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Kapitel 1 - SPUREN IM SCHNEE

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PAULINE.

Als ich Yuri das erste Mal sah, hielt ich es nicht für möglich, dass er wieder Frieden nach Sternland bringen könnte. Er lag auf dem mit Schnee und Eis bedeckten Waldboden, durchnässt, zitternd vor Kälte, mit zusammen gekniffenen Augen, hilflos wimmernd wie ein kleines Kind.

Ich beugte mich zu ihm hinunter, strich ihm die klatschnassen, langen Haare aus dem Gesicht und entdeckte zugleich den tiefen, blutroten Kratzer, der quer über seine linke Wange ging. Die Verletzung sah so aus, als hätte sie ihm ein wildes Tier zugefügt. Yuri hob die Lider, als ich ihm unter die Arme greifen wollte, um ihn hochzuziehen, und ich blickte in die lieblichsten, türkisgrün schimmernden Augen, die ich je gesehen hatte. Yuri schien von meiner Wenigkeit wenig entzückt, denn er fing zu schreien an, als er zu sich kam und mich registrierte. Er versuchte, um sich zu schlagen, aber alle Kraft musste zuvor seinen Körper verlassen haben, denn er konnte sich kaum bewegen. Ich versuchte vergebens ihn zu beschwichtigen und auf ihn einzureden. Er schrie weiter, bis ihm schließlich die Stimme versagte und er in meinen Armen zusammensackte. "Ich tu dir doch nichts", sagte ich leise zu ihm, "ich will doch nur helfen..." Der Schneeregen peitschte weiterhin auf uns hinab. Yuri hatte seine leicht mandelförmigen Augen immer noch weit aufgerissen und sie starrten Angst erfüllt in die meinen. Sein Körper bebte; seine bronzefarbene Haut war eiskalt. "Ruhig, ganz ruhig", besänftigte ich ihn, "ich will dir doch nichts Böses... du bist verletzt..." Jetzt veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er ließ sich, ohne sich noch einmal zu weigern, von mir hochziehen und ich stützte ihn bis in die nahe gelegene Höhle, wo er keuchend auf die Knie sank und wie ein Häufchen Elend liegen blieb.

Ich machte Feuer, desinfizierte die Wunde auf seiner Wange mit der Arznei, die ich in einem kleinen Fläschchen bei mir getragen hatte, und wartete dann, bis mein guter Freund Mendrick, talentierter Jungzauberer, zurückkam. Yuri war eingeschlafen. Mendrick wirkte trotz seiner hageren Figur neben dem erschöpften Jungen wie ein starker, gesunder Recke. "Wo hast du ihn gefunden?", fragte er und wärmte seine knochigen Hände am Feuer. "Nicht weit von hier, nahe des Goldgreifnestes. Er wirkt total verstört." - "Natürlich", antwortete Mendrick, "ich wäre auch verstört, hätte ich zehn Jahre in Gefangenschaft verbracht." - "Was haben sie nur mit ihm angerichtet?", murmelte ich und spähte zu Yuri hinüber. Er schlief unruhig. "Es ist vermutlich besser, dass wir das nicht wissen", erwiderte Mendrick, "wichtig ist, wir haben ihn endlich gefunden. Lass uns hoffen, dass uns die Truppen der Schneekönigin nicht auf den Fersen sind." Er blies die Backen auf. "Dieser widerlichen Hexe wird das Lachen schon noch im Halse stecken bleiben, das verspreche ich dir, Pauline." - "Versprich lieber nicht zu viel", meinte ich. Dann schreckte Yuri aus seinem Schlaf hoch. Mendrick und ich gingen zu ihm hinüber. Ich kniete mich zu ihm. Yuri rührte sich nicht. Er funkelte uns misstrauisch an, gab aber keinen Ton von sich. Der Kratzer auf seiner Wange glänzte leicht im Licht der Flammen, das sich in seinem nassen Gesicht spiegelte. Wenigstens hatte er zu bluten aufgehört. "Mein Name ist Mendrick", sagte Mendrick sanft, "einziger Sohn des Balthaszar, Meisterzauberer aus Abeytu, der Grünen Stadt. Ich bin ebenfalls Zauberer, allerdings noch lange nicht so gut wie mein Vater. Wie ist dein Name?" Stille. Yuri machte keinerlei Anstalten, zu antworten. "Er hat guten Grund, skeptisch zu sein", meinte ich, "immerhin waren es Zauberer, die ihn von seiner Familie getrennt und der Schneekönigin ausgeliefert haben." - "Das ist Pauline", sagte Mendrick und deutete auf mich. "Mein Großvater war Medizinmann in unserem Dorf", fügte ich hinzu, "sein Name war Nathaniel der Weiße, hast du von ihm gehört?" Yuri schwieg abermals. "Du willst also nicht mit uns reden", bemerkte Mendrick dumpf und stützte sein Kinn in die Hand, "dabei stehen wir in diesem Krieg doch einzig und allein auf deiner Seite." Yuri senkte den Kopf und starrte ins lodernde Feuer. "Krieg", sagte er dann. Mir wurde es warm ums Herz beim Klang seiner schwachen, rauen Stimme. "Ja", sagte Mendrick traurig, "es ist Krieg. Die Schneekönigin hat unseren ehemaligen König, den guten Gaidemar, vom Thron gestürzt und unser einst idyllisches Land in ein düsteres Reich aus Eis und Frost verwandelt. Zum Glück gibt es noch genügend Anhänger Gaidemars, die sich der Kalten Hexe nicht beugen wollen und weiter gegen sie kämpfen werden. Dazu gehören auch wir." Yuri räusperte sich. Dann verriet er uns schließlich seinen Namen, pausierte kurz, und fragte dann: "Wie lange ist denn schon Krieg?" Ich tauschte mit Mendrick die Blicke aus. Mendrick seufzte tief. "Seit ungefähr achtzehn Jahren." Yuri vergrub das Gesicht in den verdreckten, blutverschmierten Händen. "Achtzehn Jahre..." Er wippte langsam vor und zurück. "Nein... nein... meine Familie... ich… wie lange...?" Seine Atmung wurde flacher, seine Augen begannen zu tränen. Ich legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter, doch er zuckte zusammen und wich zurück. Entmutigt ließ ich meine Hand wieder sinken. "Ist dir die Prophezeiung ein Begriff, Yuri?", fragte Mendrick behutsam. "Die Prophezeiung?", wiederholte Yuri langsam. Mendrick ließ sich im Schneidersitz nieder, holte tief Luft und begann zu erzählen:

"Zwei Jahre nachdem die Kalte Hexe unseren ehemaligen König Gaidemar entthronte und Sternland ins Unheil stürzte, ereilte den Schamanen Nagi Tanka in den Tiefen der Lequoiawälder eine Vision, die er als Prophezeiung der Götter für den Verlauf der Zukunft deutete. Unter Einfluss spiritueller Mächte trommelte er die Waldbewohner zusammen und verkündete ihnen, dass in der kommenden Nacht ein Junge geboren werden würde, der von den Göttern die Aufgabe auferlegt bekommen hätte, eines Tages die Schneekönigin zu stürzen und Sternland zu befreien. Dieser Junge soll im Zeichen des Wolfes zu einem starken Krieger heranwachsen, der mit der magischen Fähigkeit der Transformation gesegnet sein wird." -

"Ein Transformationskünstler, auch Morph genannt, ist ein Mensch, der sich in ein Tier, meist in den Schutzpatron seines Volkes, verwandeln kann", warf ich ein. "Ganz genau", stimmte Mendrick zu und fuhr fort, "in diesem Fall in einen Wolf, das heilige Tier der Wolfskriegerstämme in Lequoia. Nagi Tanka sprach also dem Knaben in seiner Vision diese seltenen Kräfte zu und betonte, dass jener Krieger die Schatten vertreiben und Sternland wieder ins Licht führen wird." - "Weil Nagi Tanka als der weiseste und berühmteste Seher des Landes gilt", fügte ich hinzu, "und einst auch König Gaidemar gedient hat, wurde der Prophezeiung natürlich Glauben geschenkt und sofort weitererzählt. Sie wurde von den Lequoiawäldern über jede Grenze hinaus nach ganz Sternland getragen." Mendrick nickte Yuri zu. "Deine Geschichte hat hohe Wellen geschlagen, mein Lieber." Yuri blickte verzweifelt drein. "Aber ich..." - "Mir erzählte mein Vater von der Prophezeiung", erklärte Mendrick, "und Pauline wiederum erfuhr es von ihrer Familie. Es gibt niemanden in Sternland - keinen Mann, keine Frau, kein Kind - die nicht davon gehört haben. Zumindest Bruchteile der Geschichte sind jedem bekannt." - "Natürlich konnte damals nicht verhindert werden, dass auch die Schneekönigin über Nagi Tankas Vision in Kenntnis gesetzt wurde", sagte ich. "Das ist der springende Punkt", erwiderte Mendrick, "sie geriet in Panik, hatte Angst um ihre Existenz und ihre Herrschaft. Sie ließ, kurz nachdem sie davon erfuhr, alle Wolfskrieger, die ihr in die Finger kamen, töten, auch die Neugeborenen." Yuri riss die türkisen Augen auf. "Aber..." - "Man erzählt sich, dass dich deine Eltern sechs Jahre lang verstecken konnten. Irgendwann wurdest du dann leider von einem Pack feiger Wanderzauberer entdeckt, die deine Transformationskräfte entlarvten. Aus Furcht vor dem Zorn der Königin verrieten sie dich und du wurdest gefangen genommen." Yuri sagte nichts mehr. Sein Blick war nun starr und leer. "Das ist wohl die traurige Wahrheit", fügte Mendrick hinzu, "du wurdest von deiner Familie getrennt, als du sechs Jahre alt warst und warst dann fast zehn Jahre lang in Gefangenschaft. Das muss ganz schön schlimm für dich gewesen sein." - "Mendrick!", mahnte ich und deutete ihm, jetzt nichts mehr dazu zu sagen. Er schwieg, senkte peinlich berührt das spitze Kinn zum Brustbein. Ich beugte mich zu Yuri und sagte leise: "Alles in Ordnung?" Er sah mich verworren an. "Nirgendwo", flüsterte er dann. "Wie bitte?", fragte ich nach. "Nirgendwo", zischte Yuri und wandte seinen Blick wieder von mir ab, "sie sind im Nirgendwo." Mendrick hob die Augenbrauen. "Ich habe keine Ahnung, wovon er redet." - "Er hat wohl auch keine Ahnung, wovon wir reden", sagte ich, "er ist verwirrt und steht immer noch unter Schock. Außerdem ist er unterkühlt. Seine Lippen sind schon ganz blau." - "Hier, Yuri. Nimm meinen Mantel", bot Mendrick an, schlüpfte aus seinem dunkelbraunen Mantel aus Kuhfell und warf ihn Yuri um die bloßen Schultern. Dabei entgingen ihm nicht die vielen Narben auf seinem Rücken, Rückstände von Peitschenhieben, wie ich vermutete. Mendrick blickte mich ratlos an und ich sah ebenso ratlos zu ihm zurück. "Ich verstehe nicht ganz", sagte Yuri plötzlich, "denkt ihr etwa, dass ich dieser Krieger, dieser Auserwählte bin?" Mendrick musterte die Kette mit der Wolfskralle, die Yuri um den Hals trug. "Wir waren uns nicht sicher", gestand er, "aber als Pauline erzählte, dass du vorher aus dem Königsschloss ausgebrochen bist..." Yuri legte die Stirn in Falten. "Ich erinnere mich aber nicht daran, dass ich..." - "Yuri, du bist nicht irgendein Wolfskrieger, verstehst du?", warf ich ein. "Den Erzählungen nach bist du der einzige des Landes, der Fähigkeiten zur Transformation besitzt! Genau deshalb hat dich die Kalte Hexe ja auch gefangen gehalten. Somit bist du der einzige, der überhaupt noch als Auserwählter in Frage kommt." Ich senkte traurig die Stimme. "Alle anderen sind bereits tot." Meine aufkommenden Tränen bewegten Yuri, dass er auch einige wenige fallen ließ. Die meisten hatte er aber sicherlich schon verweint. "Bei einer Transformation werden spezielle magische Energien freigesetzt, die den Morph dazu befähigen, außergewöhnliche Dinge zu tun", lenkte Mendrick vom Thema ab, "so wie auch du offensichtlich außergewöhnliche Dinge tun kannst, Yuri." Yuri sah ihn verwundert an. "Außergewöhnliche Dinge?" - "Wie sonst konntest du ohne Hilfe aus dem Schlosskerker entkommen?", gab Mendrick zu bedenken. Ich räusperte mich. "Vielleicht hatte Yuri einfach nur Glück." - "Einfach nur Glück? Nein, Pauline, das hatte er nicht. Er ist der legendäre Wolfskrieger, den Nagi Tanka in seiner Vision gesehen hat. Umsonst wird ihn die Schneekönigin ja nicht gefangen gehalten haben." Yuri schlug die Augen nieder. "Aber ich kann's nicht." Mendrick starrte ihn entgeistert an. "Was sagst du da?" - "Das Transformieren. Ich kann es nicht." - "Du redest Unsinn! Hast du Fieber?" - "Wenn ich es sage", beharrte Yuri. "Ich kann nicht transformieren." - "Yuri...!" - "Ich meine es ernst." - "Warum hat dich die Kalte Hexe dann jahrelang eingesperrt?" - "Um meine Transformationskräfte zu bestätigen und sich endlich in Sicherheit zu wissen, den Richtigen gefunden zu haben. So wie ihr. Aber ich sage euch: Ich kann es nicht. Ihr habt den falschen." Mendrick hielt verdutzt inne. "Und die Wanderzauberer, die dich damals als Kind gefunden und bezeugt haben, dich transformieren gesehen zu haben?" Yuri zog die Knie ans Brustbein und umschlang sie mit beiden Armen. "Das ist zu lange her. Ich erinnere mich nicht." Mendrick kickte einen Stein gegen die Höhlenwand. "Das darf doch wohl nicht wahr sein", bellte er, "woran erinnerst du dich eigentlich?" - "Beruhige dich, Mendrick", beschwichtigte ich, als ich mich ebenfalls erhob, "ich glaube, Yuri ist einfach noch zu schwach und zu verwirrt! Vergiss nicht, er war bewusstlos, als ich ihn gefunden habe! Es ist alles einfach zu viel für ihn, nicht wahr, Yuri?" Yuri sagte nichts. "Und was machen wir jetzt mit ihm?", brummte Mendrick. "Na, ihn mitnehmen", sagte ich, "oder willst du ihn hier alleine zurücklassen, ausgehungert, durchfroren und verletzt? Also ich nicht." Jetzt öffnete Yuri den Mund. "Danke", sagte er leise. Ich nickte ihm zu. Wir dämpften das Feuer aus und verließen die Höhle.

Draußen tobte immer noch der Wind, aber es hatte zu regnen aufgehört. Mendrick trug Yuri, den nach einigen Schritten die Kräfte verlassen hatten, in seinen Armen. Wir stapften durch den mit Eiskristallen übersäten Wald. Aus den mit Eisreif bedeckten Baumkronen rief eine Schneeeule, deren Anblick in gleichem Maße schön wie schaurig war, erinnerte er doch an das Zeitalter des Frostes und der Dunkelheit, das die Schneekönigin über uns gebracht hatte. Mir war kalt, aber ich fror nicht. Die Kälte hatte mir als Kind schon nicht viel ausgemacht. Mendrick hingegen bibberte am ganzen Körper und von seiner spitzen Nase rollten unaufhörlich kleine Tropfen hinab in den Schnee. "Hörst du das?", schniefte er plötzlich und blieb stehen. Ich hielt inne. "Was?" Es war schwer, durch die kälteresistenten, riesigen Blätter der Schmetterlingsbäume hindurchzusehen. Dann vernahm ich sie auch: Ihre Stimmen. Ihr Schwertklappern. Der unverwechselbare Klang der Stollen an den Hufen ihrer Pferde, die dem teils eisigen, teils schneebedeckten Waldboden trotzten. "Modorok-Soldaten", stieß ich hervor. "Großartig", knurrte Mendrick. Sie kamen zu fünft. Die Modoroks, Soldaten der Schneekönigin, trugen wie üblich ihre wärmenden Rüstungen aus den Stoßzähnen und Häuten der Ebenholz-Elefanten, Rot und Schwarz schimmernd, ebenso das Geschirr ihrer rabenschwarzen Pferde, deren Geruch an Schwefel erinnerte. "Wer bist du und wen trägst du da?", fragte einer der Modoroks, als sie uns bemerkten und vor uns Halt machten. Sein schwarzes Ross blähte drohend die Nüstern, als Mendrick einen Schritt nach vorne tat. "Ich bin Zauberer aus Abeytu", sagte Mendrick. Gegen das Zaubervolk hatten die Kalte Hexe und ihre Verbündeten nichts einzuwenden, zählte es ja offiziell zu ihren Befürwortern. Inoffiziell sah die Sache wohl etwas anders aus, zumindest, wenn man von Zauberern wie meinem guten Freund Mendrick sprach. "Wir haben den Knaben am Waldboden kauernd gefunden", fuhr Mendrick fort, "er war durchnässt und halb erfroren. Wir wollten ihn nicht zurücklassen." - "Zeig mir sein Gesicht." Aus irgendeinem Grund wollte ich vermeiden, dass sie Yuris Kratzer sahen. Also strich ich ihm rasch die langen Haare in die Stirn und über die Wange, als ich seinen Kopf anhob. Dem Modorok genügte der kurze Blick in Yuris halb verdecktes Gesicht. Jetzt hatte er nämlich mich im Visier. "Was ist mit der hübschen Kleinen?", fragte er spitz und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. "Sie gehört zu mir", sagte Mendrick streng und stellte sich dicht neben mich. "Schon gut", entgegnete der Modorok amüsiert, "für Liebesspielchen haben wir ohnehin keine Zeit. Außerdem ist die da erst mehr Mädchen als Frau." Er gab den anderen ein Zeichen und sie setzten ihren Weg fort. Zurück ließen sie uns und den widerlichen Gestank ihrer Rösser.

Wir erreichten das Fischerdorf des Abends.

Die vertraute Umgebung gab mir ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, als wir durch das mit Holzpfählen markierte Eingangstor traten. Links und rechts zogen sich zwei Reihen Rundhütten auf, aus Stein, Lehm und Reisig gebaut, die zu einem Kreis zusammenliefen. In der Mitte dieses Kreises befand sich unsere gemeinschaftliche Feuerstelle, die aber nur sehr selten benutzt wurde, um keine ungebeteten Besucher wie Modoroks anzulocken. Ganz am Ende des Dorfes, hinter der großen, turmartigen Herrenhütte, die einst meinem Großvater Nathaniel als Medizinmann-Haus diente und nun als Gemeinschaftsraum genutzt wurde, befanden sich unsere kleine Schmiede und die Stallungen, die sich im Laufe der letzten Jahre über verkleinert hatten. Viele unserer Tiere konnten auf Grund des Mangels an Nahrung nicht mehr angemessen gefüttert werden. Außer ein paar wenige Ziegen, Schafe und Hühner war traurigerweise nichts übrig geblieben.

Es war ruhig im Dorf. Nur Chitto, unser Dorfhund, hob witternd den gescheckten Kopf und bellte alarmierend, als wir näher kamen. Er erkannte mich an meinen Schritten und ließ sogleich den Kopf zurück auf seine Vorderpfoten sinken. Meine Großmutter war vom Bellen des Hundes aufmerksam geworden und hatte die Türe ihrer Hütte einen Spalt geöffnet. "Pauline?" Ich lief auf sie zu. "Ja, ich bin es! Mir geht es gut, Kimama!" Ich warf mich ihr um den Hals und atmete den Geruch ihres langen, weißen Haares ein. Sie duftete wie üblich nach den Zimt-Räucherstäbchen, die sie stets anzündete, um unsere Hütte zu einem einladenden, süßen Ort zu machen. "Du bist eiskalt, mein Liebstes! Mendrick, mein Junge, du siehst auch ganz durchgefroren aus…! Wen habt ihr da mitgebracht? Ist er das? Ist das der Knabe, auf den wir so lange gewartet haben? Na, kommt erstmal rein." Sie verriegelte die Tür hinter uns.

Kimama hatte Yuri in die dickste Schafswolldecke gewickelt, die wir hatten, und ihn auf unser Schlaflager aus Daunen und Stroh gebettet. Er schlief. Manchmal öffnete er seine Augen, ganz kurz, und sackte dann wieder benommen in sich zusammen. Kimama setzte über unserer kleinen Feuerstelle Teewasser auf. "Er sieht ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt habe", bemerkte sie, während das Wasser kochte, "ich habe mir den legendären Wolfskrieger, von dem die Prophezeiung spricht, um ehrlich zu sein als viel stärker und größer erhofft." - "Nun", sagte Mendrick dumpf, "er ist ja vielleicht auch nicht der legendäre Wolfskrieger." Er tauschte mit mir die Blicke aus. "Ist er nicht?", fragte Kimama überrascht. "Das verstehe ich nicht, Kinder. Ihr wart die letzten Nächte ununterbrochen unterwegs, um den Auserwählten zu finden, und kommt wieder mit einem Jungen, von dem ihr sagt, er sei nun doch nicht der Richtige…?" - "So ist es leider, Kimama", antwortete Mendrick und seufzte tief, "dabei hätte alles so schön gepasst. Er ist ein Wolfskrieger aus den Lequoiawäldern, er ist ungefähr siebzehn Jahre alt…" - "Noch ist nicht aller Tage Abend, Mendrick", unterbrach ich ihn, "Yuri sagt zwar, er könne nicht transformieren, was natürlich dem, was Nagi Tanka prophezeit hat, entgegen spricht, aber vermutlich kann er sich durch seine Unterkühlung oder seinen Schock einfach

nicht mehr daran erinnern. Wer weiß, womöglich ist er sogar gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen." - "Naja", meinte Mendrick, "so schwer gestürzt kann er nicht sein. Außer den Kratzer im Gesicht hat er ja nichts. Und wie er zum Schluss geredet hat, hat er dann eigentlich doch einen eher normalen Eindruck gemacht. So, als ob er wüsste, was er sagt. Vielleicht hat er tatsächlich keine magischen Kräfte. Es ist mir dennoch ein Rätsel, wie er aus dem Schloss entkommen konnte." Kimama servierte uns heißen Ingwertee. "Nun, möglicherweise hat Pauline recht und der Junge weiß einfach nicht mehr, dass er transformieren kann", überlegte sie, "er sieht sehr benommen und geschwächt aus. Gebt ihm ein paar Tage Zeit, um sich zu erholen. Vielleicht kehrt sein Erinnerungsvermögen zurück, wenn er erstmal ordentlich zu Kräften gekommen ist." - "Das hoffe ich doch", brummte Mendrick, "ich meine, ich will nicht, dass er uns unnötig zur Last fällt. Ich möchte mich nicht mit irgendjemandem aufhalten, den wir eigentlich nicht brauchen." - "Ach, Mendrick." Kimama setzte sich zu uns an den Tisch. "Gibt es Neuigkeiten aus den Kiona-Bergen?", fragte ich sie schließlich. Mein Herz sehnte sich nach einem Ja als Antwort, aber Kimama senkte traurig das Kinn zum Brustbein. "Leider nicht, mein Schatz", sagte sie, "allerdings bin ich mir sicher, dass dein Vater wohlauf ist. Er ist ein mutiger, starker Krieger und wird nichts unversucht lassen, bald zu seiner geliebten Tochter zurückzukehren." Das Wasser schoss mir in die Augen und ich fuhr mir rasch mit dem Handrücken darüber, um die Tränen wegzuwischen. "Na dann", sagte Mendrick, um die Unterhaltung zu unterbrechen. Er trank seinen letzten Schluck Ingwertee aus und erhob sich. "Vielen Dank für die Gastfreundschaft, Kimama", sagte er zu meiner Großmutter, "ich werde nun zu Bett gehen." Er umarmte mich flüchtig. "Gute Nacht, Pauline." - "Gute Nacht, Mendrick." Er verließ unsere Hütte und kehrte stattdessen in die seinige ein. Kimama musterte mich prüfend und zog dann die Augenbrauen hoch. "Du hast ja noch gar nicht von deinem Tee getrunken", sagte sie. "Nein", erwiderte ich knapp, "er ist noch zu heiß. Und ich fühl mich nicht so gut." Kimamas Augen weiteten sich besorgt, also fügte ich schnell hinzu: "Aber ich hab mir die Hände an der Tasse gewärmt. Das hilft." - "Trink doch ein bisschen. Dann wird dir wenigstens warm." Ich nippte an dem Tee. Die scharfe Ingwernote kletterte meinen Hals und Rachen bis in den Magen hinab. "Du solltest dann auch schlafen", riet Kimama, "es waren sehr anstrengende Tage für dich."

Yuri

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