten, "wie lange ist’s her…? Fünf Jahre…? In der Tat, fünf Jahre… du bist so groß geworden… ich meine, du warst schon immer groß… aber jetzt, jetzt bist du... na, sehr groß." Er hatte Tränen in den Augen. "Ach, Mendrick, ich möchte... ich würde dir gerne so viel sagen, dir so viel erzählen, aber ich... ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll." - "Dann sind wir ja schon zwei", meinte ich verlegen und grinste. Er nahm mich an den Schultern und zog mich noch einmal in eine Umarmung. "Mein Junge", murmelte er immer wieder, "mein lieber Junge." Ich spürte wieder einen Kloß im Hals und presste Lippen aufeinander, um die abermals aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Balthaszar ließ mich los und sah mir tief in die Augen. "Geht es dir gut, Mendrick, ja?" - "Ja, ich bin wohlauf. Die Fischerleute sind wie eine Familie für mich, mir fehlte es all die Jahre an nichts." Jetzt sah er ein wenig wehmütig aus. "Das... nun, das freut mich, zu hören, Mendrick." - "Aber natürlich hast du mir gefehlt", fügte ich ebenso wehmütig hinzu, "und ich habe sehr oft an dich gedacht." Gedacht war wohl untertrieben. Ich hatte sogar häufig mit dem Gedanken gespielt, wieder zu ihm nach Abeytu zurückzukehren. Aber ich konnte und wollte Pauline und Kimama nicht verlassen. Sie hatten meine Hilfe und meinen Schutz bitter nötig. Und trotzdem. Gerne hätte ich meinen Vater in den vergangenen Jahren an meiner Seite gehabt. Aber er hatte sein Leben und ich das meine. So ähnlich wir uns in gewissen Dingen auch schienen, so unterschiedlich gingen wir mit manchen Situationen um. Während mein Vater den Verlust meiner Mutter mit Arbeit und Zaubereistudium abzutun versuchte, hatte ich damals beschlossen, die Lösung meines Problems im Außen zu suchen. Ich musste einfach weg. Weg aus Abeytu, weg von meiner Kindheit, weg von der Erinnerung an meine Mutter und vor allem auch weg von meinem Vater, der mich mit seiner Trauer damals fast erdrückt hatte. Andererseits konnte man ihm das ja auch nicht verübeln. "Du ahnst nicht, wie oft ich an dich gedacht habe, Mendrick!", riss mich seine Stimme aus den Gedanken, "Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht, als du fortgegangen bist." - "Ja, ich weiß." - "Allerdings hätte ich mich erst gar nicht um dich sorgen müssen... immerhin bist du mein Sohn, und aus mir ist schließlich doch auch etwas Anständiges geworden. Zumindest so gut wie!" Wir lachten. "Du hast dich zum Positiven verändert, Vater", stellte ich lächelnd fest, "du siehst eindeutig besser aus als früher... so frisch und befreit!" Er winkte verlegen ab. "Hör doch auf! Ich sehe aus wie ein Straßenköter." Er rückte seinen Umhang zurecht. "Nun, mein Sohn, was führt dich eigentlich her? Du hast nur geschrieben, es sei aus gutem Grund. Ein verdammt guter Grund, hoffe ich! Du solltest dich nicht unnötig in Gefahr bringen. Hat dich auch niemand verfolgt? Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir meinetwegen etwas zustieße, Mendrick, das weißt du…" - "Es ist in Ordnung, Vater. Ich bin hier, weil es wirklich wichtig ist." Ich holte tief Luft. "Vater, der Auserwählte wurde gefunden." Balthaszar fielen beinah die stechenden Augen aus dem Kopf. "Der Auserwählte? Der legendäre Wolfskrieger aus Nagi Tankas Vision?" Ich nickte. "Genau der." - "Unfassbar! Wie konnte man ihn aus dem Schloss befreien?" - "Gar nicht. Er muss wohl selbst ausgebrochen sein, obwohl er sich nicht mehr richtig daran erinnern kann. Meine Freundin Pauline und ich haben ihn jedenfalls im Wald gefunden, ganz verstört und verschreckt..." - "Unglaublich! Er muss ein sehr starker Transformationskünstler sein, wenn er aus dem Schloss fliehen konnte!" - "Nun, ja, er ist ein Morph. Allerdings hat er seine Kräfte noch so gut wie gar nicht unter Kontrolle. Er kann weder bestimmen noch abschätzen wann, wie und ob er transformiert. Deswegen mussten wir das Dorf verlassen. Solange er seine Kraft nicht kontrollieren kann, ist er den Modoroks und der Schneekönigin ausgeliefert. Es ist für ihn im Schmetterlingswald zu gefährlich." Vater musste sich setzen. "Solange er seine Kraft nicht kontrollieren kann", wiederholte er dumpf, "ist es für ihn überall zu gefährlich." Er hob den Zauberstab auf, der ihm vorhin aus der Hand geglitten war, und drehte ihn nachdenklich zwischen seinen Fingern hin und her. "Deshalb kamen wir zu dir", sagte ich, "ich hatte gehofft, du könntest uns für eine Weile Schutz bieten." - "Für eine Weile, ja", erwiderte Balthaszar, "aber lange könnt ihr nicht bleiben. Die Modoroks sind euch gewiss auf den Fersen und die Spione der Schneekönigin vermutlich auch. Das ist nicht nur für euch eine Gefahr, ich kann und will außerdem nicht riskieren, dass die Tarnung meines Ordens auffliegt. So oder so seid ihr hier auf längere Sicht nicht sicher genug. Sie werden euch früher oder später aufspüren. Die Schneekönigin wird den Auserwählten um keinen Preis hier draußen frei herumlaufen lassen. Sie wird alles Nötige daran setzen, ihn wieder einzufangen, bevor er seine Kräfte zu kontrollieren erlernt." - "Ich weiß", antwortete ich niedergeschlagen, "was sollen wir denn tun, Vater?" Er überlegte. "Ihr müsst schnell sein, der Kalten Hexe immer einen Schritt voraus. Ich habe einige Verbündete außerhalb der Stadt an der Grenze zum Albenreich. Dort könntet ihr untertauchen, zumindest eure Dorfleute. Für Yuri müsst ihr eine Möglichkeit finden, wie er so rasch wie möglich lernen kann, seine Kräfte zu beherrschen." Ich blickte meinen Vater ratlos an. "Und wie sollen wir das anstellen?" Er wippte mit seinem rechten Fuß nervös auf und ab. Das hatte er immer schon getan, wenn er angestrengt nachdachte. "Es wäre nahe liegend, wenn ihr in die Lequoiawälder vordringt und einen Wolfskriegerstamm aufsucht. Die Eingeborenen wissen am Allermeisten über die Legende zu erzählen. Und nicht zuletzt ist Yuri einer von ihnen. Vielleicht findet er mit ihrer Hilfe heraus, wie er mit seiner Gabe richtig umgehen kann." - "Ich dachte, die Schneekönigin hätte alle Wolfskriegerstämme ausgerottet?" - "Manche fanden einen Weg, zu entkommen, Mendrick. Nicht viele, aber immerhin einige. Niemand weiß, wo genau sie sich aufhalten. Aber ich hörte aus sicherer Quelle, dass ein paar von ihnen im Laufe der vergangenen Jahre wieder in ihre ehemaligen Heimat, die Lequoiawälder, zurückgekehrt sind. Natürlich sind ihre Lager gut versteckt, doch ich würde dir raten, nach ihnen zu suchen. Es ist die einzige Möglichkeit, wie Yuri etwas über seine Vergangenheit und seine Fähigkeiten in Erfahrung bringen kann." - "Nun, es wäre zumindest ein vorläufiger Plan und auf jeden Fall einen Versuch wert", sagte ich, eher zu mir selbst als zu Balthaszar. Mein Vater streckte die Hand nach mir aus und tätschelte meinen Kopf. Ich kam mir wieder vor wie der kleine Junge von früher. "Ich bin stolz auf dich, Mendrick", sagte Vater. Ich neigte mein Kinn zum Brustbein und antwortete: "Sei lieber nicht zu stolz auf mich. Noch ist nicht viel erreicht." - "Du hast den Auserwählten gefunden und fühlst dich nun dazu berufen, ihm zu helfen. Das ist deine Bestimmung. Ich habe allen Grund, stolz auf dich zu sein. Du hättest diese Aufgabe nicht übernehmen müssen." - "Doch", erwiderte ich ernst, "um einer Welt des Friedens Willen." Mein Vater klopfte mir anerkennend auf die Schulter. "Du bist ein bemerkenswerter junger Mann geworden, Mendrick. Als Kind warst du so schreckhaft und zurückhaltend, aber jetzt bist du mutig und selbstbewusst. Nun, irgendetwas musst du ja von mir geerbt haben, abgesehen von der Zauberkraft und der Statur." Ich schmunzelte. "Nun denn", fügte Vater hinzu, "jetzt will ich den Auserwählten kennen lernen und das Mädchen, das dir half, ihn zu finden."

Pauline und Yuri waren mit Kimama draußen am Gang. Erwin und Landogar mussten ins Zimmer nebenan zu unserem Klan gegangen sein. "Steht doch auf von dem kalten Boden", drängte Vater, "sonst holt ihr euch noch eine Erkältung." Ich musste lachen, denn: nein, Vater sah gewiss nicht so aus, als wäre er fürsorglich. Sie erhoben sich. "Das ist also Pauline", sagte ich, "und das hier ist Kimama, ihre Großmutter." - "Sehr erfreut", sagte Vater, während er einem nach dem anderen die Hand schüttelte. "Pauline, ja? Eine Freundin oder deine Freundin, Mendrick? Hübsch ist sie. Hoffentlich auch klug. Aber möglicherweise zu dünn um Kinder zu gebären." - "Vater, also... ich bitte dich!" Mir schoss die Schamesröte ins Gesicht. "Eine Freundin", warf Pauline amüsiert ein. Balthaszar zwinkerte ihr zu. "Ach", sagte er dann erstaunt, als er Yuri musterte, "und du bist wohl…?" - "Yuri, der besagte Wolfskrieger", stellte ich ihn vor. Mein Vater blickte etwas skeptisch drein. "Es ist mir eine Ehre, Yuri… obwohl ich gestehen muss, dass ich mir den Auserwählten irgendwie… anders vorgestellt habe. Irgendwie… tja… kräftiger." - "Ja", warf ich ein, "es stimmt, er ist etwas klein geraten für sein Alter und hat nicht sonderlich viel Appetit." - "Seid bitte unbesorgt", sagte Yuri in leicht genervtem Ton, "ich werde schon noch an Größe und Gewicht zulegen." - "Davon bin ich überzeugt", lachte Kimama. Chitto bellte, animiert durch Kimamas Lachen. Balthaszar verzog die Mundwinkel. "Der Hund sollte nicht zu laut sein", sagte er streng, "am Besten überhaupt nicht laut. Es wäre alles andere als erstrebenswert, dass das Versteck der Akandos auffliegt." - "Hörst du?", sagte Pauline zu Chitto und beugte sich zu ihm hinunter, um seinen Hals zu tätscheln. "Sei ein braver Junge!" Chitto legte fragend den Kopf schief, gab aber keinen Laut mehr von sich. "Vater meint, wir sollen bald wieder weg von hier", erklärte ich, "in Richtung Albenreich. Dort könnte jemand die Dorfleute vorerst unterbringen während wir in die Lequoiawälder weiterziehen, um mehr über die Legende und das Transformieren zu erfahren…" - "Verzeih, dass ich dich unterbreche, Mendrick", sagte Kimama, "aber wen genau meinst du mit wir?" Ich wunderte mich, dass sie das fragte. Für mich war es ganz klar. "Na, Pauline, Yuri und mich! Du könntest natürlich auch mitkommen, wenn es deine Gesundheit zulässt, aber ich denke, es sollte jemand bei den Dorfsleuten bleiben, der Ordnung schaffen kann und gut auf alle Acht gibt…" Ich verstummte, als ich merkte, dass Kimama ganz und gar nicht erfreut über die Erwähnung von Paulines Namen war. "Ich lasse euch das lieber allein ausdiskutieren", meinte Balthaszar, nickte uns zu und ging in sein Quartier zurück.

"Pauline wird beim Klan bleiben", verkündete Kimama mit einer Strenge in der Stimme, die man üblicherweise nicht von ihr gewohnt war. Pauline und ich öffneten gleichzeitig die Münder, um etwas zu sagen, aber Kimama fügte augenblicklich hinzu: "Es hat gereicht, dass du nächtelang im Wald unterwegs warst, um Yuri zu finden, Pauline. Da dies nun erledigt ist, brauchst du dich nicht in noch größere Gefahr begeben. Ich habe deinem Vater versprochen, dass dir nichts zustoßen wird." - "Wer kann garantieren, dass ich im Albenreich oder hier in Abeytu sicher bin?" - "Pauline, du hast gehört, was ich gesagt habe! Du wirst nicht mit dem Zauberer mitgehen!" Ich zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte mich den Zauberer genannt. Das tat sie für gewöhnlich nie. "Kimama", sagte Pauline schwach, als sie bemerkte, dass ihre Großmutter den Tränen nahe war, "wieso machst du dir plötzlich solche Sorgen? Du bist doch sonst stets so zuversichtlich." Kimama trocknete ihre Tränen mit dem Ärmel ihrer Wolljacke und erwiderte: "Wer weiß, was dich da draußen erwartet? Ich habe schon meine Tochter und meinen Schwiegersohn verloren. Ich will nicht riskieren, auch noch dich zu verlieren." Pauline griff ihre Hand. "Aber, Großmutter…" - "Es ist genug, Pauline! Du bleibst beim Klan!" Sie warf Yuri und mir einen kurzen Blick zu, wünschte uns einen guten Abend für später und verschwand dann mit Chitto hinter der Tür, die ins Schlaflager führte.

"Ich werde nicht beim Klan bleiben", sagte Pauline, nachdem Kimama die Türe hinter sich geschlossen hatte. "Du willst die Bitte deiner Großmutter ignorieren?", fragte Yuri. "Ich habe keine andere Wahl", antwortete Pauline. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Doch, natürlich hast du die Wahl. Niemand hat dich gezwungen, mitzukommen." - "Und es kann mich auch niemand dazu zwingen, hier zu bleiben, Mendrick! Hör zu, ich weiß, was ich tue. Mir ist klar, worauf ich mich einlasse. Aber ich war es, die Yuri..." - sie pausierte kurz, um ihre Gedanken in die richtigen Worte zu fassen - "... auf dem Waldboden kauernd fand. Und als ich ihn da so liegen sah, wusste ich, dass ich ihn beschützen werde müssen, ihn begleiten werde müssen auf seinem Weg… es war so ein klarer Gedanke, Mendrick, ich weiß einfach, dass ich es tun muss. Ich werde mit euch gehen! Vielleicht laufe ich da draußen auch irgendwann meinem Vater über den Weg." Ich zögerte kurz, entgegnete dann betont vorsichtig, aber wohl nicht vorsichtig genug: "Bitte mach dir wegen Tristan keine allzu großen Hoffnungen." Paulines Augen blitzten gefährlich auf. "Was meinst du damit?", fuhr sie mich an. "Soll das heißen, du denkst, er sei ohnehin schon tot?" - "So habe ich das nicht gesagt." - "Aber gedacht!" - "Pauline, bitte, hör mir zu! Ich verstehe ja wirklich, dass dich die Sache mit deinem Vater beschäftigt…" - "Beschäftigt? Nein, Mendrick, du verstehst gar nichts!" Und sie wandte sich wutentbrannt um und folgte Kimama. "Was habe ich denn jetzt falsch gemacht?", fragte ich Yuri, wollte aber eigentlich keine Antwort darauf haben, weil ich mir keiner Schuld bewusst war. Und schnaubte demnach zufolge verächtlich, als Yuri dennoch den Mund öffnete. "Sei bloß still!", schnappte ich, noch bevor er etwas sagen konnte.

Pauline sprach den restlichen Tag kein Wort mehr mit mir.

Als wir uns des Abends ins Schlafgemach begaben und ich sicher gegangen war, dass alle eingeschlafen waren, weckte ich Yuri. Wir wollten keine große Sache aus unserem Aufbruch in die Lequoiawälder machen. Leise schlossen wir die Tür hinter uns und gingen zu meinem Vater, der immer noch wach war, weil er an einem Plan, die Spitzel der Königin aus Abeytu entfernen zu lassen, arbeitete. Wir verabschiedeten uns von ihm. "Ihr wartet nicht bis morgen Früh und verlasst das Stadtzentrum mit dem Klan gemeinsam?", fragte er, als er uns sah, angezogen wie Wandersleute. "Nein", sagte ich, "je früher wir uns auf den Weg machen, desto besser. Wo bringt ihr die Dorfleute morgen hin?" - "Mein Kumpane Degenhart wird sie bei Sonnenaufgang zu meinen treuen Freunden Volkward und Helena bringen. Sie sind ein wohl situiertes, älteres Zaubererehepaar, das großes Geld mit der Erfindung und Herstellung neuer Geschmacksrichtungen und Aromastoffen für Schmoggs gemacht hat. Die beiden leben außerhalb der Stadt und stehen mir stets mit Rat und Tat zur Seite, wenn ich Hilfe brauche. Sie nehmen den Fischerklan vorübergehend bei sich auf." Er nahm einen Schluck von seinem Glas Wasser. "Ihr könntet auch gut jemanden brauchen, der euch ein wenig unterstützt." Wie auf Stichwort trat plötzlich Erwin ein. "Ich habe die Ehre, euch zu begleiten", sagte er zu Yuri und mir. Mein Vater nickte zustimmend: "Ihr braucht jemanden, der euch Rückendeckung gibt." - "Wieso gehst du nicht mit uns, Vater?", fragte ich enttäuscht. "Weil mein Gesicht viel zu bekannt ist", antwortete Balthaszar, "die würden mich sofort erkennen und einsperren und dich und den Wolfsjungen mit dazu." Ich nickte knapp und ließ mir nicht anmerken, dass es mich traurig machte, meinen Vater wieder verlassen zu müssen, nachdem ich ihn nach fünf langen Jahren endlich wieder gesehen hatte. "Wir sollten uns jetzt aufmachen", verkündete ich. Mein Vater schloss mich in die Arme. "Pass gut auf dich auf, mein Sohn", sagte er mit zittriger Stimme, "wenn dieser Krieg vorbei ist, werden wir wieder richtig vereint sein." Ich wollte den Abschied schnell hinter mich bringen, denn ich war kein Mann der großen Worte. Schweigend verließen Yuri, Erwin und ich das Zimmer.

"Alle setzen ihre ganze Hoffnung in mich, nicht wahr?", fragte Yuri kleinlaut, als wir den Gang entlang wanderten, den Erwin mit einer heraufbeschworenen Lichtkugel ausleuchtete. "Nun ja", sagte ich, "du bist ja auch der Auserwählte, von dem die Legende erzählt." - "Wer kann garantieren, dass diese Legende überhaupt wahr ist?", wollte Yuri wissen. "Um ehrlich zu sein niemand", sagte Erwin, "aber Nagi Tanka ist seit eh und je der vertrauenswürdigste und mächtigste Schamane der Lequoiawälder. Auch König Gaidemar hat sich in früheren Zeiten oft Rat von ihm eingeholt. Niemand würde Nagi Tankas Prophezeiungen bezweifeln. Es ist, wie es ist, Yuri - du wurdest von den Göttern gesandt, um die Schneekönigin zu bezwingen." - "Mh", sagte Yuri. Er hatte die Stirn in dicke Kummerfalten gelegt. "Das bedeutet also, es kommt einzig und allein auf mich an, ob und wann dieser Krieg endet?" Erwin und ich tauschten die Blicke aus. "Grob gesagt ja", meinte ich schließlich. Da blieb Yuri abrupt stehen. "Was ist los?", fragten Erwin und ich wie aus einem Munde. "Pauline", sagte Yuri leise, "ich meine, wir können doch nicht einfach verschwinden, ohne uns von ihr und Kimama richtig zu verabschieden…?" - "Lange Abschiede strapazieren bloß deine Nerven. Kurz und schmerzlos ist’s besser, glaub mir das", erwiderte ich knapp. "Aber Mendrick, ich wollte mich noch bedanken für alles, was sie für mich getan haben… ich meine, falls etwas passiert… also, nicht irgendetwas, sondern... falls jemand von uns..." - "Lass sie einfach schlafen! Außerdem wissen sie, dass du ihnen dankbar bist. Mach dir nicht solche Gedanken darüber." - "Aber, Mendrick, beschäftigt dich denn das überhaupt nicht? Ich meine, wenn ihnen etwas zustößt? Oder was, wenn wir nicht zurückkommen? Nie wieder?" Ich starrte ihn an. Dann schob ich die aufkeimenden dunklen Gedanken rasch und sorgfältig wieder beiseite und sagte unwirsch: "Es wäre klüger, wenn du nicht so viel darüber nachdenkst, was wäre, wenn… das kostet nur Zeit und Energie." - "Moment!", zischte Erwin plötzlich und zog den Zauberstab aus seiner Brusttasche. "Was ist?", raunte ich ihm zu. "Da ist jemand", flüsterte Erwin. Unsere Lichtkugel spendete nicht genügend Helligkeit, um etwas in der Ferne richtig erkennen zu können. Jetzt nahm ich auch meinen Zauberstab zur Hand und positionierte mich schützend vor Yuri. Da hörte ich Schritte und sah jemanden an uns vorbeihuschen. Augenblicklich feuerte ich einen Schockzauber zum Angriff ab, verfehlte aber und die Gestalt prallte vor Schreck gegen die Kisten voll mit Zauberutensilien. "Das ist wieder einmal typisch Mendrick", hörten wir eine Mädchenstimme fluchen, die zweifellos Paulines war, "einfach einem jeden einen Zauber entgegen schleudern, ohne vorher sicher zu gehen, ob der vermeintliche Feind auch tatsächlich ein Feind ist!" - "Man kann nie vorsichtig genug sein", rechtfertigte ich mich, während Erwin und ich die Zauberstäbe sinken ließen. Pauline raffte sich auf und trat aus dem Schatten hervor ins Licht unserer Zauberkugel. "Was machst du überhaupt hier?", fragte ich sie. "Wonach sieht es denn aus?", antwortete sie schnippisch. "Ich komme mit euch. Das habe ich euch doch gesagt." - "Ich bin froh, dich zu sehen", bemerkte Yuri. Pauline hörte ihn nicht. "Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mitkomme, oder, Mendrick?", fragte sie mich schneidend. Ich lachte auf. "Nein, ich hatte noch nie etwas dagegen. Ich weiß nicht, wieso du so wütend auf mich bist." - "Ich bin nicht wütend", sagte Pauline wütend. "Was ist mit deiner Großmutter?", wollte Erwin wissen. "Ich habe ihr einen Brief hinterlassen und sie um Verständnis und Verzeihung gebeten", erwiderte Pauline und knöpfte sich den Hirschfellmantel zu. "Du wirst ihr das Herz brechen", sagte ich. Pauline presste die Lippen aufeinander und schwieg. "Lasst uns gehen", sagte Erwin schließlich und drängte uns weiter. Und so verließen wir meinen Vater und das Versteck des Orden der Akandos viel zu schnell wieder.

Es dämmerte, als wir das Zentrum Abeytus erreicht hatten.

Hier war mehr los als zuvor in den Gassen. Es waren schon etliche Leute unterwegs, darunter Zauberer, Hexen, Alchemisten und auch ein paar Straßenkünstler. "Wohin gehen die?", fragte Yuri, als er eine Gruppe Jugendlicher in grünfarbener Uniform vorbeiziehen sah, angeführt von einem vollbärtigen Mann mit Zauberhut. "Die gehören nach Zeldar. Das ist die öffentliche Elite-Zauberschule", antwortete Erwin, der die Kapuze seines Umhangs tief in die Stirn gezogen hatte, "dort lernen die Kinder, mit Magie umzugehen." - "Allerdings verfolgen Zeldarianer die Standard-Zauberlehre, die auf Zaubersprüchen, Muskelkraft und vor allem Aggression aufgebaut ist", fügte ich hinzu, "im Gegensatz zur Gandulf'schen Zauberkunst, die mentales Training und innere Ausgeglichenheit voraussetzt, um Magie einsetzen zu können." - "Besonders ausgeglichen bist du allerdings meistens nicht", meldete sich Pauline mit einem frechen Unterton. "Jetzt ist es aber genug", fuhr ich sie an, "hörst du endlich damit auf, mich schlecht zu machen? Es tut mir Leid, dass ich deine Gefühle wegen Tristan verletzt habe! Ich meinte es ja nicht böse. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du gleich so ausrastest." Paulines Lippen kräuselten sich, sie sagte aber nichts mehr. "Wer ist Tristan?", fragte Erwin. "Paulines Liebhaber? Dein Konkurrent?" Ich schnitt eine Grimasse. "Liebhaber? Konkurrent? Nein, zum Henker, weder noch, Tristan ist Paulines Vater! Wieso denkt eigentlich ständig jemand, dass zwischen mir und Pauline irgendetwas wäre?" - "Ich weiß nicht", erwiderte Erwin gleichgültig, "es war einfach eine Annahme." - "Eine dumme", murmelte Yuri. "In der Tat", stimmte ich ihm zu, und er schien überrascht, gar peinlich berührt, dass ich ihn gehört hatte. "Um zum Thema zurückzukommen", ging Pauline dazwischen, "was ist eigentlich unser Plan? Falls wir überhaupt einen haben..." - "Es ist vielleicht nicht der beste Plan, aber der momentan einzige", antwortete Erwin, "wir werden übers Albenreich in die Lequoiawälder vordringen und Wolfskrieger suchen, die uns mehr über Yuris Kräfte erzählen könnten. Aber wir sollten hier in Abeytu nicht zu laut darüber sprechen." - "Es gibt wieder Wolfskrieger in den Lequoiawäldern? Ich dachte, die Schneekönigin hat alle umgebracht." - "Vereinzelt sind wieder welche aufgetaucht und auf ständiger Flucht vor der Kalten Hexe. Es muss einigen damals gelungen sein, sich versteckt zu halten." - "Bemerkenswert! Wie lange dauert es, bis wir das Ende der Stadt erreicht haben?" - "Sicher noch einige Stunden. Abeytu ist eine relativ große Stadt." - "He, was ist da drüben los?", sagte Yuri plötzlich und wir wandten unsere Köpfe und sahen, wie zwei halbwüchsige Zauberlehrlinge einen alten, gebrechlichen Mann mit einigen Lausbubenzaubertricks zum Narren hielten. Sie entwendeten ihm seinen Hut mit einem banalen, nicht besonders geschickt ausgefeilten Schwebezauber, um ihn ihm im nächsten Augenblick wieder aufs Haupt zu werfen. Dies wiederholten sie einige Male und fanden ziemlich viel Spaß daran. Der alte Mann hingegen schien es nicht besonders lustig zu finden. Er fluchte und schimpfte und bat um Rücksicht, aber sie ließen ihn nicht zufrieden. Ich ging zu ihnen hinüber und sagte: "Habt ihr nichts besseres zu tun, als einen armen, alten Herren zu ärgern?" - "Wir setzen bloß das, was wir in der Zauberschule gelernt haben, in die Praxis um", lachte einer von ihnen, der ziemlich große und schiefe Vorderzähne hatte, während der andere mit roter Stoppelfrisur, der etwas älter zu sein schien, nun mir den Hut des alten Mannes entgegenschleuderte. "Faszinierend", sagte ich betont locker während ich meinen Zauberstab aus der Mantelinnentasche zog und den Hut mit einer kurzen Handbewegung verschwinden ließ, "wie viel ihr in Zeldar schon gelernt habt." - "Der hat den Hut in Luft auflösen lassen!", staunte der Ältere der beiden. "Einfacher Verschwindezauber", erklärte ich und schnalzte mit der Zunge, "nicht schlecht, was? Aber jetzt macht euch davon, bevor ich auch noch euch verschwinden lasse!" Die Halbwüchsigen lachten unbeeindruckt, gingen aber ihres Weges. "Ich würde meinen Hut trotzdem gerne wiederhaben", meldete sich der alte Mann und zog die grauen Augenbrauen hoch. "Natürlich, mein Herr", sagte ich, vollführte die drei Kreisbewegungen des verkehrten Verschwindezaubers und einen Moment später tauchte der Hut in meiner anderen, meiner linken, Hand wieder auf. Ich überreichte dem Mann seinen Hut. "Vielen Dank", sagte er. "Nicht der Rede wert", antwortete ich. "Ihr scheint kein typischer Zeldarianer zu sein", vermutete der Alte, "Eure Bewegungen sind viel fließender und geführter als bei den üblichen Zauberern von Zeldar und Ihr benutzt zudem keine Zaubersprüche." Ich grinste stolz. "Gestatten, Gandulf'scher Zauberer der vierundzwanzigsten Stufe." Als mir bewusst wurde, dass ich mit diesem Satz gerade einen großen Fehler begangen hatte, war es bereits zu spät. Dem Alten wich die Farbe aus dem runzligen Gesicht. "Gandulf'scher Zauberer!", wiederholte er laut. Erwin kam augenblicklich zu uns herüber, Pauline und Yuri folgten ihm. "Gibt es ein Problem?", fragte Erwin schneidend. Der alte Mann verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. "Wenn sich ein Zauberer der Gandulf'schen Zauberkunst in der Stadt befindet, sehe ich das tatsächlich als ein Problem an", knurrte er. Erwin zückte seinen Zauberstab. Der Alte schüttelte nur unbeeindruckt den Kopf. "Bitte, unterlasst das. Es dient Eurem eigenen Wohl."

Yuri

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