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Die Zitadelle von Gorvul

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Bis obenhin vollgestopft mit Gemüsesuppe und Hühnchen verließ Toryan die Wächterakademie. Die Luft schmeckte frisch, und der Duft der Maulbeerbäume brachte die Erinnerung an manche Frei­stunde zurück, die er hier mit seinem besten Freund Holmar verbracht hatte. Wie es dem Bücherwurm wohl ergangen war, nachdem er die Akademie zugunsten einer klerikalen Ausbildung verlassen hatte?

Eine Brise strich durch die Wipfel, Laub regnete herab. Toryan wuschelte sich die Blätter aus den Haaren und biss krachend in den Apfel, den er aus dem Essensquartier mitgenommen hatte. Der süßsaure Saft prickelte auf der Zunge. Was war es herrlich, am Leben zu sein.

Und jetzt auf, Richtung Tempelzitadelle. Das Wissen um die Lehren des Klerus etwas auffrischen.

Toryan nahm eine der Schienensänften, die seit einigen Jahren die wichtigsten Knotenpunkte Gorvuls verbanden und Passagiere mit der Geschwindigkeit einer Kutsche beförderten. Er genoss das monotone Rattern, das Vibrieren der Sitze, den Anblick der vorbeiziehenden Gebäude mit ihren Ziegeln, Spitzbogenfenstern und Gesimsen. Dennoch stieg er ein paar Stationen vor dem Ziel aus. Nach drei verschlafenen Tagen konnte etwas Bewegung nicht schaden.

Die Zitadelle war in Form eines fünfzackigen Sterns erbaut und weithin sichtbar. Auf vier Ecktürmen thronten Engelsstatuen, vom fünften baumelten Käfige an einer vorspringenden Stange. Im Moment knarzten sie leer an ihren Stahlketten, doch gelegentlich trug der Richterengel Bahrakel Gefangene dort hinauf. Die Kleriker priesen es als Fortschritt, dass es keine Kerker unter der Erde mehr gab wie in den dunklen Tagen vor der Ankunft des Lichtbringers. Sie sagten, die Bestrafung von Sünden solle für jedermann sichtbar sein. Toryan hatte da so seine Zweifel. Aber die behielt er für sich.

Glücklicherweise kam es selten vor, dass dort oben Gefangene vor sich hin vegetierten. Verbrechen waren selbst in großen Städten wie Gorvul die Ausnahme geworden. Ob es an der allgemeinen Zufriedenheit des Volkes oder der Wacht der Engel lag, konnte Toryan nicht beurteilen.

Glocken schlugen zur nahenden Andacht. Im Strom Hunderter Tempelgänger passierte er das Tor und folgte der von Eichen gesäumten Allee Richtung Heiligtum. Die Spätnachmittagssonne warf flirrende Lichtstreifen auf den Boden. Sie sahen aus wie Brücken in den Himmel.

Die Allee endete an einem Halbrund zu Füßen breiter Stufen. Links und rechts gingen Wege ins Zentrum der Zitadelle ab, die dem Klerus und dem örtlichen Gesinde vorbehalten waren. Toryan nahm mit den anderen Gläubigen die Treppe in den Tempel. Die Gravuren über dem halbrunden Portal zeigten ein Licht, das sich beschützt von fünf Engeln aus den Wolken senkte: Szenen der Ankunft Asgreals, der als Stellvertreter Gottes nach Yrdaia hinabgestiegen war, kurz nach dem verheerenden Kataklysmus, der den Südkontinent und alles Leben darauf unter Lava und Wassermassen begraben hatte. In jener ins Chaos gestürzten Welt hatten Asgreals Engel eine neue Ordnung geschaffen. Und sie hatten geholfen, die Kreaturen der Altnacht in die finsteren Lande des Nordens zu verbannen, und somit die Menschen endgültig vom Joch der Blutfürsten befreit. Toryan mochte nicht der Frömmste sein, doch diese Freiheit verteidigte er als Grenzwächter mit Stolz.

Er betrat das Hauptschiff des Tempels. Durch Kristallbogen­fenster fiel Licht auf die Bankreihen, die von Marmorpfeilern gestützte Decke verlor sich hoch über den Köpfen in diffusem Dunkel. Zur Linken befand sich die Nachtigallenhöh, eine Plattform, auf der ein Chor ätherische Gesänge nach Noten der Engel intonierte. Die Musik sandte Toryan wohlige Schauder über den Rücken.

Eine Wendeltreppe führte zur Kanzel, von wo der Purifikant Damian wohlwollend auf den Strom der Gläubigen herabblickte. Sein graues Haar wallte bis zum Kinn eines Gesichtes, das eine Spur zu scharf geschnitten war, um gut aussehend zu sein. Ein sorgsam rasierter Kinnbart rahmte die dünnen Lippen und ein mit Gold­quasten verzierter Gürtel hielt die Purpurrobe über seinem asketischen Leib zusammen.

Toryan quetschte sich auf einen der letzten freien Sitzplätze, zwischen ein zahnloses Hutzelweib und einen hünenhaften Glatzkopf, der das Wams eines Fischkahnfahrers trug – und leider auch so roch.

Der Chor schraubte seine Lobpreisung zu einem finalen Crescendo empor. Alle Blicke richteten sich zur Kanzel. Damian kostete die Aufmerksamkeit einige Atemzüge lang aus, ehe er zu sprechen begann. Trichter an den Wänden trugen seine Worte bis zu den Gläubigen in den hintersten Reihen, obgleich er in der andächtigen Stille selbst ohne diese Hilfsmittel zu hören gewesen wäre. »Willkommen, Kinder des Lichts. Preis sei Asgreal.«

»Preis sei Asgreal«, schallte es zurück.

War Toryan anfangs noch ergriffen von der sakralen Aura, fiel ihm schon bald wieder ein, weshalb er den Besuch eines Tempels so lange vermieden hatte. Der Schwall ritueller Segnungen und Lobprei­sungen wusch monoton über ihn hinweg. Er unterdrückte ein Gähnen und wünschte sich zurück ins Freie. Erst bei der Predigt merkte er auf.

»Glücklich sind wir und gesegnet.« Der Purifikant schloss mit einer ausholenden Geste alle Versammelten ein. »Wenn wir morgens aufwachen, fallen uns nicht länger Sorgen an wie hungrige Hunde ein Stück Fleisch. Vielmehr gedeihen Feld und Vieh. Der Handel prosperiert. Der Erfindergeist treibt fantastische Blüten. Maschinen übernehmen die meisten schweren Arbeiten, und viele Gebrechen der Vergangenheit sind verschwunden. So können wir dem Streben nach Glück mehr Zeit widmen als je ein Volk zuvor. Und doch gibt es noch Ungläubige. Verblendete, die sich abwenden vom Licht.« Er spreizte die Finger in einer Geste der Abwehr. »Ich aber sage euch, wankt nicht im Glauben. Frohlocket vielmehr! Der Herbst, der über der Welt hängt, das letzte Vermächtnis der Alten Nacht, wird schon bald weichen. Denn heute verkünde ich euch im Namen Asgreals eine große Freude.«

Ein helles Ping erklang, als werde das oberste Ende einer Saite gezupft. Damians Stimme schwoll so an, dass Toryans Magen vibrierte. »Glaubt, meine Brüder und Schwestern. Glaubt fester denn je. Der Tag ist nah, da Asgreal Gestalt annimmt und sein Sanktum verlässt. Für alle sichtbar wird er über die Welt wandeln und uns seinen Segen schenken.«

Ein Raunen ging durch die Zuhörer. Toryan merkte, dass er vor Erregung zitterte.

Der Purifikant breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen. »Dann bricht für alle Gläubigen ein neues Zeitalter an. Ein ewig währender Frühling, in dem Träume erblühen und Seligkeit sprießt. Doch ihr müsst treu Asgreals Lehre folgen. Sagt, glaubt ihr an ihn?«

»Ja«, schallte es aus den Bankreihen, von den Emporen.

»DIENT IHR IHM?«, schrie Damian, die Augen vor Verzückung verdreht.

»Ja«, jubelten die Zuhörer, und Toryan stellte fest, dass er in den Jubel mit einstimmte.

Das Fenster über der Kanzel flog auf. Licht flutete flüssigem Gold gleich über die Gläubigen, und im Zentrum dieser Aura schwebte der Seraph Bahrakel. Als er zu sprechen begann, war Toryan, als küsste ihn Ekstase mit Lippen aus Honig, der über ihn hinwegfloss und in ihn hinein …

Hinterher konnte er nicht sagen, wie lange die Ansprache gedauert und was genau der Engel verkündet hatte. Doch er fühlte sich wohlig ermüdet, als hätte er nach einem Tag voller Plackerei ein dampfend heißes Bad genommen.

Novizinnen gingen durch die Bänke und reichten den erschöpften Gläubigen mit ätherischen Essenzen getränkte Tücher. Dankbar tupfte er sich damit das Gesicht und hielt das mausgesichtige Mädchen, aus dessen Tuchvorrat er sich bedient hatte, am Arm fest. »Entschuldige. Ich würde den Purifikanten gern in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.«

Sie sah ihn überrascht und ein wenig ungläubig an. »Ich kann keine Audienz bei Seiner Exzellenz veranlassen. Außerdem ist er gleich nach der Predigt zur Armenspeisung aufgebrochen. Wenn Ihr wollt, schicke ich nach dem Obersten Adepten. Vielleicht kann er Euch helfen.«

»Einen Versuch ist’s wert. Danke.«

»Wen darf ich melden?«

»Toryan die Ta… ich meine, Toryan Dymedens.«

»Seht Ihr die Tür mit der eingelegten Goldflamme, dort unter der Kanzel? Wartet im Raum dahinter.« Sie machte sich sanft los, um weiter ihre Tücher zu verteilen.


Die Gläubigen hatten sich so weit gesammelt, um erfüllt von Glückseligkeit ihrer Wege zu gehen. Toryan kämpfte sich gegen den Menschen­strom zum Warteraum vor, den ihm die Novizin gezeigt hatte. Er fühlte ebenso den Nachhall der Freude, die in den Gesichtern der anderen Tempelbesucher stand. Zugleich war da ein schaler Nachgeschmack, wie nach dem Genuss von zu viel Pflaumenwein. Hatte Lurmenor ihn womöglich gebissen? Ihn mit der Saat der Finsternis infiziert? Der Blutfürst mochte während Toryans Bewusstlosigkeit wer weiß was mit ihm angestellt haben. Die Vorstellung sandte Klingen aus Eis durch Toryans Eingeweide. Andererseits, so ein Biss hätte sicher Spuren hinterlassen. Der Gedanke beruhigte ihn etwas, ohne das Unbehagen ganz zu vertreiben.

Im hellen, schlichten Warteraum luden Holzbänke zum Sitzen ein. Aus einem Rohr in der Wand lief Wasser über zwei Steinhände, die sich in einer segnenden Geste über einem Becken ausbreiteten. Toryan trank einen Schluck und betrachtete ein Rollbild an der Wand. Es zeigte fünf blattlose Zweige vor einer Sonneneruption, die rotgolden aus einer Art Tor hervorbrach.

»Interessantes Motiv, nicht wahr? Ich habe mich schon manche Stunde in seiner Betrachtung verloren.«

Toryan fuhr herum – herrje, er war doch sonst nicht so schreckhaft – und sah den Obersten Adepten in der Tür stehen. Der Mann trug das orangerote Gewand eines Geistlichen und hatte den Rundhut seiner Amtswürde tief in die Stirn gezogen. An der Kordel über der Hüfte baumelten ein Tintenfässchen und ein Lederbeutel. Der Bauchansatz und die Pausbacken ließen ihn jovial wirken, doch unter dem Schatten der Hutkrempe blitzten flinke, schlaue Augen. »Toryan die Tatze sucht also den Rat des Klerus.« Der Adept klang amüsiert.

»Ihr kennt meinen Spitznamen?« fragte Toryan überrascht.

»Das will ich meinen. Immerhin haben wir zwei Jahre zusammen in der Wächterakademie verbracht.« Der Adept zog den Hut vom Kopf.

»Was? Das muss … bei Bimbadims Bart, Holmar!«

»Zugegeben, es gibt inzwischen einige Pfund mehr von mir als bei unserer letzten Begegnung.« Der Adept lächelte gutmütig und klopfte sich auf die Hüften. »Aber unter der Verpackung bin ich noch dein alter Zimmergenosse.«

Sie umarmten einander und fassten sich an den Schultern.

»Ich sehe, du hast es weit gebracht«, sagte Toryan anerkennend. »Adept des Purifikanten, Mannomann.«

»Ja, es war eine gute Idee, das Schwerthandwerk gegen geistige Studien einzutauschen. Und du musst dein Licht ebenfalls nicht unter den Scheffel stellen. Ich hörte, du hast die Akademie vor zwei Jahren als Jahrgangsbester abgeschlossen.«

»Wir sind schon ganz schöne Ehrgeizler, was?« Toryan grinste.

»Erwischt.« Holmar grinste zurück. »Aber du bist sicher nicht um der alten Zeiten willen hier. Du brauchst Hilfe?«

»So ist es.« Toryan biss sich auf die Lippen. »Um ehrlich zu sein, hab ich Angst, dass etwas Böses in mir steckt.«

»Na, na. Wer wird denn gleich schwarzmalen.« Holmars Blick huschte durch den Raum. »Wie auch immer, besprechen wir das lieber an einem etwas weniger … sakralen Ort.«

»Was schwebt dir vor?«

»Wie sieht’s aus, Lust auf ein Ingwerbier?«

»Liebend gern. In unserer alten Stammtaverne?«

Holmar schlug ihm auf die Schulter. »Auf in den Fidelen Fassreiter


Sie nahmen die Abkürzung durch den nahe gelegenen Weißblütenpark. Es war jene verzauberte Abendzeit, in der die Sonne die purpurfarbenen Wolken ein letztes Mal liebkost, ehe sie es ihrem Bruder, dem Mond, überlässt, die Wege der Welt zu beleuchten.

»Romantisch«, sagte Holmar. »Apropos, hast du deine Freundin noch? Die, die du letztes Jahr bei der Truppenübung auf Gut Eulenstein kennengelernt hast? Wie hieß sie doch gleich, Rynn, Linn …«

»Minn. Ihr Name ist Minn.«

»Richtig, der war’s. Ich konnte ihn mir nicht merken, da du mir ja nur ein einziges Mal geschrieben hast, seit du zur Grenze geschickt wurdest. Obwohl ihr auch einen Nachrichtenturm in Dimmgrund habt …«

Toryan ignorierte den vorwurfsvollen Unterton und zuckte mit den Schultern. »Ich war seitdem nicht mehr auf Gut Eulenstein. Wir haben uns versprochen, aufeinander zu warten.«

»Und?« Holmar pikste ihn mit dem Zeigefinger gegen die Schulter. »Hast du?«

»Ja. Ich li… Ich meine, sie ist was Besonderes. Eigentlich sollte ich jetzt Urlaub haben und bei ihr sein.« Toryan trat verdrießlich eine Kastanie aus dem Weg.

»Na komm«, sagte sein alter Freund, »wir spülen den Trennungsschmerz mit einem guten Bier herunter.«

Auf einer Bank unter einem rot-goldenen Ahorn saß ein bekümmert dreinblickender Mann. Er erinnerte Toryan an seinen Vater – schwielige Hände, Bart und ein Gesicht, das Sorgen vor der Zeit hatten altern lassen. Der Mantel schlotterte um die Schultern, als gehörte er einem Größeren. Holmar nickte ihm im Vorübergehen zu. »Prachtvoll, das Laub, nicht wahr?«

»Wenn die Blätter sich färben, sind sie beinahe tot«, entgegnete der Mann müde. »Schon bald trägt der Wind sie davon, und zurück bleibt nichts als nacktes Geäst.«

Holmar hielt inne. »Weshalb die Schwermut, Bruder? Ihr solltet Euch an den Segnungen erfreuen, die der Lichtbringer uns schenkt.«

»Segnungen?« Der Mann rang die Hände ineinander, als wollte er sie waschen. »Ich war Binnenschiffer wie mein Vater und dessen Vater vor ihm. Dann kamen die Viadukte. Jetzt bin ich Tagelöhner. Ich wollte nie nach Gorvul, bin kein Freund großer Städte. Doch bei uns gibt’s keine Arbeit mehr und ich hab Mäuler zu stopfen.«

Toryan blickte ihn betroffen an. Seit man nach Bauplänen der Engel die Viadukte errichtet hatte, wurden Waren in nie gekannter Geschwindigkeit von Ort zu Ort transportiert. Dampfbetriebene Waggons sausten auf Schienen über Höhen und Täler, und Obst, das morgens noch auf einer Wiese in Bernsgrün Sonne getrunken hatte, lag am selben Abend im Nachtmarkt von Gorvul aus. Bislang hatte Toryan das als Segen betrachtet … Kurz entschlossen zog er die Geldstücke hervor, die er in der Taverne hatte verjubeln wollen, und drückte sie dem Schiffer in die Hand. »Kauft Euch was zu essen. Und schreibt Euren Lieben, dass es Euch gut geht.«

Verblüfft starrte der Fremde erst die Münzen, dann ihn an. »Warum tut Ihr das? Ihr kennt mich nicht mal.«

»Ich hatte ein paar harte Tage und hab Glück, dass ich noch lebe. Davon kann ich ein wenig zurückgeben. So wie es der Klerus predigt.«

»Von etwas reden und etwas tun ist der Unterschied zwischen dem Fisch im Fluss und der Mahlzeit im Köcher.« Der Mann neigte das Haupt. »Ich danke Euch.«

»Dankt dem Lichtbringer.« Holmar machte das Segenszeichen über dem Haupt des Fremden, der zur Antwort etwas Unverständliches in den Bart brummte.

»Du hättest ihm auch was geben können«, sagte Toryan, als sie den Park hinter sich ließen und in die Gasse zum Fidelen Fassreiter einbogen.

»Stimmt.« Holmar drückte die Tür zur Taverne auf. »Nur wer hätte dann unsere Getränke bezahlt?«


Das Innere des Fidelen Fassreiters war größer, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Dafür sorgten neben dem schummrigen Licht die Winkel mit den Eckbänken und ein Dutzend Holzsäulen, die sich quer durchs Gasthaus verteilten. Kerzenrauch hatte die Deckenbalken und abgewetzten Tischplatten im Lauf der Zeit dunkel gefärbt, einzig die Tischwangen aus poliertem Stahl glänzten. Über dem Steinkamin hing ein Fass, auf dem die Figur eines rotnasigen Hünen Bierkrüge schwenkte.

»Für uns dasselbe, was er hat«, rief Toryan und deutete auf die Figur. »Und dazu etwas Gegrilltes und einen Topf eingelegten Rettich.« Der glatzköpfige Wirt nickte und begann, schäumendes Bier in Krüge zu füllen.

Die Taverne war gut besucht. Holmar und Toryan suchten sich eine Nische in der Nähe des Kamins. Als ihre Bestellung kam, steckte Holmar der rundwangigen Bedienung einen Kupferflügel extra in die Gesäßtasche, was sie mit einem Lächeln und kokettem Hüftschwung quittierte.

»Solltest du nicht züchtiger sein?«, spottete Toryan.

»Erstens tu ich eine gute Tat.« Holmar hob seinen Humpen. »Und zweitens sehe ich keinen meiner Ordensbrüder in der Nähe.«

Toryan lachte und stieß mit ihm an. Eine Weile gaben sie sich ganz dem Genuss der Speisen und Erinnerungen an ihre Jugendjahre hin. Erst als sie die letzten Reste mit Brot vom Teller gewischt und zwei weitere Krüge Bier bestellt hatten, berichtete Toryan, was in Dimmgrund geschehen war.

Holmars Augen weiteten sich, als wollten sie ihm aus dem Kopf springen. »Du hast Lurmenor gegenübergestanden? Ach, was wundert’s mich. Für weniger als den Gefallenen geht Toryan die Tatze ja nicht vor die Tür.«

Toryan kannte seinen alten Freund lang genug, um zu wissen, dass sich hinter dem Spott echte Sorge verbarg. »Wer ist diese Dämmer­geborene, von der er gesprochen hat?«

»Eine alte Legende.« Holmar rieb sich die Nase. »Es heißt, sie sei Nachfahrin eines Blutfürsten und einer Sterblichen. Ein Halbblut, das die Stärken beider Rassen in sich vereint.«

»Warum hab ich noch nie davon gehört?«

»Ich bin selbst nur durch Zufall während meiner Studien darauf gestoßen. In einer Schriftrolle aus der Zeit vor dem Kataklysmus, vergessen in den Tiefen der Archive. Wenn es andere Aufzeichnungen gab, wurden sie im Zuge der Entnachtung vernichtet.«

»Der was?« Toryan hob eine Braue.

»Du hast in der Akademie wirklich oft geschlafen«, tadelte Holmar. »So nennt man die Verbrennung der Bücher im Jahr nach Asgreals Ankunft. Es wurden alle Werke vernichtet, die die Menschen in die Fänge der Altnacht treiben oder den Glauben ins Wanken bringen könnten.«

»Richtig, richtig. Aber was kann an einem alten Märchen gefährlich sein?«

»Was es auch ist«, entgegnete Holmar lakonisch, »es lässt die Blutfürsten in den Krieg ziehen.«

Toryan leerte seinen Krug und winkte der Bedienung, zwei weitere zu bringen. War es die vierte Runde oder schon die fünfte? Na, solange er sich darüber noch Gedanken machen konnte, war es eine zu wenig.

»Wir werden ihren Ansturm abwehren«, meinte Holmar leicht lallend. »Denn wir kämpfen für Freiheit und Frieden.«

Toryan starrte auf den Grund seines Humpens. »Woher wissen wir, dass die Blutfürsten nicht auch glauben, sie seien im Recht?«

Holmar hob den Zeigefinger. »Wer zieht denn bitte schön in den Krieg, sie oder wir?«

Der Gedanke an die Spaltungskriege, die die Menschen nach dem Fall des Imperiums der Blutfürsten untereinander geführt hatten, huschte durch Toryans Kopf. Doch dann kam neues Bier, und er verbannte solche Grübeleien hinter einer Wolke aus Alkohol.

Als sie die Taverne schwankenden Schrittes Arm in Arm verließen, funkelte ein blutroter Stern einsam und kalt am Firmament.

Schwingenfall

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