Читать книгу Schwingenfall - Simon Denninger - Страница 20
Spione auf Gut Eulenstein
ОглавлениеEs passierte am Frühabend des Folgetages, als Minn die Eibenhecke schnitt.
Davon abgesehen, dass Hände, Hemd und Hosen vom Pflanzensaft klebten – und dass es sie vom Konklave fernhielt –, mochte sie diese Arbeit. Da konnten die Gedanken so schön wandern. Zu Toryan, zum Beispiel. Wie zärtlich sich seine starken Hände auf ihrer Haut angefühlt hatten. Wie er die Innenseite ihrer Schenkel geküsst hatte, quälend langsam nach oben gewandert war und …
»Autsch, verdammt.« Das hatte sie nun von der Tagträumerei. Sie war mit der Schere abgerutscht und hatte sich in den Zeigefinger der freien Hand geschnitten. Keine tiefe Wunde, aber tief genug, dass es brannte und ein Rinnsal Blut aus der Kuppe floss. Minn saugte es weg. Ihr Finger verharrte auf dem Weg aus dem Mund.
Etwas in ihr erwachte.
Der Rest der Welt verdunkelte sich. Der herbe Geruch der Pflanzen, die Wärme der Sonne auf ihrer Haut, alles rückte hinter einen Schleier. Es gab nur noch den roten Stern und die purpurnen Blutschlieren, frisch und warm und lockend.
Eine Hand rüttelte an ihrer Schulter und riss sie zurück in die Wirklichkeit. »Feierabend ist, wenn die Tempelglocken schlagen, junge Dame«, sagte Ryna streng. »Die Beete da hinten sind …« Sie stockte und erblasste, als sie das Blut und Minns Gesichtsausdruck sah. Ohne Umschweife schnitt Ryna sich mit der Heckenschere einen Stoffstreifen aus dem Gewandsaum, packte Minns Hand, schlang den Streifen um den Finger und zurrte ihn fest. Es pochte dumpf, doch Minn sah kein Blut mehr. Ihr Blick klärte sich, und zurück blieb einzig ein fernes Hämmern im Hinterkopf, wie damals, als sie zu viel von Armengals Likör stibitzt hatte.
»Worauf wartest du?«, fragte Ryna, wieder ganz die brüske Matrone. »Das Beet jätet sich nicht von selbst.«
Minn legte die Heckenschere weg, schnappte sich eine Harke und begann, die Erde vor den Sträuchern zu malträtieren. Hauptsache, dieses Gefühl ging weg, dieser erstickende, verlockende, schwindelerregende Sog. »Ich harke, ich harke, ich harke das Beet, ich harke, ich harke, von früh bis spät«, trällerte sie vor sich hin, wieder und wieder, um alle Gedanken zu vertreiben. Es gelang ihr so gut, dass sie glatt das Abendläuten überhörte. Erst als Schussel-Ann ihr die Harke förmlich aus der Hand riss, hielt sie inne.
»Hör mit dem Geleier auf, Minn«, schimpfte Ann. »Du klingst furchtbar. Und vor allem, hör auf zu arbeiten. Es dämmert schon.«
Tatsächlich. Die ersten Sterne funkelten am Firmament, Stecknadelköpfe in einem Ozean aus Tinte. Erfreut und ein wenig verblüfft klopfte Minn sich die Erde von Händen und Hose. Zwar gab es eine Wasserpumpe neben dem Schuppen für die Gartengeräte, doch aus einer Laune heraus beschloss sie, sich am Seerosenteich den Dreck vom Gesicht zu waschen – und sei es nur, damit Ann sie nicht ausfragte, warum Minn heute Abend keine Zeit für sie hatte. Sie schnappte sich ihren Umhang und wünschte der verdutzten Freundin einen schönen Abend.
Der Teich lag im hinteren Gartenteil des Herrenhauses. Als Minn das schmiedeeiserne Gittertor öffnete, kreischte es wie eine aus dem Schlaf gerissene Fledermaus. Zum Glück befand sich weit und breit niemand, der es hätte hören können.
Eine Gruppe Schwarzfichten umstand das Gewässer, es roch nach Nadeln und feuchter Erde. Minn ließ sich am Steinrand nieder und blickte in das sternenbeschienene Wasser. Der Teich reflektierte ihr Spiegelbild – ein Mädchen an der Schwelle zur Frau, mit vollen Lippen, Apfelbäckchen, Stupsnase und Mandelaugen, wegen der die anderen Kinder sie früher Nussgesicht genannt hatten. Mutter hatte dieselben Augen gehabt.
Das Antlitz im Teich sah sorglos aus. Wie wenig ein Spiegelbild doch über eine Person verriet. Minn spritzte sich Wasser über die Arme, und die Spiegelung verschwamm. Sie hatte keine Lust, schwermütigen Gedanken nachzuhängen. Bald würde sie wieder in Toryans Armen liegen, und die Welt mochte draußen ihren Gang nehmen.
Stimmen drangen durch die Abendluft. Natürlich. Das Konklave fand bestimmt in Armengals Salon statt. Was die wohl redeten? Nun, das Salonfenster lag Richtung Teich.
Minn rieb sich das Kinn. Wenn sie beim Lauschen erwischt würde, mochte sie das in ernste Schwierigkeiten bringen. Andererseits, die Wachen standen vor der Tür im Haus. Außerdem hatte Minn eine bessere Nachtsicht und ein schärferes Gehör als jeder andere auf Gut Eulenstein, was ihr schon auf so manchem Streifzug durch die Vorratskeller zugutegekommen war. Sie würde es merken, wenn jemand sich näherte.
Die Neugier siegte. Auf Händen und Knien pirschte sie sich ans Herrenhaus heran, wobei ihr entgegenkam, dass das Gras in diesem Teil des Gartens hoch stand und die Tannen Schatten bis zur Hauswand warfen.
Die Erde krümelte unter ihren Fingern, der Mauerstein roch modrig. Von einem Erker starrte ein Wasserspeier mit obszön langer Zunge missbilligend auf sie herab. Minn streckte ihm ihrerseits die Zunge heraus, kauerte sich unterhalb des Fensters hin und spähte ins Innere. Unzählige Kerzen in Silberständern sowie mit Kraftsteinen betriebene Lampen erleuchteten den Raum taghell.
Das Essen war schon vorbei. Trotzdem quoll die Tafel noch über vor Karaffen voller Likör, Wein und Säfte. Körbe mit knusprigem Brot und Schüsseln mit Gemüse drängten sich neben Porzellangeschirr, auf dem sich Pasteten stapelten, Kristallschalen voll Obst wetteiferten mit Türmen aus Pralinen um die Gunst der Gäste. Beinahe wäre Minn ein sehnsüchtiges »Mjamm« entfleucht.
Toryan war nicht zu sehen. Dafür saß das Oberhaupt des Klerus, der Purifikant Damian, in einem der Ohrensessel vor dem Kamin. Ihm gegenüber nippte eine mittelgroße, schlanke Frau, die Minn nicht kannte, an einem Kelch Wein. Ihr kurz geschnittenes, dichtes schwarzes Haar reichte nach Art der freiholtschen Krieger nur bis über die Ohren. Stand ihr gut. Die wachen Augen strahlten Ruhe und Aufmerksamkeit aus, und ihren Bewegungen wohnte eine Geschmeidigkeit inne, wie Minn sie von den Veteranen Gut Eulensteins kannte. Das musste die Ratsherrin Shanesa sein. Neben ihr, in Hemd und dunkle Hosen gekleidet, lehnte Rojin mit überkreuzten Füßen und einer Schale voll Sahnepudding am Rand des Kamins.
Der stämmige Hausherr Armengal trug weiße Hosen sowie ein Hemd vom Rot einer frischen Schweineleber. Breitbeinig stocherte er mit einem Schürhaken in den Flammen, wobei er Minn die Kehrseite zuwendete. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie es wäre, ihm jetzt einen Tritt in den Schwabbelhintern zu verpassen.
Als hätte sie den Gedanken laut ausgesprochen, trat Armengal vom Kamin weg und klopfte mit einem Löffel gegen ein Kristallglas. »Meine Dame, meine Herren«, verkündete er, »wir können nicht länger auf Kardinal Tadeeans Eintreffen warten. Das Licht gebe, dass ihm nichts zugestoßen ist. Für uns gilt es zu entscheiden, wie wir der Bedrohung durch die Altnacht begegnen wollen. Wenn es stimmt, was der junge Grenzwächter sagte, stehen wir unmittelbar vor einem Krieg.«
Toryan war also bereits gehört worden. Kurz überlegte Minn, sich zurückzuziehen und zu ihm zu gehen. Andererseits, was würde er für Augen machen, wenn sie ihm erzählen konnte, was im Konklave besprochen worden war.
»General Nobu vertraut ihm.« Damian ließ den Wein in seinem Kelch kreisen. Der Flammenschein spiegelte sich im Rubin seines Siegelrings wider. »Ich bin mir nicht sicher. So oder so, die Zeichen sind eindeutig. Das Erscheinen des Feuersterns, der Mord am Wächterengel …«
»Nicht zu vergessen der heimliche Grenzübertritt in Freiholt«, ergänzte Ratsherrin Shanesa. »Die Blutfürsten müssen entweder sehr verzweifelt oder sehr zuversichtlich sein, unser beider Reiche herauszufordern.«
»In der Tat.« Rojin kniff die Augen zusammen und blickte zum Fenster. Hatte er Minn etwa bemerkt? Nein, er stellte die Schale ab und fuhr fort. »Die Frage ist, weiß jemand mehr über diese Dämmergeborene?«
»Sie ist nichts als eine Legende.« Armengal fläzte sich in einen Sessel und machte eine wegwerfende Geste.
»Die Blutfürsten glauben offenbar, dass mehr dahintersteckt«, sagte Shanesa. »Immerhin sind sie bereit, wegen dieser ›Legende‹ einen Krieg vom Zaun zu brechen. Es gibt nicht zufällig etwas, was der Klerus verschweigt?«
Minn konnte ihr Glück kaum fassen. Hier war etwas wahrhaft Großes im Gange, und sie wollte vom Donnerkeil geküsst sein, wenn sie nicht rausfand, was.
»Spart Euch Eure Verschwörungstheorien für Euren Ratssaal auf.« Armengal tippte die Fingerspitzen aneinander. »Wir sind hier, um ein Bündnis zu schmieden.«
Rojin setzte sich in den Sessel neben ihm, stützte den Ellbogen auf die Lehne und das Kinn in die Handfläche. »Sollten Verbündete einander nicht vertrauen?«
Armengal betrachtete ihn wie ein Stück Obst, an dem er einen braunen Fleck entdeckt hatte. »Eure mokante Art ist hier fehl am Platz. Wir haben Euch nicht hergebeten, um Fragen zu stellen. Ihr sollt berichten, was im Grenzland vor sich geht, wenn Ihr Euren Sonderstatus als freier Händler behalten wollt. Es heißt, Eure Mutter stammt aus Freiholt, Euer Vater aus Daosams Grenzregion. Da kann man sich schon fragen, wie vertrauenswürdig Ihr überhaupt seid.«
Rojins Lächeln schwand. Auf seiner Stirn begann eine Ader zu pochen. »Ihr mögt von mir als Mann des Wortes und Handels gehört haben. Aber droht mir noch mal, und Ihr lernt, dass mir das Schwert so vertraut ist wie die Feder. Ihr seid nicht die Einzigen, denen ich nutzen kann.«
Der Kardinal stierte ihn an. »Was hat von Euch Besitz ergriffen?«
»Der Zorn des Gerechten.« Trotz der feurigen Worte fiel Minn auf, dass Rojins Augen zufrieden blitzten, was Armengal jedoch nicht bemerkte. Hatte der Freischärler ihn etwa mit Absicht aus der Fassung bringen wollen?
Der Purifikant hob begütigend die Hände. »Meine Herren, Streit hilft keinem weiter. Außer den Mächten, die abzuwehren unser aller Wunsch ist. Ich bin sicher, niemand stellt Meister Rojins Loyalität infrage.«
Unvermittelt kroch Gänsehaut über Minns Nacken. Ihr war, als werde sie beobachtet. Sie sah sich um – nichts. Klar. Wer außer ihr sollte sich hier herumtreiben?
Sie konzentrierte sich wieder auf die Gespräche im Salon.
»Am Ende zählt, dass wir den Vormarsch der Altnacht aufhalten«, polterte Armengal. »Die Sicherheit Freiholts wird auch in Daosam verteidigt.«
Shanesa verschränkte die Finger ineinander. »Mich müsst Ihr nicht überzeugen. Ich werde dem Rat empfehlen, dass unsere Armee an der Seite des Klerus kämpft.«
»Vielleicht muss sie das gar nicht.« Rojin hob beide Hände. »Ich verstehe Euer aller Sorge. Dennoch sollte Krieg das äußerste Mittel sein. Die andere Seite hat ebenso Leben zu verlieren. Ich bin sicher, niemand geht gern in den Tod.«
»Sollen wir etwa warten, bis sie die Grenze überschreiten?«, unterbrach Armengal. »Ist das Euer Rat?«
»Lasst mich ausreden. Mein Rat wäre, zu verhandeln.«
Damian zupfte an seiner Stola. »Was der Altnacht anheimgefallen ist, kann nicht befriedet werden. Der Gefallene und alle, die ihm folgen, sind vereint im Hass auf das Licht.«
»Man könnte meinen, Ihr wollt nicht, dass ich und Ratsherrin Shanesa mehr von dieser Legende über die Dämmergeborene erfahren«, versetzte Rojin bedächtig.
Armengal lief puterrot an. »Impertinenter Kerl. Fangt Ihr schon wieder damit an?«
Etwas huschte ganz in Minns Nähe vorbei. Mit einer Hand tastete sie nach ihrem Messer. Mit der anderen riss sie ein Büschel Gras beiseite. Dahinter war … mehr Gras. Kopfschüttelnd stieß sie den Atem aus.
Weshalb bitte gefror der vor ihrem Mund zu einem Wölkchen?
Ein Schemen im Kapuzenmantel sprang Minn vom Dacherker an. Sie schlug hart auf dem Boden auf. Eine Hand legte sich über ihren Mund, die andere presste ihre Handgelenke zusammen. Wo der Angreifer Minn berührte, wich sämtliche Wärme aus ihr. Sie verlagerte das Gewicht und rammte das linke Knie in die Seite des Unbekannten. Der grunzte, wich aber nicht, sondern machte sich noch schwerer. Dabei verrutschte die Kapuze.
Minn starrte ins blasse Antlitz einer Schönheit mit glühenden Augen und einem sinnlichen Mund, hinter dem Fangzähne schimmerten. Eine Blutfürstin!
Erneut stieß Minn mit dem Knie zu. Die Kreatur drückte ihr die Hüfte gegen den Oberschenkel und der Stoß verlor alle Kraft. Trotz der Verbissenheit des Kampfes bemühten sich beide, möglichst leise zu sein.
Die Kälte betäubte Minn. Verzweifelt versuchte sie, ihre Gegnerin abzuschütteln. So filigran diese wirken mochte, ihre Kraft war übermenschlich. Selbst mit einer Hand hielt sie Minn so leicht unter Kontrolle, wie eine Katze eine Maus zu Boden drückt.
Tötet sie mich deshalb nicht?, schoss es Minn durch den Kopf. Will sie mit mir spielen?
Der Gedanke ließ eine Stinkwut in ihr aufsteigen. Sie erschlaffte für einen Atemzug, um die Blutsaugerin eine Handbreit näher an sich ranzulassen, damit sie einen Armhebel ansetzen konnte.
Das Miststück durchschaute den Trick.
Als Minn sich eindrehte, raste die freie Faust heran. Es war, als träfe ein Klotz aus Eis Minns Schläfe.
Dann – Dunkelheit.