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Erkenntnisse und Rätsel


Seit dem Aufbruch aus Gorvul hatte Damians Gefolge ein gutes Stück Weg gemacht. Zuerst entlang der großen Getreidefelder, auf denen die Dampfdrescher ratternd und spotzend Korn ernteten. Danach auf der Straße, die entlang des Gabelweihflusses in die ehemaligen Grafschaften führte, mit Daosam im Osten und Blauried im Norden. Heute herrschten dort die beiden Kardinäle von Asgreals Gnaden. Blaurieds größtes Gut Eulenstein wiederum war als Treffpunkt für das Konklave auserkoren worden.

Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, desto rückständiger wurde das Land. Wo anfangs noch Schienenwaggons von Ort zu Ort gerollt waren, zog nun höchstens noch ein vereinzelter Esel stoisch seinen Karren.

Toryan ritt stumm an General Nobus Seite durch die Weite, bis er schließlich seinen Mut zusammennahm und das Wort ergriff. »Ich habe unterschiedlichste Dinge über meinen Lebensretter Rojin gehört. Was für eine Art Freischärler ist er eigentlich?«

Nobu klopfte seinem Pferd auf den Hals, was das Schlachtross mit wohligem Schnauben quittierte. »Er lebt nach der Maxime, jedem Respekt zu zollen, der ihm Respekt zollt. So pflegt er Beziehungen zu allen Seiten der Grenze.«

Toryan blieb der Mund offen stehen. »Zur Altnacht auch?«

Nobus Blick hatte etwas Mitleidiges. »Weißt du, womit die ganzen neuen Maschinen wie Luftschiffe, Schienensänften oder Kolben­waggons betrieben werden?«

»Mit Dampf. Teils mit Motoren.«

»So ist es. Und ist dir klar, was die Energie erzeugt, die sie antreibt?«

»Oh. Äh, nein.«

»Sie verbrennen ein bestimmtes Mineral. Wir haben Vorkommen davon in den Bergen südlich von Gorvul. Aber es ist wenig, der Abbau mühsam. In den Hügeln entlang der Zwielichtgrenze dagegen türmt sich das Zeug. Es muss nicht mal geschürft werden. Dank der Kontakte von Männern wie Rojin gelangt es in die Hände unserer Gelehrten und Alchemisten.«

»Ich habe mich immer gefragt, warum er sich so frei innerhalb der Grenzlande bewegen darf«, murmelte Toryan.

»Von ihm erfahren die Anführer der Grenzwacht häufig Dinge, die helfen, Probleme zu entschärfen, ehe sie entstehen«, fuhr Nobu fort. »Aber lass dich von seinem Lächeln und seinem freundlichen Blick nicht täuschen. Darunter flammt eine Menge Feuer.«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Das zu beurteilen musst du selbst lernen, Junge.«

Der Gabelweihfluss machte einen Knick, und die Reiterschar gelangte an eine Kreuzung. Die Dammstraße verlief im Norden weiter zum Reißtobel, einer unüberwindlichen Grenzkluft voll tückischer Strudel und Abgründe. Der östliche Weg führte nach Daosam, wo die ewig brennenden Bäume des Phönixweidenhains die Kreaturen der Altnacht fernhielten. Die Gemeinschaft des Purifikanten jedoch wandte sich nach Nordwesten.

Die Dämmerung breitete ihren Mantel über die Welt aus. An der Kutsche wurden Gaslampen entzündet, die Reiter steckten ihre Sattellaternen an. So zogen sie entlang dunkler Seen und Hügel, auf denen verfallene Gemäuer von vergangenen Zeiten träumten. Wolkenfetzen rasten über den Himmel, einem Rudel Raubtiere gleich, das eine unsichtbare Beute hetzt. Nur ab und an streifte der Mond seinen Ring aus Silber über die Schattenfinger einer Esche oder Fichte, die sich einsam gegen die schummrige Umgebung abhob.

Allmählich tauchten wieder Spuren von Siedlungen auf. Felder, Hütten, begradigte Wasserläufe. Fast war Toryan enttäuscht, nahmen sie der Landschaft doch etwas von ihrem Zauber.

Nobu musterte ihn von der Seite. Wie schaffte er es, dass Toryan sich vorkam, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen? Er hoffte, dass das Dunkel sein Erröten verbarg. »General, wie kommt es, dass Gesandte aus Freiholt am Konklave teilnehmen werden?«, fragte er, einerseits um abzulenken, andererseits weil er es tatsächlich nicht verstand. Die Räte­republik hatte Asgreal nie als himmlischen Erlöser akzeptiert und sich geweigert, den Weisungen der Engel zu folgen. Die Spannungen mit dem Süden waren gewachsen und gewachsen, bis vor gut dreißig Jahren die Spaltungskriege ausbrachen, an deren Ende sich Freiholt endgültig vom geheiligten Reich des Purifikanten abgetrennt hatte.

»Unterschätze nie die Macht der Gewinnsucht.« Nobu zog eine Grimasse. »Allen im Krieg geschlagenen Wunden zum Trotz blüht heute reger Handel zwischen den Reichen. Zudem hat man eine gemeinsame Grenze zu schützen. Die Räterepublik legt ebenso wenig Wert auf Besuch von Kreaturen der Altnacht wie die von Asgreal gesegneten Lichtlande.«

»Das macht die Ketzer zu logischen Verbündeten.« Toryan drehte gedankenverloren sein Armband.

»Aber?«

»Der Klerus stellt eine weit größere Streitmacht als Freiholt. Von den Engeln ganz zu schweigen.«

Nobu nickte anerkennend, was Toryan als Aufforderung nahm, fortzufahren. »Die Ketzer brauchen uns demnach mehr als wir sie. Weshalb sollte der Purifikant sie also zum Konklave einladen? Klüger wäre es zu warten, bis sie von sich aus Gespräche anbieten. Als Bittsteller, denen gegenüber Damian aus einer Position der Stärke verhandeln kann.«

»Da stellst du genau die richtigen Fragen.«

»Und was ist die Antwort?«

Nobu strich sich den Schnauzbart. »Da bin ich mir nicht sicher.«

Von der Spitze des Zuges kam ein Paladin aus Damians Leibgarde herangeprescht – Jaldar, der Toryan in der Zitadelle so grimmig gemustert hatte. Toryan bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

»Was gibt es, Paladin?«, fragte General Nobu.

»Der Junker Toryan soll zum nächsten Dorf reiten und dort die Ankunft des Purifikanten ankündigen.«

»Ich bin übrigens gleich hier.« Toryan winkte übertrieben.

Jaldar musterte ihn von oben bis unten. Die Schweinsäuglein blitzten berechnend.

General Nobu ist für meine Taten verantwortlich, ermahnte Toryan sich. Also verbiss er sich weitere Pampigkeiten, obwohl ihm jede Menge auf der Zunge lagen. Er schaffte es sogar, ein wenig Demut in seine Stimme fließen zu lassen. »Wie Ihr wünscht. Ich besorge mir eine Karte und …«

»Das wird nicht nötig sein.« Nobus Stimme war ruhig wie ein windstiller Morgen. »Ich begleite dich.«

Der Paladin grinste gehässig, wendete sein Pferd und kehrte zurück an die Spitze des Trosses.

Hätte man ihm befohlen, sich Hörner wachsen zu lassen, hätte Toryan nicht fassungsloser sein können. Man schickte General Nobu nicht als Botenjungen los. Der Mann war ein Held. »Tut mir leid«, stieß er hervor. »Ihr solltet nicht … ich meine … das ist nicht richtig!«

»Schon gut, Junge.« Die ehernen Gesichtszüge des Generals wurden für einen Moment weich. »Na komm. Tun wir unsere Pflicht als Wächter des Lichts.«


Nach wenigen Meilen scharfen Rittes gelangten Toryan und Nobu ans Ufer des namenlosen Flüsschens, das die örtlichen Felder bewässerte. Eine Holzbrücke, gebogen wie der Buckel einer zornigen Katze, führte zum Dorf. Nebel wallte über den Dächern und ertränkte den Schein der Öllaternen. Abgesehen vom Schnauben der Pferde herrschte Totenstille.

»Hier stimmt was nicht«, raunte Nobu. »Halt die Augen auf.« Sie dirigierten die Rösser auf die Brücke.

Ein kalbgroßes, über und über mit Stacheln bedecktes Etwas wirbelte aus den Schatten. Die Pferde wieherten und bäumten sich auf. Toryan konnte gerade noch das Gewicht verlagern, um nicht aus dem Sattel zu fliegen. Nobu riss sein Ross zur Seite, und das Monstrum preschte zwischen ihnen hindurch. Eine Gestalt im Kapuzenumhang saß auf seinem Rücken. Ehe Toryan mehr erkennen konnte, verschwanden Reiter und Dornending in der Dunkelheit.

Nobu beruhigte sein tänzelndes Pferd. Der Mann hat Eis in den Adern, dachte Toryan, dessen eigenes Herz so wild klopfte, als wollte es ihm aus der Brust springen. »Das war ein Nachtkrabbler. Verfolgen wir ihn nicht?«

Nobu schüttelte den Kopf. »Zwecklos bei der Geschwindigkeit. Außerdem müssen wir nach den Dörflern sehen.«

Toryan drängte seine Verwunderung zurück und nickte.

Vor dem ersten Haus lag ein Mastochse, der Hals zerfetzt, das Fleisch aschgrau. Ausgesaugt bis zum letzten Tropfen.

Aus dem Augenwinkel sah Toryan einen Schemen heranstürzen. Hah, noch mal ließ er sich gewiss nicht überrumpeln! Er riss das Bein aus dem Steigbügel und trat zu. Ein Knirschen, ein dumpfer Aufprall. Toryan glitt vom Pferd, zerrte das Schwert aus der Scheide. Der Angreifer richtete sich auf. Toryan warf sich auf ihn, hob die Klinge und … starrte ins schreckverzerrte Gesicht eines Jungen. Sofort ließ er die Waffe sinken.

General Nobu trat zu ihm. »Gehörst du zu diesem Dorf, Kleiner? Was ist passiert?«

»Die Monster waren hier, wie aus den Geschichten über die Alte Nacht.« Der Junge riss die Augen weit auf. »Ein Blutsauger und ein Stachelvieh. Uh, meine Seite.«

Schuldbewusst dachte Toryan daran, dass er ihm vermutlich die Rippen geprellt hatte.

Umrisse tauchten aus dem Nebel auf. Dutzende. Kinder mit Sicheln, Frauen mit Holzscheiten, Männer mit Mistgabeln. Sie umringten Toryan und Nobu. »Weg von dem Jungen«, knurrte ein massiger Glatzkopf.

Es klickte, als Nobu seine Arkebuse sicherte. »Ruhig. Wir tun euch nichts. Wir kommen im Namen des Purifikanten.«

»Die seh’n nich’ wie Blutsauger aus, Clodd«, nuschelte eine Frau mittleren Alters, die einen Dreschflegel hielt.

»Wir würden wohl kaum versilberte Schwerter tragen, wenn wir’s wären.« Toryan hob seine Waffe.

Sofort gingen die Dörfler in Habachtstellung. »Die Leute sind nervös, Fremder.« Kahlkopf Clodd spuckte auf den Boden. »Besser, du fuchtelst nicht so mit dem Ding da rum.«

»Jetzt lass die Sache nicht unnötig haarig werden.«

»Wie meinst du das?« Clodds Augen verengten sich.

Toryan drehte das Schwert so, dass der Griff in Richtung der Dörfler zeigte. »Ich will nur zeigen, dass wir Menschen sind. Seht. Silber.«

Clodd trat misstrauisch näher und beäugte die Klinge. Als hätte er eine Ahnung, woran man eine Silberlegierung erkannte. »In Ordnung«, grunzte er dennoch. »Packt die Waffen weg, Leute.«

»Schön«, versetzte Nobu mit einer Ruhe, als hätte er im Gasthaus Tee bestellt. »Ist einem von euch ein Leid geschehen? Abgesehen vom Verlust des Ochsen?«

»Nee«, brummte Clodd. »Bloß, vielleicht kommt der Blutsauger wieder?«

»Oh, ihr bekommt Besuch«, sagte Toryan. »Aber wenn der da ist, traut sich kein Nachtkrabbler mehr in eure Nähe. Seine Exzellenz, der Purifikant Damian Fallanidens, beehrt euch in Kürze.«

»Ehe er eintrifft, nehmt einen wohlgemeinten Rat an«, sagte Nobu ins erstaunte Gemurmel der Dörfler hinein. »Schafft den toten Ochsen weg und erzählt nicht, dass ein Blutfürst hier war.«

Die Männer und Frauen starrten ihn stirnrunzelnd an. Toryan traute seinen Ohren kaum. »Aber sollte Seine Exzellenz nicht wissen, dass …«

»Es sind Paladine im Gefolge des Purifikanten«, fuhr Nobu fort, ohne ihn anzusehen. »Sie werden sich fragen, weshalb der Vampir ein Tier gerissen, aber euch verschont hat. Ihr wollt sicher nicht, dass sie euch für Freunde der Dunkelheit halten.«

Einige der Umstehenden erschauerten, andere machten rasch das Schutzzeichen des Lichtbringers.

Clodd grunzte und winkte ein paar Männer zu sich. Toryan schob sein Schwert zurück in die Scheide und beobachtete unauffällig den General. Es war mutig und ehrenhaft, dass er diese Menschen schützen wollte. Keinem war damit gedient, wenn die Paladine die Dorfbewohner noch mehr ängstigten.

Oder steckte mehr hinter Nobus Verhalten? Und falls ja, was?

Er kratzte sich am Kinn und machte sich daran, dem Glatzkopf und seinen Freunden zu helfen, die Überreste des Ochsen fortzuschleppen.

Schwingenfall

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