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Bündnisse


Ratsherrin Shanesa ließ den Blick über die Ausläufer des Zwielichtforstes schweifen. Etwas stimmte nicht in ihrem geliebten Freiholt. Seit der merkwürdige rote Stern erschienen war, dessen Silhouette selbst tagsüber am Himmel stand, plagte sie eine nagende Unruhe. Sie wollte niemanden ohne handfesten Grund ängstigen, also war sie allein Richtung Grenze geritten. In jungen Jahren war sie Kundschafterin in den Spaltungskriegen gewesen, und sie kannte die Schluchten und Auen der Grenzregion zur Altnacht wie kein Zweiter. Wenn etwas von dort nach Freiholt gelangt war, würde sie es finden.

Shanesa tastete nach dem Griff des Dampfbogens, der zusammen mit der silberrunenbesetzten Streitaxt vom Sattel hing. Ihr treues Ross schnaubte, als spürte es, was in ihr vorging. Sie zauste ihm die Mähne und lenkte es auf den Weg, der unter den Bäumen parallel zum Schummerklippenfluss verlief.

Über dem laubbedeckten Pfad hing Nebel, die Luft roch frisch. Kein Raubtiergeruch lag darin, weder natürlich noch übernatürlich. Gut so. Prinzipiell hatte Shanesa ja nichts gegen Nachtkrabbler. Solange sie blieben, wo sie hingehörten.

Der Weg verengte sich. Durchs Geäst drang kaum Licht. Hier waren selten Menschen anzutreffen – besser zugängliche Wild- und Fischgründe gab es mehr als genug. Shanesa stieg ab und führte das Pferd am Zügel hinter sich her. Immer wieder sah sie sich um. Lauschte. Nichts zu hören. Nur das Plätschern des Flusses und das Flüstern des Windes in den Wipfeln.

Der Pfad endete an einer Furt, wo der Fluss einen Knick machte und sich so verbreiterte, dass das andere Ufer nicht mehr zu sehen war. »Ich werde wahrlich alt, wenn ich schon Hirngespinsten aufsitze, was, mein Freund?« Shanesa lachte und streichelte ihrem Ross die Nüstern.

Da sah sie das Boot, halb verborgen unter Gestrüpp. Mit trockenem Mund schob sie Laub und Äste beiseite. Zum Vorschein kam eine Jolle aus grauem Holz, das von keinem Baum stammte, der in Freiholt wuchs. Dornenartige Fellbüschel verteilten sich darin. Shanesa presste die Lippen aufeinander. Also hatte etwas aus der Altnacht den Weg nach Freiholt gefunden, etwas, das in der Welt der Menschen so wenig zu suchen hatte wie Schemen aus einem lange verblassten Traum.

Sie nahm die Axt vom Sattel und machte sich an die Arbeit. Späne flogen, Splitter bohrten sich in ihre Hand, ihr Haar wurde trotz der frischen Luft klitschnass. Doch Shanesa hörte nicht auf, bis sie das Boot in Stücke gehackt hatte. Schwer atmend reinigte sie die Axt, wusch sich Gesicht und Arme am Fluss und trank ein paar Handvoll Wasser. Dann setzte sie sich ans Ufer und dachte nach. Ihre Entdeckung würde womöglich Panik in der Bevölkerung auslösen. Sollte sie diese dennoch informieren? Das durfte sie nicht allein entscheiden.

Das Pferd stupste sie mit der Nase an. »Mir gefällt es auch nicht, alter Junge«, murmelte Shanesa. »Aber es hilft nichts. Ich muss eine Ratsversammlung einberufen.«


Shanesa fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wünschte, sie wäre wieder im Wald. Oder säße mit Freunden beim Kartenspiel. Bei den Brüsten aller Nixen, selbst mit ihren lärmenden, nervigen Neffen wäre sie jetzt lieber in einem Raum als hier, im Ratssaal von Freiholt.

Das Problem war, dass sie dem Rat vorsaß. Der war oft genug ein selbstgefälliger Haufen, dessen Mitglieder sich gern reden hörten. Daran hatte Shanesa sich im Lauf der Jahre gewöhnt. Diesmal jedoch ging es nicht um Einfuhrzölle oder darum, wer die Kosten für irgendeine Straßenpflasterung zu tragen hatte. Diesmal ging es um die Sicherheit der Republik. Dummerweise sahen die Statuten vor, dass sie erst alle Ratsmitglieder zu Wort kommen lassen musste, ehe sie selbst sprach. Was von der Idee her gut war, in der Praxis allerdings zu ausgedehnten Monologen von Räten wie Seoman Glennides führte, einem groß gewachsenen Mann mittleren Alters und besonders rechthaberischen Exemplar seiner Gattung.

»… damit sagen will«, erreichte dessen Sermon seinen Gipfel, »die Nachtkrabbler rühren sich. Ich spür’s in meinen Knochen. Mein großer Zeh pocht, als würde das Wetter umschlagen.« Seoman stützte sich auf den Eichentisch, an dem die Würdenträger Freiholts seit Bestehen der Ratsrepublik ihre Sitzungen abhielten. Unzählige Ellbogen hatten das Holz im Lauf der Jahre glatt poliert. Seoman, der bereits drei Humpen Bier geleert hatte, um die Stimme zu ölen, war zu aufgebracht, um daran zu denken. So kam, was kommen musste. Seine Hände rutschten weg, er kämpfte ums Gleichgewicht. Zu seinem Pech siegte die Schwerkraft. Seomans Kinn knallte auf die Tischplatte, er verdrehte die Augen und sackte zu Boden.

Normalerweise hätte Shanesa sich die Chance auf einen spitzen Kommentar nicht nehmen lassen, doch die Lage war zu ernst. »Helft ihm auf«, sagte sie daher nur. »Und bringt ein kaltes Tuch für sein Kinn.«

Unter den übrigen Ratsleuten brach ebenfalls nur vereinzelt Heiterkeit aus. Die meisten steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.

Der junge Exall Dalglen räusperte sich. »Die Schafe sind unruhig. Drängen sich zusammen und meckern in einem fort. Und den Hunden sträubt sich das Fell, wenn der Nordwind weht.« Seit dem Tod seines Vaters saß Graf Musas Spross dem Rat bei. Auch wenn sein flamboyantes Rüschenhemd und der sorgsam geölte Bart anderes vermuten ließen, war Exall eine Bereicherung, und dies nicht allein wegen der exzellenten Kontakte in seine alte Heimat Blauried.

»Die Blutfürsten haben seit einem Jahrhundert keinen Versuch unternommen, die Grenze zu überschreiten«, sagte der drahtige Olien, der Freiholts Gelehrtenakademie leitete. »Wieso sollten sie gerade jetzt aus den Schatten kriechen?«

Shanesa räusperte sich und setzte an, endlich kundzutun, was sie gesehen hatte, als die Tür zum Ratssaal aufgestoßen wurde. »Ich habe die Antworten, die Ihr sucht«, tönte es salbungsvoll. Alle Köpfe fuhren herum, was der Neuankömmling mit einem gönnerhaften Nicken quittierte. Er war mittelgroß, hatte aber den Blick eines Mannes, der es gewohnt war, auf andere herabzusehen. Das Gewand hätte den stattlichen Bauch womöglich kaschiert, hätte ihn nicht der Quastengürtel zurück ins Blickfeld gerückt. Zwei schneeweiße Haarbüschel wuchsen über seinen Ohren, ein drittes wie eine Insel in der Mitte des Kopfes. Zwei hünenhafte Leibwächter in der Tracht des Klerus flankierten ihn. Exall umkrampfte beim Anblick des Besuchers die Lehnen seines Stuhls.

»Kardinal Armengal.« Shanesa erhob sich. »Was führt Euch nach Freiholt?«

Der Kardinal musterte sie mit wässrigen Augen wie ein Pferdehändler, der überlegt, ob das Tier, das er vor sich hat, ein Gebot wert ist. »Die Stunde des Heils ist nicht mehr fern«, intonierte er. »Dann wird Asgreal, Preis sei seinem Namen, all jene vom Antlitz Yrdaias fegen, die der Finsternis dienen. Ihr mögt nicht an ihn glauben, doch die Kreaturen der Altnacht fürchten seine Wiederkehr. Und Furcht lässt selbst die Mächtigen verzweifelte Dinge tun.«

»Wie Krieg führen? Ist es das, was Ihr sagen wollt?«

»Wenn Ihr es so profan ausdrücken wollt«, entgegnete Armengal ein wenig pikiert. »Lust, Angst und Hunger sind die stärksten Triebe überhaupt. Auf den Kern reduziert ist es für Kreaturen wie jene der Alten Nacht nur natürlich, dass sie ihren Instinkten folgen.«

»Setzt Euch.« Shanesa deutete auf einen freien Stuhl am Ratstisch. »Exall, sei so gut und lass unserem Gast und seinen Männern etwas zu essen bringen.«

Exall nickte ihr dankbar zu. Es war offensichtlich, dass er die Gegenwart des Mannes, der seinen Vater aus Blauried vertrieben hatte, nur schwer ertrug. Hallenden Schrittes verließ er den Saal.

Kardinal Armengals Lächeln hatte die Wärme eines Gletschers. »Ich komme, um Euch einen Pakt vorzuschlagen. Die Engel wachen allein über jene, die auf ihrer Seite der Dunkelheit entgegentreten.«

Einige Ratsmitglieder rutschten auf ihren hochlehnigen Stühlen herum.

»Wollt Ihr uns Angst machen?« Seoman, mit dickem Kinn, aber wieder aufrecht, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Krüge wackelten. »Dann verschwindet zurück zu Euren Schafen mit ihrem blinden Gehorsam.«

Shanesa unterdrückte ein Stöhnen. Der Mann hatte die Diplomatie einer Kriegsaxt.

Der Kardinal musterte ihn. »Im Gegenteil. Ich kam, um Rats­führerin Shanesa zum Wohle aller zu einem Konklave einzuladen. Der Purifikant wird teilnehmen, ebenso Kardinal Tadeean Domitidens, General Nobu und der Freischärler Rojin aus Dimmgrund, mit dem einige von Euch Handel treiben. Wir mögen unsere Differenzen haben, doch wir sind alle Menschen. Wir haben einen gemeinsamen Feind.« Er faltete die Hände über dem Fassbauch.

Die Ratsmitglieder sahen einander an. Shanesa runzelte die Stirn. »Ein solches Konklave hat es seit dem Ende der Spaltungskriege nicht gegeben.«

»Glaubt Ihr, ich wäre persönlich gekommen, wenn es nicht todernst wäre?« Armengals feiste Miene verdüsterte sich. »Der Wächter­engel des Nordens, Mawjah, wurde ermordet. Wir haben einen Zeugen, der sagt, dass der Gefallene selbst es war.«

Erregtes Gemurmel brach im Saal aus.

»Ruhe.« Shanesa klopfte auf die Tischplatte. Äußerlich schaffte sie es, beherrscht zu bleiben. Innerlich verknoteten sich ihre Eingeweide. Es war klar wie algenloses Wasser, dass Freiholts Streitkräfte der Macht der Altnacht allein nicht würden standhalten können. »In Ordnung, Kardinal«, verkündete sie widerstrebend. »Ich reise mit Euch zum Konklave.«


Nachdem sie sich stundenlang schlaflos im Bett gewälzt hatte, setzte Shanesa sich auf und betrachtete das Antlitz Okaharas, die friedlich neben ihr schlummerte. Sie liebte alles an ihrer Frau. Wie ihr Haar im Mondlicht schimmerte, das durchs offene Fenster fiel. Wie sich ihre Brust unter der Decke hob und senkte. Wie sie im Schlaf lächelte. Sie wollte nicht fort von ihr. Doch sie musste.

Ihre Aufgabe war es, die Menschen Freiholts zu beschützen. Ihretwegen würde sie mit Kardinal Armengal, dieser Kröte im Robengewand, nach Gut Eulenstein gehen – nicht etwa aus Furcht vor Asgreal, einer gestaltlosen Halbgottheit, die alle alten Religionen aus den Geschichtsbüchern verbannte und blinden Gehorsam als Tribut für ihren Schutz verlangte.

Obwohl, vielleicht ist das gar nicht Asgreals Schuld? Wer kann schon sagen, ob das, was der Klerus predigt, wirklich im Sinne des sogenannten Lichtbringers ist?

Shanesa war stolz auf Freiholts Toleranz und Unabhängigkeit. Doch es ließ sich nicht leugnen, dass die Menschen in den vom Klerus regierten Gebieten sicherer lebten. Dort wachten Engel und patrouillierten mechanische Dampfdoggen, sobald sich die Sonne senkte. Wer dagegen in Freiholts Fischerdörfern nach Einbruch der Dunkelheit die Ortsmauern verließ, tat das in Begleitung von Gefährten. Oder von jeder Menge scharfem, versilbertem Stahl. Die Republik würde Verbündete brauchen, wenn es zum Krieg kam.

Das Mondlicht kitzelte die Härchen auf ihrem Arm, und ein Gedanke huschte ihr durch den Kopf. Wer sagte, dass Freiholt sich mit dem Klerus verbünden musste? Schließlich gab es noch eine andere Partei in der drohenden Auseinandersetzung …

Nein, das war verrückt. Schluss, aus.

Vorsichtig, um Okahara nicht zu wecken, stand sie auf und schloss das Fenster. Zurück im Bett zog sie sich die Decke über den Kopf. Das Mondlicht verschwand und Dunkelheit umhüllte sie, bis der Morgen des Aufbruchs graute.

Schwingenfall

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