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1.3 Mehrdeutigkeitmehrdeutig und Ausdeutbarkeitmehrdeutigund ausdeutbar

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Der konstruktive Aspekt des Bedeutens wird vielleicht offensichtlicher, wenn man die Tätigkeit des Bedeutens jenseits der Sprache in den Blick nimmt. Mehrdeutigkeit – oder besser gesagt, unterschiedliche Ausdeutbarkeit – begegnet uns nicht nur in der Sprache. Vielmehr ist sie ein allgegenwärtiges Phänomen. Was immer wir wahrnehmenWahrnehmung – einen auf uns zulaufenden Hund, einen Geruch, ein Geräusch, ein Bild vor unserem inneren Auge – versehen wir automatischAutomatismusAktivitätsartAutomatismus oder routinemäßigRoutine, RoutinisierungAktivitätsartRoutine, Routinisierung mit einer Deutung, das heißt wir be-deuten es. Es gibt wohl kein Phänomen, das nicht verschiedenartig deutbar wäre. Phänomene zu deuten ist so basal, weil unsere menschliche Existenz ohne diese Tätigkeit nicht denkbar wäre. Es hält uns in der spezifisch menschlichen Weise reaktionsReaktion- und handlungsfähighandlungsfähig. Um nur die äußeren Extreme zu nennen: Es schützt uns vor Gefahren für LeibLeib und Leben, eröffnet uns HandlungsmöglichkeitenHandlung für selbstgesetzte Zwecke und erlaubt uns, unsere Gene in einer Weise weiterzugeben, die für die Reproduktion aussichtsreich ist. Wir deuten Phänomene in jedem wachen Moment. Diese lebenserhaltenden und lebensermöglichenden Funktionen des Bedeutens geben die Hinsichten vor, in denen wir Phänomene deuten. Als Annäherung an diese Hinsichten können uns die deutschen W-WörterW-Fragen dienen: Was oder wer ist es (zum Beispiel: Freund oder Feind)? Wo ist es (zum Beispiel: zu nah)? Woher kommt es (zum Beispiel: Ist da noch mehr davon)? Was oder wer hat es verursachtUrsache (zum Beispiel: Warum passiert es)? Wohin geht es (zum Beispiel: Hört es auf)? Zusammen:

 WasWas steht womit in welcher Beziehung? steht womit in welcher Beziehung?

Die Antworten auf diese Fragen, das Deuten von Phänomenen, stehen im Dienst einer übergeordneten Frage:

 Was kannWas kann ich tun? ich (jetzt) tun?

Unsere wachen Momente sind in der Regel nicht dadurch gekennzeichnet, dass wir interesselos dasitzen und Eindrücke auf uns einströmen lassen, obwohl so manches kognitionswissenschaftliche Laborexperiment unter dieser Prämisse durchgeführt zu werden scheint. Stattdessen bewegen wir uns die meiste Zeit aktiv durch unsere Umwelt und versuchen, unsere kleinen (Tasse nehmen) oder großen (Raketenwissenschaftlerin werden) Ziele zu erreichen. Daher verwundert es kaum, wenn die Antworten auf die obigen W-Fragen, die uns alle ständig betreffen, bei verschiedenen Personen in derselben Situation oder bei derselben Person in verschiedenen Situationen, unterschiedlich ausfallen.

Wie unsere Deutungen ausfallen, ist abhängig von unserer menschlichen Physis und Kognition, von sozialen NormenNorm und KonventionenKonvention, von der inneren und äußeren Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden, und von dem, was ich die „-enz-enz-Faktoren“-Faktoren-enz-FaktorenSalienz von Phänomenen nenne: ihrer Salienz, PertinenzPertinenz, FrequenzFrequenz und RezenzRezenz.1 SalienzSalienz betrifft die Auffälligkeit von Phänomenen in der Wahrnehmung, noch bevor sie als etwas (Was ist es?) erkannt wurden. Auffällige Phänomene sind diejenigen, die überhaupt erst Gegenstand der W-Fragen werden, zum Beispiel ein Knall oder etwas, das sich in unser Sichtfeld bewegt und dadurch unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. PertinenzPertinenz betrifft die Relevanz von Phänomenen vor dem Hintergrund unserer gegenwärtigen Handlungsziele und -interessen. In verschiedenen Situationen kann das gleiche Phänomen (zum Beispiel das Schild Frische Kreppeln) aufgrund verschiedener Pertinenzen (durch Hunger gegenüber Magen-Darm-Grippe) in Hinsicht auf die FrageWas kann ich tun? Was kann ich tun? verschieden bedeutet werden. Was ich tun kann, verengt sich in Abhängigkeit von der Pertinenz eines Phänomens darauf, was ich tun will. FrequenzFrequenz betrifft die Auftretenshäufigkeit von Phänomenen in Beziehung zu anderen Phänomenen. Jemand, der schon mehrmals von einem Hund verletzt wurde, wird das Herannahen eines Hundes mit einer anderen Bedeutung versehen als ein durchschnittlicher deutscher Hundezüchter, dem gewöhnlich nur die Hand abgeschlabbert wird. Was oft zusammen in einem bestimmten Kontext auftritt, wird leichter zusammen erinnert und dafür liegt in entsprechenden Kontexten leichter ein Deutungsrezept samtDeutungsroutineRoutine, Routinisierung DeutungsroutineRoutine, Routinisierung bereit. Das kann auch das gemeinsame Auftreten von grammatischen Form(typ)en und Funktionen betreffen. Wenn eine immer die Form gib am Satzanfang wahrgenommen hat und (erfolgreich) als Befehl, etwas zu geben interpretiert hat, wird sie die Form auch beim nächsten Auftreten so interpretieren. Tatsächlich scheint der Frequenz eine große Bedeutung in der Sprache zuzukommen. Ähnliches wie für frequente Phänomene gilt auch für rezenteRezenz Phänomene, also solche, die kurz vor dem Wahrnehmungsereignis schon einmal wahrgenommenWahrnehmung und gedeutet wurden. Die früher vorgenommene Deutung ist leichter wieder zu aktualisieren als eine davon abweichende.

Die Grenzen hinsichtlich der Möglichkeit, einem Phänomen Bedeutung zuzumessen – und damit seiner Ausdeutbarkeit – sind prinzipiell nur durch die kognitiven und physischen Schranken des Menschen gezogen. Die Breite der faktischen Bedeutungszuweisungen dürfte aber nicht viel geringer als die der möglichen sein. Kulturelle Variation besteht nicht nur hinsichtlich gravierender Unterschiede in den typischen Situationen, in denen Menschen sich befinden – im Kaffeehaus in Marokko, im Giraffengehege in Frankfurt, bis zum Hals im Sumpf bei den Pirahã – und damit hinsichtlich der salientenSalienz, frequenten und rezenten Phänomene, mit denen Menschen konfrontiert sind, sondern auch in der Ausprägung der PertinenzPertinenz-Systeme sowie in normativenNorm Beschränkungen der Frage WasWas kann ich tun? kann ich (jetzt) tun? auf die Frage Was darf, soll oder muss ich (jetzt) tun?.

Ähnlich wie sprachliche Phänomene sind nichtsprachliche Phänomene nämlich ebenfalls nicht beliebig ausdeutbar. Auch ihre Deutungen sind durch soziale KonventionenKonvention begrenzt und unstatthafte Interpretationen führen zu Misserfolg. Das gilt beispielsweise für die Zuschreibung von VerantwortlichkeitVerantwortlichkeit. Im Zusammenleben von Menschen ist die Frage, ob jemand etwas verantwortlich – also geplant, kontrolliert, willentlich, bewusst – tut, tun kann oder getan hat, oder eben nicht, von überragender Bedeutung. Wir können aber mit unseren Sinnesorganen gar nicht erfassen, ob jemand etwas verantwortlich tut oder ob es ihm bloß passiert. Wenn Opa Willi jetzt noch ein Glas in der Hand hat, sich dann der Griff etwas lockert und das Glas zu Boden fällt, nehmen wir nicht wahr, ob er aus zweckrationalen Erwägungen den Griff gelockert hat, damit das Glas herunterfällt, oder ob ihm die Lockerung des Griffs aus Versehen widerfahren ist. Wir unterlassen in solchen Fällen die Interpretation aber nicht. Wir interpretieren jemandes Tun in solchen Situationen trotzdem hinsichtlich Verantwortlichkeit, aber eben nicht beliebig. Wenn sich jemand konsequent jedes auch noch so zufällige oder glückliche WiderfahrnisWiderfahrnis öffentlich als Verdienst zurechnet und gleichzeitig jemand anderem für jedes versehentliche Missgeschick ebenfalls öffentlich Verantwortlichkeit zuschreibt, dann wird dies sehr wahrscheinlich sozial sanktioniert werden. So können soziale NormenNorm oder KonventionenKonvention der Ausdeutung von nichtsprachlichen Phänomenen Grenzen setzen.

Eine sprachliche Äußerung ist nicht nur Anlass einer Deutungstätigkeit, wie derjenigen unserer Leserin des Beispiels in (1), sondern aus anderer Perspektive auch das Resultat einer solchen Deutungstätigkeit. EmilS Nöi Teschtamänt Weber hat mit der Äußerung Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa für die Leserinnen der Evangelien schon vieles verschieden Ausdeutbare in der berichteten nichtsprachlichen Situation ausgedeutet. Dabei hat er die Ausdeutung des Evangelisten Johannes in dessen griechischem Text vermittelt. Weber hat unter anderem das Geschehen in der Vergangenheit situiert (hät … gnaa), es in den Kontext früheren Geschehens gestellt (Und …), es innerhalb der Vergangenheit nochmals zeitlich verortet (vo säbere Stund aa) und er hat eine Aktivität des zu-sich-Nehmens (… zue sich gnaa) identifiziert. Johannes (und Emil Weber als Vermittler) hat all diese Deutungen anstatt unzähliger anderer möglicher Deutungen vorgenommen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Er hat etwas als ‚zu sich nehmen‘ gedeutet und es entsprechend sprachlich mitgeteilt. Das Phänomen, das der Deutung zugrunde lag, ist verschiedenartig ausdeutbar, etwa als ‚zufällig gemeinsam irgendwohin gehen‘, ‚zufällig hintereinander in die gleiche Richtung bewegen‘ oder ‚entführen‘, um nur einige naheliegende Deutungen zu nennen. Diese normenNorm- und durch die „-enz-enz-Faktoren“-FaktorenFilter gefilterteFilter-enz-Faktoren DeutungsarbeitDeutungsarbeitArbeitArbeit hat bereits Johannes (vermittelt durch Emil Weber) der Leserin abgenommen. Mit seiner Äußerung unterbreitet Emil Weber nun wiederum der Leserin ein Deutungsangebot, das sie zunächst einmal nachvollziehen muss, noch bevor sie es als angemessen anerkennen oder ablehnen kann. Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa ist also Emil Webers sprachkonventionengefilterterKonvention Ausdruck dieses Geschehens und er dient der Leserin als eine Anleitung zum Nachvollzug einer hinreichend ähnlichen Vorstellung dieses Geschehens. Der im gegenwärtigen Zusammenhang wichtigste Aspekt dieser Ähnlichkeit ist die Frage, was womit inWas steht womit in welcher Beziehung? welcher Beziehung steht. Und da ist Emil Webers sprachlich vermitteltes Deutungsangebot, anders als dasjenige Johannes’, wie wir sehen werden, mehrdeutig. Es sollte beinhalten, wer wen zu sich nimmt, und die Äußerung bietet der Leserin diesbezüglich si de Jünger an.

Der Mensch und seine Grammatik

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