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2.2 Die Leistung der sprachlichen Eigenstruktur 2.2.1 Die Überstrukturiertheit sprachlicher KonventionenKonvention

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Dass das Deutsche, wie jede andere Sprache auch, seine eigenen Einteilungsschablonen aufweist, wovon die WortartenWortart eine sind, und dass diese nur lose mit der vorsprachlichen Einteilung in Dinge und Eventualitäten korrespondieren, führt dazu, dass unsere Interpretin nicht weiß, wo sie in der Äußerung in (4) ihren interpretativen Anker werfen soll. Ich hatte sie ja nur mit ihrem ererbtenererbt (vs. erworben) und erworbenenerworben (vs. ererbt), vorsprachlichen Know-howKnow-how über Gegenstände und Eventualitäten ausgestattet. Selbst wenn wir nun davon ausgehen, dass sie Da, Jünger, nahm, Mutter, Jesu und zu aus der Äußerung segmentieren und damit etwas assoziieren kann, kann sie eben (noch) nicht die Wortarten der Segmente erschließen (und wenn wir berücksichtigen, dass die Äußerung auf andere folgt und anderen vorangeht, kann sie auch nicht angeben, wo sie beginnt und endet). Sie muss also die Einteilungsschablone kennen, die zur sprachlichen Eigenstruktur gehört und wissen, welche lexikalischen Lücken diese Schablone (konventionell) füllt und welche sie offenlässt. Sie würde dann wissen – im Sinne eines Know-hows –, dass sie es in der Äußerung Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich … mit den KategorienWortart Adverb, Verb, Artikel, Substantiv, Artikel, Substantiv, Substantiv, Präposition, Reflexivpronomen zu tun hat. Aber wo kann sie ihren interpretativen Anker werfen?

Ein möglicher Ankerpunkt dürfte für die Interpretin die Kenntnis sein, welche HandlungHandlung der Schreiber vollzieht, indem er die Äußerung tätigt. Wir haben gesehen, dass allein schon das Ansprechen der Interpretin eine kommunikative Handlung ist. Sie weiß aber noch nicht, was für eine Handlung es ist. Behauptet, erfragt oder befiehlt der Schreiber etwas? Natürlich könnten wir sagen, dass in dem Ausdruck Jünger eine Zuschreibung steckt, die einem Gegenstand das Jüngersein zuschreibt. Aber die Äußerung in (4) enthält neben dieser und ähnlichen Zuschreibungen eine noch zentralere, nämlich die zu-sich-Nehmen-Beziehung zwischen dem Jünger und der Mutter Jesu. Vor dem Hintergrund dieser Beziehung werden das Jüngersein des Jüngers und das Mutter-Jesu-Sein der Mutter zwischen Schreiber und Interpretin bloß vorausgesetzt. Die Nehmen-Beziehung ist einerseits zentral, weil sie als Eventualität salienterSalienz ist als das Jünger- und Muttersein. Dass sie dem Jünger und der Mutter zukommt, ist flüchtig und veränderlich und provoziert in besonderer Weise Antworten auf die W-FragenW-Fragen. Die Nehmen-Beziehung ist andererseits zentral, weil sie durch Ausdrucksmittel gekennzeichnet ist, die zur Eigenstruktur der Sprache gehören. Das ist im Deutschen und Englischen vor allem die Finitheit des Verbs, mit der diverse Funktionen wie Person, Numerus, Modus, Tempus, (mehr oder weniger periphrastisch) Diathese und die KasusbestimmungKasus für das Subjekt assoziiert sind. In der Äußerung in (4) ist nahm ein finites Verb und zeigt die 1. oder 3. Person Singular Indikativ Imperfekt Aktiv an. Damit geht einher, dass die Nehmen-Beziehung, nicht aber das Jünger- oder Muttersein zur Debatte gestellt wird. Anhand weiterer Merkmale der sprachlichen Eigenstruktur kann die Interpretin dann erschließen, ob der Schreiber ihr etwas mitteilt, sie etwas fragt oder ihr etwas befiehlt. Zu diesen Merkmalen gehören die Abfolge der Elemente (Nahm der Jünger … zu sich?), die FlexionsformMorphologie des Verbs (Nimm … zu dir!) und die ProsodieProsodie (Der Jünger nahm … zu sich?/.). Das heißt, wenn jemand auf die Äußerung in (4) hin Das stimmt nicht. ohne weitere Ausführungen antwortet, bestreitet sie, dass die Beziehung so bestand, aber nicht, dass den in dieser Beziehung vorkommenden Gegenständen das Jüngersein, Muttersein und so weiter zukommt. Diese Zuschreibungen sind zwar prinzipiell auch anerkennbar oder bestreitbar, aber sie stehen in dieser konkreten Äußerung nicht zur Debatte, weil sie nicht explizit mittels finiter Verbformen zugeschrieben werden.

Die Interpretin könnte so ihren interpretativen Anker in die Entäußerung des Schreibers werfen und nun Antworten auf die W-FragenW-Fragen suchen, die durch die Äußerung provoziert werden.

Ich möchte wenigstens versuchen, prinzipiell nachzuvollziehen, über welche Kenntnisse die Interpretin verfügen muss, um ihren Anker in die Äußerung werfen und Antworten auf die W-Fragen geben zu können. Welche Antworten kann sie geben, welche wird sie nicht geben, und warum? Dies darzustellen muss einerseits sehr allgemein und kursorisch ausfallen. Es ist leicht zu sehen, dass eine ausführliche Beschreibung der Ursachen, warum die Deutungen sprachlicher Äußerungen nicht willkürlich erfolgen, einer Universalgrammatik nahekäme, die erklärt, warum Sprache als menschliches Phänomen sowie Einzelsprachen als ihre Instanzen jeweils als Kommunikationsmittel funktionieren. Sie muss andererseits auch zu spezifisch ausfallen, weil ich mich im vorliegenden Buch primär für das Deutsche und Englische interessiere sowie für die W-Fragen in Bezug auf den Äußerungsinhalt. Zum Dritten kann eine schrittweise, das heißt methodische Rekonstruktion der Geregeltheit von Deutungen nicht geleistet werden. Der Grund ist folgender: Bei der Beschreibung, wie die Interpretin ihren interpretativen Anker werfen kann, haben wir bereits auf einige Ausdrucksmittel Bezug genommen, die bereits zur konventionalisierten Eigenstruktur von Sprache gehören, zum Beispiel auf WortartenWortart, SatzgliedreihenfolgeReihenfolge, ProsodieProsodie und FlexionMorphologie. Wenn wir diese Regelungen, denen Deutungen unterliegen, schrittweise einführen wollten, könnten wir sie uns in Form von Wenn …, dann …-Instruktionen denken, so zum Beispiel: Wenn die Äußerung Jünger aufweist, stelle Dir einen bestimmten Jünger vor! Die Schwierigkeiten sind leicht zu erkennen: Der Ausdruck Jünger benötigt für seine Bestimmtheit einen Determinierer. Um die Bestimmung nachzuvollziehen, wird ein Ko(n)text benötigt. Der Determinierer muss in KasusKasus, Numerus und Genus mit Jünger kongruierenKongruenz. Jünger kann auch ein Plural sein. Jünger kann überdies auch als Komparativ von jung verwendet werden. Und warum sollte Jünger ein Ausdruck für einen Gegenstand sein und nicht für eine Tätigkeit oder eine Eigenschaft? Die Anweisung müsste also in der Wenn-Klausel alle unerwünschten Deutungen ausschließen. Dafür müssten wir die Wenn-Klausel um weitere Wenns erweitern, bis die Dann-Klausel erfolgreich befolgt werden könnte. Konsequent durchgeführt, würde das darauf hinauslaufen, dass jede einzelne dieser Wenn …, dann …-Anweisungen unzählige, wenn nicht alle Wenn-Klauseln für eine Sprache, das heißt alle eigenstrukturellen Regelungen für erfolgreiche Interpretationen enthielte. Der erste Schritt der Rekonstruktion wäre damit unter Umständen schon der letzte.

Der Mensch und seine Grammatik

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