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1.4 Verstehenverstehen

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Wenn sie sich anstrengt, kann sich unsere hochalemannische Leserin natürlich über alle Konventionen hinwegsetzen und die Äußerung Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa so individuell und konstruktiv bedeuten, wie sie möchte. Dabei sind ihr keine Grenzen gesetzt. Es sind durchaus Zwecke denkbar, vor deren Hintergrund solche unkonventionellen Interpretationen motiviert, also pertinentPertinenz hinsichtlich eines Zweckes sind. Ob eine solche Praxis aber alltäglicher gelungener Kommunikation zuträglich ist, ist eine andere Frage. Weite Teile unserer sprachlichen Interaktion koordinieren und organisieren andere sprachliche und nichtsprachliche HandlungenHandlung. Damit diese wiederum erfolgreich sind, ist es nötig, dass wechselseitige sprachliche Äußerungen von den Beteiligten nicht willkürlich interpretiert werden. Aber unter welchen Umständen können wir jetzt sagen, dass die Leserin Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa nicht nur interpretiert, sondern auch verstanden hat?

Anders als fast alle anderen menschlichen Tätigkeiten scheint Deuten oder Interpretieren nicht misslingen zu können. Dabei kommt immer etwas heraus, was den Namen Deutung oder Interpretation verdient. Aber man kann erfolgreich oder erfolglos interpretieren, je nachdem, ob die Interpretation ihre Funktion erfüllt beziehungsweise zur Realisierung des Zweckes führt, für den sie das Mittel gewesen ist.

Wenn ich im besten Wissen Diesel in mein Benzinfahrzeug fülle, um weiterfahren zu können, dann habe ich offenbar bestimmte Phänomene, unter anderem den Zapfhahn und das Fahrzeug, in irgendeiner Weise gedeutet, die sie mir zu Handlungsgegenständen macht, aber eben in einer Weise, die meinem Handlungserfolg nicht zuträglich ist. In diesem Moment habe ich vor dem Hintergrund meiner Ziele den Zusammenhang zwischen dem Zapfhahn, meinem Fahrzeug und der Möglichkeit des Weiterfahrens zwar gedeutet, aber nicht verstanden.

Ähnlich verhält es sich zunächst mit sprachlichen Äußerungen. Eine Wegbeschreibung wird ein Umherirrender üblicherweise mit dem Zweck interpretieren, dass sie ihn über kurz oder lang zum gewünschten Ort bringt. Die Ankunft am Zielort ist ein Erfolgskriterium für die Interpretation beziehungsweise für das Verstehen der Wegbeschreibung. Aber anders als beim nichtsprachlichen Tankbeispiel ist hier noch eine andere Person involviert, die den Weg beschreibt und die – anders als der Zapfhahn – eigene Ziele verfolgt. Diese Person kann unterschiedliche Einstellungen zu dem einnehmen, was sie sagt. Sie kann den Zweck des Fragenden zu einem gemeinsamen machen und ihm nach bestem Wissen und Gewissen den Weg mitteilen. Sie kann aber auch einen anderen Zweck verfolgen, zum Beispiel den Fragenden zu belügen, damit er an einem anderen Ort als dem Gewünschten herauskommt.

Ein sprachliches Ereignis ist also (mindestens) ein zweischichtiges Ereignis und muss daher auch auf jeder Schicht einzeln gedeutet werden. Meine obigen W-FragenW-Fragen stellen sich einerseits für das Ereignis, in dem jemand Geräusche, Gesten oder Graphisches hervorbringt, also grob gesprochen für die HandlungHandlung des Äußerns. Sie stellen sich andererseits für das vokalisch, gestisch oder graphisch Geäußerte, also für das konventionellKonvention sprachlich Ausgedrückte. Beides muss interpretiert werden. Unser Umherirrender kann sowohl das, was die Auskunftgeberin tut, indem sie ihm den Weg beschreibt – zum Beispiel helfen oder belügen – als auch das, was sie in ihrer Äußerung mitteilt – den Weg zu einem Ort – verstehen oder missverstehen. Der Fragende kann also gleichzeitig den Äußerungsinhalt verstehen und trotzdem nicht seinen Zielort erreichen, weil er das, was seine Gewährsperson getan hat, indem sie ihm einen Weg beschrieb, missverstanden hat. Ähnlich wie beim Tanken lassen sich für das Verstehen der ÄußerungshandlungÄußerungshandlung prinzipiell praktische Kriterien angeben, nämlich praktischer Erfolg oder Misserfolg hinsichtlich des eigenen Ziels infolge der Interpretation. Kommt unser Umherirrender am Brauhaus statt am Bahnhof heraus und hat er den Äußerungsinhalt richtig interpretiert und ansonsten alles richtig gemacht (was ich hier voraussetzen möchte), kann er davon ausgehen, dass er die HandlungHandlung seiner Gewährsperson falsch gedeutet hat, beziehungsweise nicht verstanden hat, dass sie ihn also getäuscht hat. Unser Umherirrender könnte, am Brauhaus statt am Bahnhof angekommen, wohin er eigentlich wollte, einer kompetenten und kooperativeren Zeitgenossin die Wegbeschreibung nacherzählen, die er befolgt hat. Wenn sie ihm sagt, dass die Wegbeschreibung den Weg zum Brauhaus, aber nicht zum Bahnhof richtig wiedergibt, weiß er, dass er die Wegbeschreibung verstanden, aber die Motive der Gewährsperson falsch verstanden hat. Auf diese Weise ist prinzipiell unterscheidbar, ob etwas oder jemand missverstanden wurde. Im Einzelfall wird aber bisweilen nicht mehr zu klären sein, ob die Äußerung oder die Handlung der Interaktionspartnerin oder beide missverstanden wurden, weil beide nicht mehr verfügbar sind.

Im Falle unserer hochalemannischen Bibelleserin ist die Äußerung verfügbar, der Interaktionspartner, der Urheber der Äußerung, dagegen nicht, weder EmilS Nöi Teschtamänt Weber noch Johannes, der Evangelist. Die Interpretation der Leserin, ihre Antwort auf die Frage WasWas steht womit in welcher Beziehung? steht womit in welcher Beziehung? war ja, wie ich zu Anfang angenommen hatte, dass in Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa Maria den Jünger zu sich nahm. Ob sie damit die Äußerung auch verstanden hat, wird sie vielleicht nie erfahren, weil ihre Interpretation keine praktischen Folgen zeitigt, wie dies im Tankbeispiel und bei der Wegbeschreibung möglich wäre. Aber wir, die wir die Deutungen unserer Leserin deuten, können, möglicherweise im Unterschied zu ihr, trotzdem angeben, ob sie die Äußerung richtig oder falsch verstanden hat. Wir können dem Urheber der Äußerung aufgrund der Äußerung, die allen Konventionen der hochalemannischen Sprache folgt, zuschreiben, welche Vorstellung er davon gehabt haben muss, was in der berichteten Situation was ist, wo was ist und was womit in welcherWas steht womit in welcher Beziehung? Beziehung steht. Für grammatisch eindeutigeeindeutig Äußerungen ist es ohnehin möglich anzugeben, wie sie hinsichtlich der Frage zu verstehen sind, was in ihnen womit in welcher Beziehung steht. Für grammatisch mehrdeutige Äußerungen wie Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa kann man sich, zumindest im Falle der Bibel, mit der Textsorte behelfen. Das Neue TestamentNeues Testament ist in ca. 1900 Sprachen übertragen und was in einer Bibel grammatisch mehrdeutig ist, ist in vielen anderen grammatisch eindeutigeindeutig.1 Das wird für die spätere Untersuchung von großem Nutzen sein. Wir können dagegen nicht viel Zuverlässiges darüber sagen, welche Ziele Weber und Johannes verfolgt haben, indem sie uns ihre neutestamentlichen Äußerungen vorgelegt haben. Nach eigener Aussage wollte Weber aber genau übertragen.2 Damit verschöbe sich die Frage nach den Motiven und Zwecken zurück zu Johannes und würde zu einer theologischen. Aber beide haben sich schon in notwendiger Weise kommunikativ kooperativ gezeigt, indem sie uns Texte vorgelegt haben, die den KonventionenKonvention ihrer jeweiligen Sprache entsprechen. Wir können davon ausgehen, dass der Evangelist Johannes – der sich möglicherweise in der Rolle des Lieblingsjüngers Jesu selbst in der Frohen Botschaft untergebracht hat – seine Deutungen, mit welchen Motiven auch immer, mit seinen Äußerungen unmissverständlich kundtun wollte. In der altgriechischen Version der Evangelien, die Emil Weber seiner Übertragung Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa zugrunde gelegt hat, ist unser Beispielsatz nun auch grammatisch eindeutigeindeutig. Dort repräsentiert ὁ μαθητὴς (ho mathētēs) ‚der Jünger‘ eindeutig einen Nominativ und αὐτὴν (autēn) ‚sie‘ eindeutig einen Akkusativ. Der Jünger nahm also die Frau mit sich. Eine andere Interpretation ist hier vor dem Hintergrund der entsprechenden sprachlichen Konventionen ausgeschlossen. Wir können auch davon ausgehen, dass Emil Weber seinen Leserinnen diese Informationen nicht vorenthalten wollte. Er hatte aufgrund der eindeutigen altgriechischen Äußerung eine klare Vorstellung davon, wer wen mitnahm und er verwendete die sprachlichen Ausdrucksformen, die ihm in seiner zürichdeutschenHochalemannisch Muttersprache zur Verfügung standen und gleichzeitig nah an der griechischen Vorlage lagen. Die Unterscheidung zwischen Nominativ und Akkusativ, die an den altgriechischen Formen erkennbar ist, stand ihm in der hochalemannischen Übertragung nicht zur Verfügung und die ReihenfolgeReihenfolge zwischen beiden Ausdrücken hat er umgedreht. Dass dies bei seinen Leserinnen zu einer von ihm nicht beabsichtigten Deutung davon führen kann, wer wen mitnahm, hat er wahrscheinlich gar nicht bemerkt.

Der Mensch und seine Grammatik

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