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Obskure Stunden


Die vierte Stunde nach Mitternacht war längst durch, die Morgen­dämmerung kroch unaufhaltsam heran. Doch noch immer mied der Schlaf Toryan wie eine Katze das Flusswasser.

Er wollte nicht in den Krieg. Nicht gegen Wesen, deren bloße Gegenwart ihn in Ohnmacht stürzen konnte. Er war vor allem Grenz­wächter geworden, um die Menschen der Lichtlande zu schützen. Nicht um möglichst viele Nachtkrabbler zu töten, wie einige seiner mit weniger Verstand gesegneten Kameraden an der Grenzmauer.

Nur ging es dummerweise nicht darum, was er wollte oder fühlte. Schöner Schlamassel.

Er gab das Hin- und Hergewälze auf, kleidete sich an und verließ die Akademie. Wenn er irgendwo seine Nerven beruhigen konnte, dann an seinem Lieblingsplatz über den Dächern von Gorvul.

Die Silhouette des Feuersterns glomm wie eine rote Pupille im Auge der Nacht. Die letzten Zecher waren in die Federn gefallen, und die fleißigen Arbeiter drehten sich noch mal auf die Seite, ehe sie sich aufmachten, ihren Beitrag zum Wohl der von Asgreal gesegneten Nation zu leisten. Allein der Wind wisperte sein Wiegenlied durch die schlafenden Straßen.

Toryan ignorierte das Gesäusel, passierte das Rundtheater und erreichte über eine Seitengasse den Weitwolkenpark, der unmittelbar an die Raffinerie mit den Schmelzöfen grenzte – das höchste Gebäude der Stadt nach der Zitadelle. Die alte gusseiserne Laterne stand wie seit Jahr und Tag am Eingang des Parks, genau wie die turmhohe Kiefer.

Toryan nahm Anlauf, sprang und packte den Querbalken der Laterne. Vier, fünf Mal baumelte er daran hin und her, dann katapultiere er sich mit Schwung in die Kiefer. Er bekam einen der dicken Äste zu fassen und zog sich daran hoch. Der Rest war ein Kinderspiel. Er kletterte von einem Ast zum anderen, bis er sich auf Höhe des Gebäudes befand. Noch ein Sprung, und er landete auf dem Dach.

Von hier oben konnte er bis zu den Anlegestellen des Himmelshafens sehen. Der monochrome, hummelartige Leib des größten Luftschiffs blitzte im Zwielicht auf. Das Heck erinnerte an die Flosse eines Fisches, die Spitze, an der die Kanone und die Propeller saßen, an einen Stachel. Oberhalb der Kabinen stießen Rohre Dampf aus, drunter rotierten Kolben, angetrieben von unsichtbaren Mechaniken. Wie alle Luftschiffe musste das Flaggschiff des Purifikanten über Nacht warmlaufen, damit die Besatzung am Morgen damit loskonnte. Der Gedanke, wie es sich in die Lüfte erheben würde, zauberte ein Lächeln auf Toryans Gesicht.

Als Achtjähriger hatte er das erste Mal Luftschiffe den Himmel über dem Bergdorf seiner Heimat durchqueren sehen. Er war hinterhergelaufen, bis sie aus dem Blickfeld verschwanden. Dabei hatte er eine Wurzel übersehen und war so böse gestürzt, dass er sich die Knie blutig schlug. Sein Vater hatte ihm zusätzlich eine verpasst und ihn angeschnauzt, das komme davon, in den Himmel zu starren. Mutter aber hatte die Wunden gereinigt und ihm ins Ohr geflüstert: »Wer die Sterne erreichen will, muss nach ihnen streben. Werd nicht einer von denen, die sich von ein paar Schrammen aufhalten lassen.« Dann hatte sie ihm eine Süßigkeit gegen die Tränen zugesteckt und ihn wieder springen lassen.

Er vermisste sein Zuhause. Ja, er hatte Schafehüten und Ziegentreiben langweilig gefunden. Andererseits war dieses Leben sorglos gewesen. Behütet. Schreckgestalten aus Legenden tauchten dort höchstens in Erzählungen auf, wenn draußen der Sturm um die Dächer strich und man sich vor dem Kamin an einem heißen Getränk festhielt.

Jetzt hätte ich eine schöne Schauergeschichte aus erster Hand parat, dachte Toryan. Wobei daheim eh keiner glauben würde, was er in Dimmgrund erlebt hatte.

Sein Blick wanderte vom Lufthafen gen Osten, zum Platz der Sieben Söhne. Der Name stammte von den schwarzen Obelisken, die dort im Halbkreis aufgepflanzt waren, die Spitzen einander zugeneigt wie die Häupter alter Männer, die sich dunkle Geheimnisse zuflüsterten.

Die Bürger schlugen einen Bogen um die Sieben Söhne wie Wasser, das eine Klippe umfließt. Es hieß, dieser Ort sei einst eine Opferstätte gewesen. Genau wusste das niemand – die meisten Chroniken Gorvuls waren im Zuge der Entnachtung den Flammen übergeben worden.

Eine Brise strich über Toryans Gesicht und erstarb.

Aus dem Schatten der Obelisken trat der Engel Bahrakel.

Er war feingliedrig und muskulös, mit solch makellosen Zügen, als hätte ein Meistersteinmetz sie aus Alabaster gehauen. Ein Weißgoldreif hielt das lange weiße Haar aus dem Gesicht, ein Diamantgürtel das schlichte Gewand zusammen. Daran hing eine beidseitig geschliffene Klinge – das Richtschwert des Lichts.

Der Seraph entfaltete die Schwingen. Toryan war, als blickte er in den Sonnenaufgang. Schreck nahm Ehrfurcht Huckepack und sprang ihm mit voller Wucht ins Kreuz. Der Distanz zum Trotz fiel er auf die Knie.

Bahrakel legte das Haupt in den Nacken und schwang sich mit einer Grazie in die Luft, neben der jeder Adlerflug plump gewirkt hätte. Im Zentrum, wo sich die Steine fast berührten, verharrte er und stieß einen Ruf in einer Sprache aus, die Toryan nicht verstand.

Die Spitzen der Obelisken glommen in dunklem Feuer. Etwas löste sich aus ihnen, ähnlich einem Regenschleier, nur rostrot. Das Gespinst verdichtete sich zu einer Wolke, die Bahrakel bis auf die Schwingen umhüllte, mit … ja, mit was?

Der Wolkenkokon zitterte, als der Engel wonnig erschauderte. Es war faszinierend und wunderschön – und falsch, auf eine Weise, die Toryan nicht in Worte fassen konnte. Er wusste, er sollte das nicht sehen. Eine urtümliche Angst kroch ihm durch die Glieder, lähmte ihn.

Das Geläut der Tempelglocken riss ihn aus der Starre. Er sprang vom Dach, kletterte die Kiefer hinab und rannte zurück zur Akademie, als wären ihm alle Widerborste der Altnacht auf den Fersen.


Der Aufbruch des Purifikanten und seines Gefolges zum Konklave lockte trotz der frühen Morgenstunde Gorvuls Volk auf die Straßen, Balkone und an Fenster. Rufe mischten sich mit Musik, von den Marktständen wehte der Duft von Tee, Gebäck und Obst.

Toryan ritt in der zweihundertköpfigen Eskorte neben General Nobu, vor den Kolbenwaggons mit den Vorräten und hinter Damians dampfbetriebener Goldkutsche. Er war davon ausgegangen, dass der Purifikant und die Paladine mit dem größten Luftschiff der Flotte nach Blauried fahren würden. Doch zu seinem Erstaunen wurde dies offenbar benötigt, um eine nichtmenschliche Fracht zu Kardinal Tadeean zu transportieren. Was mochte das sein? Nicht einmal General Nobu wusste es.

Andererseits, manchmal ist Unwissenheit ein Segen, dachte Toryan. Ich für meinen Teil hätte sicher besser geschlafen, wenn ich nicht wüsste, welche Gefahr uns droht.

Er rutschte im Sattel herum und unterdrückte ein Stöhnen, als er daran dachte, wie sich sein Hintern am Ende der Reise anfühlen würde. Hätten die Engel nicht auch dafür eine Lösung erfinden können? Luftkissen zum Beispiel?

Wie das Zeremoniell es verlangte, hielt die Prozession auf Höhe des Stadttores an. Damian stieg aus der Kutsche.

»Segen sei mit dem Obersten Adepten«, intonierte er durch ein Schallrohr, das seine Stimme über weite Distanzen trug. »Wird er als Statthalter treu über Asgreals Herde wachen?«

Holmar, der im Amtsgewand auf einem Podest neben dem Tor gewartet hatte, räusperte sich und griff seinerseits zum Schallrohr, das ein Novize ihm reichte. »Meine Augen werden für ihn wachen«, verkündete er. »Mein Mund wird die Lehre in seinem Sinne verkünden. Meine Ohren werden die Nöte seiner Gläubigen hören, meine Nase den heiligen Rauch atmen, meine Hände in seinem Namen Wohltat und Milde spenden.« Er spreizte die Finger zum Zeichen des Lichts. »Der Segen Asgreals, Preis sei seinem Namen, sei mit Euch auf Eurer Reise.«

»Sein Segen sei mit Euch«, jubelte das Volk.

Hydraulikaggregate rumpelten, das Stadttor öffnete sich. Dampf zischte, Räder rollten. Dann waren sie hinaus.


Holmar sah dem Tross nach, bis dieser zu Punkten am Horizont verschwamm. Er hoffte inständig, dass Toryan sich unterwegs nicht zu neuen Leichtsinnigkeiten hinreißen ließ. Würde ihm ähnlich sehen. Schon damals in der Akademie hatte er allzu gern die Küchenmägde erschreckt oder Pfeffer in den Waffenrock des Ausbilders gerieben. Nur würde er diesmal für solche Scherze nicht mit Stubenarrest bestraft werden. Diesmal würden sie ihn seinen Kopf kosten.

Ohne recht zu wissen weshalb, nahm Holmar seinen Rundhut ab und hielt ihn sich vor die Brust. Das Gefühl übermannte ihn, dass er seinen Freund in diesem Leben nicht wiedersehen würde.

Er schüttelte den Gedanken als dumme Dusselei ab.

Toryan die Tatze kann schon auf sich aufpassen, rief er sich vor Augen. Und überhaupt gibt es keinen Grund zur Sorge. Schließlich zieht er mit Seiner Exzellenz Damian, General Nobu – und dem Segen des Lichts.

Schwingenfall

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