Читать книгу Schwingenfall - Simon Denninger - Страница 5

Оглавление

1

Botschaft der Nacht


Die Wolken regneten Blut. Ströme von Blut, vermischt mit weißen Federn.

Salzig und warm klatschte es in Toryans Gesicht, doch sein Magen war ein einziger Eisklumpen. Als Grenzwächter in Dimmgrund hatte er mit seinen zwanzig Jahren schon mehr gesehen als die meisten Menschen in einem ganzen Leben, und für gewöhnlich brachte ihn so schnell nichts aus der Ruhe. Aber das hier war übel.

Er kämpfte sich Schritt für Schritt durch die feuchte Heide. Die Erde schmatzte unter seinen Stiefeln. Der Wind heulte, peitschte ihn mit dem Regen, zerrte an ihm, als wollte er ihn zurückhalten. Zumindest hoffte Toryan, dass es der Wind war. Dimmgrund war neutrales Gebiet zwischen den Lichtlanden und der Alten Nacht. Hier gingen mancherlei Geschöpfe um, die in den Städten höchstens in Legenden auftauchten.

Und nun war etwas eingedrungen, was nach Recht und Gesetz nicht hätte da sein dürfen. Ein solches Wesen musste entweder sehr dumm oder sehr mächtig sein. Oder beides. Was nie eine gute Kombination ergab. Schon gar nicht bei Kreaturen, die einen jungen Grenz­wächter als willkommene Zwischenmahlzeit betrachten mochten.

Er vergewisserte sich zum gefühlt zwanzigsten Mal, dass seine Arkebuse feuerbereit war. Sollte er in die Sicherheit der Wächter­festung zurückkehren? Oder die Ursache des Blutregens herausfinden, um ordentlich Meldung machen zu können? Pflichtbewusstsein und Vernunft lieferten sich in seinem Kopf einen heftigen Schlagabtausch.

Dummerweise siegte Pflichtbewusstsein.

Toryan strich sich eine vom Blutregen feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte, durch den dichter werdenden Nebel zu erkennen, was am Himmel vor sich ging.

Seit wann bitte war Nebel eigentlich schwarz?

Ein Schrei zerschnitt die Luft, als würde Kristall bersten. Etwas von der Größe eines Ochsenkarrens trudelte aus den Wolken, schmetterte wenige Fußbreit vor Toryan auf den Boden. Er starrte auf die zerfetzten Überreste und konnte nicht glauben, was er sah.

Vor ihm lag ein Engelsflügel. Muskelstränge zuckten, wo die Schwinge vom Rücken ihres Trägers gerissen worden war.

Weiter hinten im Dunst krachte erneut etwas zu Boden.

Erst als er nach Luft japste, merkte Toryan, dass er den Atem angehalten hatte. Er schaffte es nur mit Mühe, sich nicht zu übergeben. Ein Engel, ermordet. Welche Kreatur vermochte einen solchen Frevel zu begehen?

Das Heulen des Sturms schwoll an. Triumph lag darin, und Genugtuung. Sei vernünftig, sagte Toryan sich. Das ist zu groß für dich. Geh zurück. Jetzt.

Diesmal widersprach sein Pflichtgefühl nicht. Er machte auf dem Absatz kehrt, rannte los – und prallte zurück, als sich unmittelbar vor ihm eine Silhouette vom Himmel senkte, turmhoch, mit mensch­lichen Umrissen. Nun ja, bis auf die Schwingen. Und die Tatsache, dass den Schläfen ein Geweih entsprang.

Je näher die Gestalt dem Boden kam, desto mehr schrumpfte sie, bis sie kaum größer war als Toryan selbst. Der Nebel umtanzte sie wie ein Hund, der freudig seinen Herrn begrüßt. Hinter den Augen des Wesens wallte Rauch. Es öffnete den Mund und entblößte fingerlange Eckzähne.

Ein Blutfürst. Das ist ein verdammter Blutfürst! Toryan wollte die Arkebuse mit den Silberkugeln abfeuern, wollte zum Schwert greifen oder wenigstens fortrennen. Doch seine Finger gehorchten ihm nicht, seine Beine schienen mit dem Boden verwachsen. Wie eine Maus im Angesicht des Bussards starrte er in das düstere Antlitz. Schmal und zerfurcht, besaß es dennoch eine erschreckende Schönheit. Selbst dass purpurnes Engelsblut aus den Mundwinkeln rann, änderte daran nichts.

»Höre mich.« Die Stimme des Blutfürsten klang, als risse eine Klaue morsche Rinde von einem Baum. »Ein neues Zeitalter dämmert herauf. Ob in Frieden oder Blut, liegt an euch Menschen. Ich, Lurmenor, Erzfürst der Altnacht, verlange, dass die Dämmergeborene sich zu mir begibt. Tut sie es nicht, werde ich mein Heer in den Krieg führen. Die Asche eurer Städte wird eure Kehlen zerkratzen, die brennenden Leiber eurer Krieger werden unsere Fackeln sein. So lange, bis wir sie gefunden haben. Hast du verstanden? Gut. So verkünde es deinesgleichen.«

Toryan wollte wegsehen, aber Lurmenors Blick hielt ihn erbarmungslos fest. Der Rauchschleier in den Augen des Blutfürsten zerriss, und Toryan starrte in den Abgrund dahinter. Sein Bewusstsein entglitt ihm und er stürzte hinein in eine Welt aus Eis und Schatten und toten Träumen …


Toryan dachte, er habe ein Lachen gehört. Gesang. Oder war es ein Schrei? Der Schrei eines Engels, den dunkle Klauen zerfetzten?

Keuchend fuhr er hoch. Er erwartete, wolkenverhangenen Dämmer­himmel zu sehen. Stattdessen starrte er auf eine weiß verputzte Zimmerdecke. Mollige Wärme hüllte ihn ein, eine Daunendecke umschmeichelte seine Beine. Es roch nach Fichtennadel und Goldwurz. Jemand hatte ihm Rüstung und Kleider ausgezogen und ihn in ein Leinengewand gesteckt.

Der Raum kam ihm vage bekannt vor. Richtig – er lag in einem Krankenzimmer im Hauptquartier der Grenzwächter in Gorvul. Aber die Hauptstadt befand sich Hunderte Meilen von Dimmgrund entfernt. Wie war er hergekommen?

Er erschauderte, als die Erinnerung vor seinem inneren Auge auftauchte. Lurmenor. Bei allen Himmeln, ich bin auf den Gefallenen getroffen, den Herrn der ganzen verdammten Altnacht! Ich kann froh sein, dass ich noch lebe.

Toryan blickte sich um. Aus der Wand entsprang ein Kupferrohr, das in einen Waschstand aus Porzellan mündete. Handtücher und Seife lagen neben einer Karaffe mit Wasser. Der Anblick machte ihm bewusst, wie durstig er war. Er schlug die Decke zurück und schwang die Beine vorsichtig über die Bettkante. Kein Schwindelgefühl. Das war schon mal ein Anfang.

Ein Blick in den Rundspiegel über dem Becken zeigte ein blasses Gesicht, das er erst auf den zweiten Blick als das seine erkannte. Unter den Augen lagen tiefe Ringe, das braune Haar hing ihm wild zerzaust bis zu den hohen Wangenknochen. Ein prüfender Blick auf den Rest seines drahtigen Körpers verriet, dass er keine Verbände trug. Immerhin. Und das Glücksarmband, das seine Freundin ihm geflochten hatte, befand sich ebenfalls noch an seinem Handgelenk.

Jäh fragte Toryan sich, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Na, eins nach dem anderen. Erst mal den Durst löschen.

Er trank in tiefen Zügen direkt aus der Karaffe. Das Wasser hatte eine süßlich-würzige Note, als wäre es durch Kräuter gesiebt worden. Erfrischt drehte Toryan den Kupferhahn über dem Waschbecken auf. Es blubberte, warmes Wasser floss über seine Hände. Dankbar für diese Segnung, die die Wissenschaft mithilfe der Ratschläge der Engel hervorgebracht hatte, ließ er es über Gesicht und Haare laufen. Er schäumte sich mit der nach Aloe duftenden Seife ein, spülte den Schweiß davon und seufzte selig. Jetzt noch was zu essen und er wäre fast der Alte.

Es klopfte, kurz und präzise. Die Tür öffnete sich, ohne dass Toryan »Herein« gesagt hätte. Der Mann, der eintrat, war dreimal so alt wie er und einen Kopf kleiner, doch sehnig, die Haltung kerzengerade, der Blick scharf. Das akkurat geschnittene schneeweiße Haar und der gleichfarbige Schnauzbart betonten die wettergegerbte Haut. Drei Goldflügel auf der Schulterpartie des Wamses wiesen den Träger als Oberbefehlshaber der Ordenstruppen von Gorvul aus. Vor Toryan stand niemand Geringerer als General Nobu Nagadens, dessen Heldentaten im Ketzerkrieg ihn zu einer lebenden Legende gemacht hatten. Sofort nahm Toryan Haltung an, wobei er sich peinlich bewusst wurde, dass er mit nacktem Oberkörper vor seinem General stand.

»Preis sei Asgreal.« Nobu legte Zeige- und Mittelfinger beider Hände an die Stirn.

»Preis sei Asgreal.« Toryan erwiderte die Geste, wobei er den Kopf ein gutes Stück tiefer senkte als sein Gegenüber.

»Du bist also endlich wach. Gut. Dein Name ist Toryan, richtig?«

»So ist es, Herr.«

»Rühren, Toryan.«

»Danke. Herr, wie bin ich hergekommen, wenn ich fragen darf?«

»Rojin hat dich gefunden und uns zu dir geführt.«

»Der Freischärler aus Dimmgrund?«

Nobu nickte. Sein Gesicht verdüsterte sich. »Keine hundert Fuß von dir fanden wir die Leiche Mawjahs.«

Mawjah also. Der Engel der Scharfsicht, der die spärlich besiedelte Grenzregion beschützt und stets ein waches Auge auf all das gehabt hatte, was sich in den Ausläufern der Altnacht tat. Toryan hatte ihn während seiner zwei Jahre bei der Grenzwacht nur einmal gesehen. An jenem Abend war der Engel inmitten der Wächter gelandet, um sie vor einer Rotte Nachtkrabbler zu warnen, die es irgendwie auf die falsche Seite der Grenze geschafft hatte. Mawjah glich äußerlich einer Frau, von einer Schönheit, die selbst die Blumen beschämte, aber mit der Stärke von hundert Männern. Und jetzt war sie tot. Zerfetzt vom Erzfürsten der Dunkelheit. Toryan schluckte. »Wie lange war ich ohnmächtig?«

»Drei Tage und drei Nächte. Nichts und niemand konnte dich wecken. Wir brachten dich mit einem der Luftschiffe hierher. Was hast du gesehen, Junge?«

Toryan sah es überdeutlich vor sich. Augen wie Risse in der Wirklichkeit, und dahinter … Er drängte das Entsetzen aus seinen Gedanken und begann stockend seinen Bericht. Vom Patrouillengang. Vom Sturm. Vom Kampf, dessen Augenzeuge er geworden war – na ja, mehr oder weniger, schließlich hatte er vom Gefecht in den Wolken nicht viel mitbekommen. Und von Lurmenors Botschaft.

Die buschigen Augenbrauen des Generals schossen nach unten wie Fallbeile. »Willst du mir allen Ernstes erzählen, du hättest mit dem Gefallenen gesprochen?«

»Er redete von sich als Lurmenor, ein Geweih wuchs aus seinem Schädel, und er hatte Fangzähne. Wenn das nicht der Gefallene war, so war es zumindest ein mächtiges Problem.« Toryan stockte. »Verzeiht die Ausdrucksweise, Herr«, setzte er rasch hinterher.

Nobu überging die flapsige Bemerkung. »Ich hörte, du hast Heimat­urlaub eingereicht?«

Toryan nickte. »Zum ersten Mal.«

»Dein Vorgesetzter sagte mir schon, dass du dich bei den Grenz­wächtern bereits unverzichtbar gemacht hast.« Ein Lächeln huschte über die Züge des Generals, verschwand aber so schnell, wie es gekommen war. »Ich fürchte, aus dem Urlaub wird vorerst nichts. Der Purifikant wird dich befragen wollen.«

Obwohl er eine Karaffe Wasser getrunken hatte, fühlte Toryans Mund sich plötzlich so trocken an, als hätte er Motten gekaut. Der Purifikant, Damian Fallanidens, war das Oberhaupt des Klerus und somit Herrscher über die gesamten Lichtlande, mit Ausnahme der Ketzerrepublik Freiholt. Zusammen mit den Kardinälen bildete er den Zirkel der Auserwählten, dem die Engel den Willen Asgreals übermittelten. Damian galt als ebenso weise wie streng. »Mein letzter Besuch in der Zitadelle ist eine Weile her«, gestand Toryan zerknirscht.

»Dann schlage ich vor, du ziehst dir was Ordentliches an, isst etwas und holst das schleunigst nach«, brummte Nobu. Auf dem Weg zur Tür wandte er sich noch einmal um. »Ich bin froh, dass du überlebt hast, Junge.«

»Danke, ich ebenfalls«, gab Toryan verdattert zurück. Wieso sollte das Schicksal eines einfachen Grenzwächters den hochdekorierten General kümmern?

Doch ehe er fragen konnte, hatte Nobu den Raum verlassen.

Schwingenfall

Подняться наверх