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Aussichten


Minn schirmte mit einer Hand die Augen gegen die Sonne ab. Selbst das Wetter zeigte sich zum Besuch des Purifikanten von seiner besten Seite. Nun, für die Verhältnisse des Nordens, was hieß, dass nur eine Handvoll Wolken am Himmel hingen. Einzig der seltsame rote Stern störte die Idylle.

Das Personal von Gut Eulenstein stand in Reih und Glied auf der Steintreppe vor dem Haupthaus, in seinen besten Kleidern, das Haar hübsch frisiert. Entlang der Allee hatte sich eine Elitegarde von Blaurieds Dampfbogenschützen in ihren hellblauen Brustpanzern aufgepflanzt.

Minn stellte sich auf Zehenspitzen und reckte den Hals. Zwar stand sie auf der obersten Treppenstufe, aber Schussel-Ann, ihre Freundin aus der Küche, hatte ihrem Namen mal wieder alle Ehre gemacht und vergessen, ihr einen guten Platz frei zu halten. Nun stand ausgerechnet der Pferdeknecht Foy mit seinen Storchenbeinen vor Minn. Dabei wollte sie doch nichts verpassen! Sie puffte Foy in die Rippen und schob ihn an seiner Schulter zur Seite. Der Knecht kannte Minn gut genug, um die Prozedur widerstandslos über sich ergehen zu lassen.

So. Schon viel besser. Und gerade rechtzeitig. Was für ein Gefolge da ankam! Das mussten um die zweihundert Krieger sein, dazu rumpelnde Kolbenwaggons mit Vorräten und Gesinde mit Packpferden. Und natürlich die über und über mit Goldplättchen bedeckte Dampfkutsche des Purifikanten, die den Eindruck erweckte, eine kleine Sonne käme über die Straße gerollt. Minns Blick fiel auf zwei Reiter hinter dem Gefährt. Der eine war mittelgroß und saß kerzengerade im Sattel. Er hatte eisgraues Haar, einen Schnauzbart und verströmte selbst über die Entfernung hinweg Kraft und Zuversicht. Trotz der imposanten Erscheinung fesselte vor allem sein Nebenmann Minns Aufmerksamkeit. Ein drahtiger junger Kerl, einen halben Kopf größer als sie, mit störrischem braunem Haar, das ausgeprägte Wangenknochen rahmte. Der sah aus wie … nein, Donnerkeil und Blitzgewitter, das war Toryan! Aber was machte der im Gefolge des Purifikanten? War er befördert worden? War das der Grund, dass er nicht bereits wie angekündigt vor einigen Tagen eingetroffen war, ohne Bescheid zu geben? Seine Züge hatten etwas Rebellisches, ohne dass Minn hätte sagen können, ob dieser Eindruck vom energischen Zug um seinen Mund oder der Art herrührte, wie er verkniffen auf die Kutsche – oder einen der Paladine? – starrte. Wieso wohl?

Na, ich werd es schon rausbekommen, jubilierte Minn innerlich. Sie liebte es, Geheimnisse zu lüften. Das war fast so schön wie die Vorfreude, Toryan bald wieder in die Arme zu schließen. Fast.

Wenn er denn wirklich sein Versprechen gehalten und auf mich gewartet hat, schoss ihr durch den Kopf. Was waren schon die wenigen Wochen, die sie gemeinsam verbracht hatten, als er im Vorjahr mit den anderen neuen Rekruten nach Gut Eulenstein gekommen war, um von Grimnur etwas über Nahkampf und Schleichangriffe zu lernen? Vielleicht hatte er längst eine andere? Na, dann gnade ihm Asgreal.

Der Steuermann auf dem Kutschbock zog einen Hebel, und die Dampfkutsche hielt derart schwungvoll vor dem Hauptgebäude, dass links und rechts Kies wegspritzte. Schussel-Ann, die in der vordersten Reihe stand, bekam ein Steinchen ins Gesicht, schrie auf und taumelte nach vorn. Dabei verlor sie die Balance und krachte Stirn voran in die Seitenwand der Kutsche. Es klang, als würde ein Gong geschlagen. Schadenfreude und Mitleid führten einen heftigen Ringkampf in Minn – mit dem besseren Ende für Schadenfreude. Minn hielt sich den Bauch vor Lachen. Die anderen Umstehenden kicherten oder grinsten, wurden aber schlagartig ernst, als sich die Kutschtür öffnete. Der grau gelockte Mann, der ihr entstieg, trug eine Purpurrobe und eine goldene Stola. In den Augen seines asketisch hageren Gesichtes loderte ein inneres Feuer. Beim Anblick der jammernden Ann verzog er das Gesicht, als sei er im Begriff, in etwas Schleimiges zu greifen.

Das muss der Purifikant Damian sein, dachte Minn. Genauso ein Hochnas wie Armengal. Ihre Heiterkeit verflog. Sie eilte zu Ann, knickste kurz vor dem Purifikanten und zog die Magd am Arm mit sich hinter die Gartenhecken, ehe Ann noch mehr Schaden anrichten konnte.

»Aua, mein Kopf«, jammerte Ann und betastete das blaurote Horn, das auf ihrer Stirn zu wachsen begann.

»Sei lieber froh, dass dein Hohlschädel keine Delle in den Goldklumpen auf Rädern gemacht hat«, sagte Minn. »Sonst hättest du mit etwas Pech beim alten Armengal Buße tun müssen.«

»Dem gefällt es etwas zu sehr, uns Bedienstete im Namen des Lichts zu züchtigen.« Ann schauderte.

»Eben.« Minn bleckte die Zähne beim Gedanken an die gierigen Griffel des Kardinals. »Kürzlich hat er den armen Onno so geohrfeigt, dass die Wange stundenlang rot war, nur weil der in seiner Gegenwart gegähnt hat. Dabei ist der Junge erst neun.«

»Mir ist schwindelig. Ich glaube, ich muss mich übergeben.«

»Das lässt du schön bleiben. Setz dich da an den Brunnen. Vorsichtig. Ja, so.«

Nachdem Minn die Beule auf Anns Stirn mit Brunnenwasser gekühlt und sich vergewissert hatte, dass die Magd nicht ernsthaft verletzt war, eilte sie zurück zum Hof. Der Purifikant und seine wichtigsten Würdenträger waren bereits ins Herrenhaus verschwunden. Die Soldaten wurden in das lang gezogene Gästehaus geführt, das einst als Stall gedient hatte. Toryan war zurückgeblieben, um die Kutsche mit einer Plane abzudecken. Ob er sie gesehen hatte und auf sie wartete?

Als hätte Minn laut gedacht, sah er sie an, lächelte ihr mit strahlend weißen Zähnen zu und öffnete die Arme.

He, bildete der Kerl sich etwa ein, sie würde jetzt zu ihm hin­rennen, als hätte sie ihn vermisst? Also so was. Wenn, dann hatte er zu ihr zu kommen. Minn plusterte die Wangen auf und stolzierte betont langsam Richtung Kutsche.

»He, du da.« Ein anderer Soldat kam ihr mit einem Pferd am Zügel aus Richtung der Stallungen entgegen. »Ja, dich mein ich. Das dürre Ding mit den dicken Wangen. Bring was zum Striegeln für mein Ross. Und wenn du schon dabei bist, ’n Ingwerbier für mich. Zack, zack!«

Trotz erwachte in Minn. Angriffe und Provokationen jeder Art hatte sie noch nie einfach hinnehmen können, und seit Kurzem war ihr, als warte ein besonders kratzbürstiger Teil ihres Inneren nur darauf, sich in eine Auseinandersetzung stürzen zu können.

Sie blieb stehen und musterte den Kerl. Er war muskulös und annähernd so breit wie hoch, mit kurz geschorenem Haar und einem Kinn wie eine Sturmlaterne. »Donnerkeil und Blitzgewitter«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen, »so was Hässliches hab ich selten am Ende eines Zügels gesehen.«

»Der Hengst ist erschöpft vom langen Ritt, dumme Gans«, schnaubte der Soldat.

»Wer spricht denn von dem Pferd?«

Der Mann brauchte einen Moment. Als er verstand, färbte sich sein Gesicht puterrot. »Na warte. Ich werde …«

»Du wirst jetzt in Ruhe dein Pferd versorgen, Orlid.« Toryan eilte herbei – na bitte, ging doch – und legte seinem Kameraden die Hand auf die Schulter.

»Lass ihn.« Minn tappte mit dem Fuß auf den Boden. »Bin schon gespannt, was Stoppelkopf als Nächstes vorhat.«

»Reiz ihn nicht noch«, warnte Toryan.

»Der versteht eh nicht, was ich sage«, scherzte Minn. »Vielleicht, wenn ich’s ihm vorgrunze?«

Das war zu viel für Stoppelkopfs gekränkte Soldatenehre. Er schüttelte Toryans Hand ab, stapfte auf Minn zu, holte aus …

… und landete mit einem so gewaltigen Phumpp auf dem Hofboden, dass Staub aufwallte. Minn setzte sich auf seinen Brustkorb, seinen Schlagarm in einem Hebel, aus dem selbst ein wütender Bär seine Tatze nicht hätte befreien können. Grimnurs Training zahlte sich aus! Das Schöne war, dass ihr noch eine Hand frei blieb. Sie schüttelte ihr Messer aus dem Ärmelsaum und hielt es so nah an Orlids Hals, dass sie ihm die Barthaare hätte rasieren können. »Mann oder Memme?«, schnurrte sie.

Der Kerl versuchte sich mit aller Kraft zu befreien. Minn strahlte und zog den Hebel an.

»Minn«, donnerte Rynas Stimme über den Hof. »Lass auf der Stelle los.«

»Und dabei hat’s grad angefangen, Spaß zu machen«, brummte Minn, wohlweislich so leise, dass nur der ächzende Orlid es hörte. Sie löste den Hebel, sprang auf die Füße und ließ das Messer unter der Kleidung verschwinden.

»Du … wieso hast du …« Ryna stand vor ihr, am ganzen Körper zitternd, einen Ausdruck nahe der Panik im Gesicht. Minn schluckte. Alle diebische Freude verschwand schlagartig. So hatte sie die Matrone noch nie gesehen.

»Mein Herr«, wandte sich Ryna um Fassung bemüht an den Soldaten. »Bitte verzeiht. Sie ist jung und dumm.«

»Ist das eure Gastfreundschaft?« Orlid rappelte sich auf und rieb sich den Arm. »Wartet, wenn das der Purifikant erfährt.«

»Nein«, entfuhr es Ryna. »Lasst ihn da raus, bitte.«

Der Soldat musterte sie gehässig. »Warum sollte ich?«

»Weil er dich zurück nach Gorvul schickt und zum Fliesen­schrubber degradiert, wenn er hört, was hier passiert ist.« Toryan klopfte Orlid auf die Schulter. »Also hör auf, den Frauen Angst zu machen.«

Orlid presste die Lippen aufeinander.

»Hohe Dame, habt Nachsicht.« Der junge Mann schenkte Ryna ein umwerfendes Lächeln. »Mein Kamerad hat Eure Magd zuerst respekt­los behandelt.«

Die Matrone starrte mit offenem Mund erst Minn, dann ihn an. »Ihr seid Herr Toryan, nicht wahr?«, sagte sie schließlich. »General Nobu will Euch sehen. Und du.« Ihr Zeigefinger stach Richtung Minns Brust. »Du flitzt auf der Stelle in die Küche. Ann soll dem anderen Gast Tee zubereiten, und du weißt ja, wie schusselig sie ist.«

»Welchem anderen Gast?«, fragte Minn verdattert.

»Beim dreischwänzigen Affen, wo treibst du dich bloß ständig rum?« Ryna warf die Hände über den Kopf. »Herr Rojin ist kurz nach Seiner Exzellenz eingetroffen.«

»Der Freischärler? Den würde ich gern sehen«, bemerkte Toryan.

»Ihr folgt mir erst mal zum General.« Rynas Stimme bekam jenen Unterton, bei dem sich das Personal von Gut Eulenstein schleunigst sputete, ihren Wünschen nachzukommen. Offenbar waren Toryans Überlebensinstinkte gut ausgeprägt, denn er zog den Kopf ein und nickte.

»Bis später«, flüsterte er Minn im Vorbeigehen zu.

Sie widerstand dem Drang, ihm einen Klaps auf den Hintern zu geben, und sah ihm stattdessen nach, bis er ins Gebäude verschwand.

»Wenn der Tee kalt wird …«, begann Ryna mit gefährlicher Ruhe.

»Bin schon weg«, rief Minn. Und diesmal eilte sie sich tatsächlich.

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