Читать книгу Schwingenfall - Simon Denninger - Страница 8
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Alte Schatten
Er war zurück. Der Albtraum, der Minn zuletzt als Kind geplagt hatte. Einer alten Abendsonne gleich war er im Lauf der Jahre verblasst, doch nun packte er sie erneut und zog sie in sich hinein …
Die werdende Mutter keuchte und stöhnte. Schweiß verklebte ihr Haar, durchtränkte ihr Leinengewand, troff auf die zerwühlten Laken.
»Weiterpressen, schön weiter.« Die Hebamme legte ihr die Hand auf den klitschnassen Arm. »Atmen. Pressen. Atmen. Pressen. Gut so.«
Irgendwo im Haus polterte etwas zu Boden. Die beiden Frauen nahmen es nur am Rande wahr.
Die Gebärende schrie auf. Ein Köpfchen erschien zwischen ihren Schenkeln.
»Es kommt«, frohlockte die Hebamme. »Noch ein wenig mehr, dann ist es geschafft.«
Die junge Mutter nickte und krallte die Hände in die Holzplanken des Bettes, den Blick zur Decke gerichtet.
Ein Schatten flackerte an der Tür. Vom Kerzenlicht?
»Es ist fast so weit.« Die Hebamme beugte sich vor.
Es knackte, als trete ein Stiefel auf einen morschen Ast. Das Lächeln der Hebamme blieb, doch ihr Kopf stand auf einmal in einem unmöglichen Winkel ab. Ihr Blick wurde glasig und sie sackte zu Boden. Die junge Mutter schrie, als sie sah, was hinter der Helferin zum Vorschein kam.
Ihr Schrei wurde zum Gurgeln, als der Blutfürst seine Fänge in ihren Hals versenkte, sich an ihr betrank.
Und das Neugeborene, noch an der Nabelschnur, brüllte, während die Kreatur der Alten Nacht das Leben aus seiner Mutter saugte …
Minn schreckte schweißgebadet von ihrem Lager hoch. Sie musste geschrien haben, denn vor dem Fenster flatterte eine Nachtigall erschrocken davon.
Sternenlicht fiel in die Dachkammer, deren Schrägen Minn schon manche Beule beschert hatten. Doch es war ihre Kammer, und sie hätte sie gegen keines der pompösen Adelszimmer im Haupthaus von Gut Eulenstein getauscht. Na ja, zumindest wenn sie nicht das Gefühl hatte, dass ein Vampir in den Schatten lauerte.
Sie sah sich um. Nirgends fletschte jemand zu lange Eckzähne. Minn entkrampfte die Fäuste und ließ sich auf die Strohmatte zurücksinken. Von draußen drang das Zirpen der Grillen herein. Sonst war alles friedlich.
Minn griff sich die Holzfigur, die Chun ihr geschenkt hatte, als sie mit fünf als Waise nach Gut Eulenstein gekommen war. Sie hatte viel geweint und Angst im Dunkeln gehabt. Doch der Holzfäller hatte gelächelt, ihre Tränen weggewischt und ihr das Schnitzwerk in die Hand gedrückt. Es war kaum größer als eine Hand und zeigte einen bärtigen Mann mit Schlapphut und einem Amulett mit einer Waage darauf um den Hals, der sich auf einen Speer stützte. »Der passt ab jetzt auf dich auf«, hatte Chun erklärt. »Er ist ein Zauberer, weißt du. Solange er bei dir ist, traut sich nichts Böses an dich ran.«
An Zauberer glaubte Minn längst nicht mehr. Und einen anderen Mann in ihrem Bett wollte sie auch nicht, seit sie vergangenes Jahr den Grenzwächter Toryan kennengelernt hatte. Dennoch spendete es ihr stets Trost, die abgegriffene Figur in Händen zu halten. Abwesend streichelte sie das Holz. Allmählich beruhigte sich ihr hämmerndes Herz. Sie starrte zu den Deckenbalken. Wieso kroch dieser Albtraum gerade jetzt erneut durch all die Schichten hindurch, unter denen sie ihn begraben hatte? Und wieso wirkte er so real, als fräße er sich durch eine dünner werdende Barriere von der Fantasie in die Wirklichkeit?
Zumindest wusste sie, woher dieser Nachtmahr rührte. Von einem der Märchen, die Chun erzählt hatte, wenn die kleine Minn mal wieder so lange um eine Geschichte bettelte, bis ihr Geleier ihm zu den Ohren herausquoll und sie bekam, was sie wollte. Chun kannte viele Geschichten. Doch die mit dem Blutfürsten war die einzige gewesen, bei der am Ende kein Lächeln seine Züge umspielt hatte. Wenn Minn recht drüber nachdachte, hatte er überhaupt nur einmal damit herausgerückt, nachdem er sehr viel Wein getrunken hatte …
Jetzt hör auf zu grübeln, du Gewitterziege, schalt sie sich. Die Nacht ist zum Schlafen da. Morgen wird anstrengend genug, wenn ich Wäsche machen und Beete jäten muss.
Trotzig rammte sie ihren Kopf ins Kissen und befahl sich, wieder einzuschlafen. Zu ihrer Verblüffung klappte es tatsächlich, und als sie diesmal in die Traumwelt trudelte, warteten dort nur Tomaten und Kürbisse, die lachend davonkullerten, wann immer Minn sie in ihren Weidenkorb zu legen versuchte.