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1.7 Das Korpus und die verwendeten BibelübersetzungenÜbersetzung

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Die Untersuchung wird in allen Sprachstufen an den Kapiteln 26 und 27 des Matthäusevangeliums und den Kapiteln 18 und 19 des Johannesevangeliums erfolgen. (Für den althochdeutschen „TatianTatianalthochdeutscher“ verhält es sich ein wenig anders. Siehe dazu unten.) Hinter diesen Kapiteln verbergen sich zentrale Teile der Passionsgeschichte Jesu. Die Passionsgeschichte, so die Erwägung bei der Textauswahl, ist inhaltlich in besonderer Weise für die Analyse geeignet. Die (Teil-)Sätze, aus denen sich die genannten Kapitel zusammensetzen, sind nämlich wenig überraschend dadurch gekennzeichnet, dass darin viel erlitten wird, und wo viel erlitten wird, ist der Urheber des Leids nicht weit, sowohl wirklich als auch in der sprachlichen Vermittlung. Wir haben es also häufigHäufigkeitFrequenz mit semantisch transitiven Beziehungen zwischen eher agentivenAgens und eher patientivenPatiens Personen oder Gegenständen zu tun. In den hier untersuchten Sprachen werden solche Beziehungen grammatisch häufigFrequenz so strukturiert, dass sie zum einen innerhalb der Grenzen von (Teil-)Sätzen ausgedrückt werden und diese (Teil-)Sätze zum anderen eine Binnenstruktur aufweisen, die besonders anfällig für grammatische Mehrdeutigkeitmehrdeutig hinsichtlich der Frage ist, was womit in welcher Beziehung steht. Das sind (Teil-)Sätze dann, wenn, wie in unserem Beispiel (1) oben, zwei oder mehr Satzglieder für die syntaktische Funktion des jeweils anderen in Frage kommen. Die betreffenden Satzglieder können dann sowohl als AgensAgens (zum Beispiel Nehmer) als auch als Patiens (zum Beispiel Genommenes), möglicherweise sogar als RezipientRezipient (semantische Rolle) interpretiert werden.

Tabelle 1 gibt einen Überblick über die BibelübersetzungenÜbersetzung, die ich untersuchen werde. Ich möchte sie nun kurz charakterisieren und einige Aspekte diskutieren, die für die Untersuchung von Relevanz sind.

Kurztitel Sprach(stuf)e Sprach(stuf)e / Dialekt Entstehungszeit Übersetzer Edition
(Ahd.) TatianTatianalthochdeutscher AlthochdeutschAlthochdeutsch (Ostfränkisch) 2. Viertel 9. Jhdt. Team Fulda Masser
EvangelienbuchEvangelienbuch des Matthias von Beheim MittelhochdeutschMittelhochdeutsch (Mitteldeutsch) 1343 unbekannt Bechstein
BibliaBiblia (1545) FrühneuhochdeutschFrühneuhochdeutsch (Ostmitteldeutsch) 1545 Luther
BibelBibel (1984) Neuhochdeutsch 1984 Luther und EKD1
S Nöi TeschtamäntS Nöi Teschtamänt NeuhochalemannischHochalemannisch (Zürichdeutsch) 1997 Emil Weber
Dat Nie TestamentDat Nie Testament NeunordniederdeutschNordniederdeutsch 1933 Johannes Jessen
Wessex GospelsWessex Gospels AltenglischAltenglisch (Westsächsisch) ~ 1000 unbekannter Ælfric Liuzza
Wycliffe- BibelWycliffe-Bibel MittelenglischMittelenglisch ([?Central] Midland) zw. 1395 u. 1420 Wycliffe, Purvey und Team Forshall & Madden

Tab. 1:

Die untersuchten Bibelübersetzungen

Methodische Fragen, etwa inwiefern diese Texte überhaupt für die Untersuchung geeignet sind, werde ich erst an späterer Stelle (Abschnitt 2.5) reflektieren, nachdem ich die grammatischen Mittel diskutiert habe, die von Interpretinnen herangezogen werden können, um zu bestimmen, was in sprachlichen Äußerungen womit in welcher Beziehung steht. Dadurch, dass die Einführung des Buchdrucks in die Mitte des 15. Jahrhunderts fiel, sind die davor entstandenen Bibelübersetzungen – der althochdeutsche „Tatian“, das mittelhochdeutsche „Evangelienbuch“, die altenglischen „Wessex Gospels“ und die mittelenglische Bibel aus dem Umfeld John Wycliffes, im Folgenden „Wycliffe-Bibel“ – handschriftlich überliefert. Für ihre Analyse bin ich daher auf den gedruckten Text angewiesen, den mir die jeweilige moderne Edition präsentiert, und dadurch mache ich mich auch von den jeweiligen editorischen Prinzipien abhängig.2 Je nachdem, welchen Prinzipien die Herausgeber dabei folgten, entfernt dies die edierten Texte, die ich analysieren werde, mehr oder weniger weit von den Handschriften, die ihnen zugrundeliegen. Das wird mich zwar nicht davon abhalten, die Texte dennoch hinsichtlich grammatischer Mehrdeutigkeit zu analysieren, aber in meinen Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen werde ich diesen Faktor berücksichtigen müssen.

Massers Textedition des althochdeutschen „TatianTatianalthochdeutscher“ basiert auf einer einzigen Handschrift mit der Signatur Cod. 56. Sie wird in St. Gallen aufbewahrt und ist wohl im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts im Skriptorium des Klosters Fulda entstanden. Sprachlich, und das heißt primär hinsichtlich des Lautstands, der über die Schrift erschlossen wurde, trägt dieses AlthochdeutschAlthochdeutsch das Gepräge des damaligen Kulturzentrums Fulda, dessen schriftliche Erzeugnisse konstitutiv für den ostfränkischen Dialektverband waren. Der althochdeutsche „Tatian“ unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten von den anderen Bibelübersetzungen, die ich verwenden werde. Zum einen enthält er zwar den kanonischen Text der Evangelien, aber in Form einer EvangelienharmonieEvangelienharmonie, bei der ein fortlaufender Text über das Leben Jesu aus Textinhalten aller vier Evangelien „harmonisch“ kompiliert wurde. Zum anderen hat er, da es sich trotzdem noch um eine Übersetzung handelt, auch keine Vorlage, in der die vier Evangelien gesondert vorkommen, sondern die Vorlage ist selbst schon eine Evangelienharmonie. Diese lateinische Evangelienharmonie war wohl wiederum eine von Victor von Capua im 6. Jahrhundert vorgenommene Bearbeitung des sogenannten „DiatessaronsTatianDiatessaron“, das dem Assyrer Tatian aus dem 2. Jahrhundert zugeschrieben wird. Victors Bearbeitung lag (und liegt) in Fulda vor. Drittens handelt es sich bei dem althochdeutschen „Tatian“ um eine Bilingue. Jede Seite der Handschrift besteht aus zwei Spalten, wobei die linke den lateinischen Text aus Victors von Capua Bearbeitung und die entsprechende Zeile in der rechten Spalte die diesem Text zeilengenau entsprechende althochdeutsche Übersetzung enthält.3 Dies setzt der Freiheit der Übersetzung schon enge konzeptionelle Grenzen: Vorgesehen war, dass ein Element in der lateinischen Zeile in der linken Spalte genau in der gleichen Zeile gegenüber in der rechten Spalte übersetzt steht und nicht schon in der vorangehenden oder erst in der folgenden Zeile, wie es ein Übersetzer vielleicht getan hätte, der keine Rücksicht auf den Zeilenumbruch hätte nehmen müssen. Ein lateinischer Ablativus absolutus, der oft nur aus zwei Wörtern besteht, ist dann kaum noch in genuines Althochdeutsch auflösbar, denn dafür wird meist ein ganzer Nebensatz gebraucht. Schon am Aufwand, der der äußeren Gestaltung der lateinischen und althochdeutschen Spalten zuteilwurde, lässt sich ersehen, dass dem lateinischen Text ein Vorrang an Wertschätzung zukam und dass der althochdeutsche Text ihm gegenüber eine bloß dienende Funktion besaß und das Verständnis des lateinischen Textes befördern konnte. Dagegen nimmt man an, dass eine unabhängige Rezeption des althochdeutschen Textes nicht vorgesehen war. Am Schriftstil lässt sich erkennen, dass mehrere Schreiber bei der Anfertigung der Bilingue beteiligt waren, aber daraus lässt sich nicht schließen, dass diese Schreiber die Passagen, die sie schrieben, auch übersetzten. Dies könnte auf Konzeptvorlagen auch durch andere Personen geschehen sein. Ob die Schreiber Übersetzern entsprechen, harrt noch der Klärung. In der Analyse wird dieser Faktor unberücksichtigt bleiben, zumal angenommen wird, dass die Übersetzer weitgehend mit der gleichen Strategie übersetzten.4 Masser hat die Spaltenorganisation mit der peniblen Konkordanz der lateinischen und althochdeutschen Spalten getreu in die Edition umgesetzt. Da durch die Abhängigkeit der althochdeutschen von der lateinischen Zeile dieser eine Bedeutung zukommt, werde ich Sprachbeispiele aus dem „Tatian“ so notieren, dass zwei Virgeln (//) Zeilenumbruch bedeuten, und ich werde grundsätzlich den lateinischen Text mit aufführen. Auch ansonsten ist die Edition Massers der Handschrift relativ treu. Die Interpunktion wurde nicht verändert, die Orthographie wurde nicht normalisiert. Die meisten Abkürzungen wurden allerdings aufgelöst. Im Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung wurden Derivations- und Kompositionsglieder gegen die Handschrift oft mit ihren Bezugselementen zusammengedruckt. Dagegen wurden manche Zusammenschreibungen, die auf Sprecheinheiten hinweisen, getrennt. Wie bei allen Handschriften, die ich analysieren werde, sind auch verschieden breite Leerräume zwischen graphischen Wörtern im Druck neutralisiert, obwohl ihnen möglicherweise gliedernde Funktion beim lauten Lesen zukam.5 Ich werde für die Textstellen Blatt und Zeile aus Massers Edition angeben, die Zählung der Sievers’schen Edition aber stets mit aufführen.

Auch „des Matthias von Beheim EvangelienbuchEvangelienbuch des Matthias von Beheim“, das von Bechstein herausgegeben wurde, basiert auf nur einer mittelalterlichen Handschrift, dem Ms. 34 aus der Universitätsbibliothek Leipzig. Das Werk entstand wohl in der unmittelbaren Zeit vor 1343 im Zisterzienserkloster St. Marien in Altenzelle bei Nossen und trägt sprachlich (ost)mitteldeutsches Gepräge. „Zu der byblien ist dise ubirtragunge in daz mittelste dutsch mit einualdigen slechtin worten uz gedruckit. zů glicheit des einvalidgen textes.“6 Was den Text der Evangelien betrifft, so enthält die Handschrift den „mitteldeutschenMittelhochdeutsch“ Text, nicht aber den der Vorlage, die sie möglichst genau wiedergeben will.7 Sowohl der Evangelientext als auch die Anwesenheit der ebenfalls übersetzten Vorreden des Hieronymus zeigen uns aber, dass die Vorlage aus der Vulgata-Tradition stammen muss. Dass die Vorlage lateinisch war, bezeugt auch der Text. „Dise dutunge des latines in daz dutsche ist gemachit. Mathie von beheim dem clusenere zů Halle.“8 Anders als der Titel suggeriert, entstand das „Evangelienbuch“ also auch nicht durch, sondern für den Haller Klausner Matthias von Beheim. Worin seine Funktion bestand, wissen wir nicht. Wahrscheinlich war an der Niederschrift nur ein Schreiber beteiligt. Die Übersetzung wird laut Bechstein über die vier Evangelien hinweg „besser“, das heißt sie reicht von anfänglich sklavischer Orientierung an der lateinischen Syntax vor allem in den Vorreden bis hin zur Anmutung als „deutsches Buch“ im Johannesevangelium.9 Anders als Bechstein angenommen hatte, steht das Werk nicht ohne Vorbild da. Es scheint sich passagenweise an einer EvangelienharmonieEvangelienharmonie orientiert zu haben, die über die Grenzen des deutschsprachigen Gebiets verbreitet war.10 Die übersetzungstechnisch „besseren“ Passagen könnten auch diesem Vorbild geschuldet sein. Bechsteins edierter Text unterscheidet sich äußerlich recht stark von dem der Handschrift. Für eine grammatische Analyse ist dabei primär die modifizierte Interpunktion von Relevanz, die Bechstein nach philologischer Manier des 19. Jahrhunderts nicht unangetastet lassen wollte. Meine Unterteilung in (Teil-)Sätze wird ihr aber weitgehend entsprechen.11 Schon die Handschrift weist fortlaufenden Text auf und es musste, anders als beim althochdeutschen „Tatian“, bei der Verteilung des Textes auf den verfügbaren Raum keine Rücksicht auf Blatt-, Zeilenenden oder Ähnliches genommen werden. Die Edition musste daher auch keine Rücksicht darauf nehmen und auch ich werde bei Sprachbeispielen aus dem „Evangelienbuch“ unberücksichtigt lassen, wie die entsprechende Stelle in der Handschrift über Zeilen und Blätter verteilt ist. Dies gilt, mit Ausnahme des „Tatian“, auch für alle weiteren Bibelübersetzungen.

Die altenglischenAltenglisch Evangelien sind in acht Handschriften überliefert, von denen sechs vollständig sind.12 Von diesen wurden zwei dem kentischen Dialekt des Altenglischen zugeordnet.13 Die Handschrift im Corpus Christi College Cambridge (CCCC) Nummer 140 ist wie die übrigen westsächsischer Provenienz. Daraus leitet sich die Bezeichnung westsächsische oder „Wessex GospelsWessex Gospels“ ab.14 CCCC 140 liegt als Text der Edition von Liuzza und damit auch meiner Analyse zugrunde.15 Die Evangelien in diesem Textzeugen stellen eine Abschrift dar, die wohl in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts angefertigt wurde und kurz danach in Bath aufbewahrt wurde. An der Abschrift waren vier Schreiber beteiligt (aber nicht unbedingt vier Übersetzer), deren jeder sich (fast)16 genau einem Evangelium gewidmet hat.17 Die Vorlage dieser Gospels wird, insbesondere was das Matthäusevangelium betrifft, der irisch-bretonischen Bibeltradition zugeordnet. Weniger deutlich zeigt sich eine solche Vorlage in den Evangelien Markus’ und Lukas’, am wenigsten im Johannesevangelium.18 Obwohl nichts über die Leserschaft des Werks bekannt ist, scheint es ein reges Interesse an seiner Verbreitung und Verwendung gegeben zu haben. Die Hinweise über seine Funktion sind aber „in quälender Weise mehrdeutig“.19 Ob es lediglich dazu diente, den vielen nicht lateinfirmen Geistlichen in einsamer Lektüre beim Verständnis der lateinischen Bibel zu helfen, ob es als pastoraler Schulungstext verwendet wurde oder gar in der Liturgie rezitiert wurde, – für all das gibt es Hinweise, aber keine, die unwidersprochen geblieben sind.20 Liuzza hat sich bemüht, möglichst wenig in den Text der Handschrift CCCC 140 einzugreifen. Die Interpunktion wurde belassen, Abkürzungen ausgeschrieben, Korrekturen auf Basis anderer Handschriften gekennzeichnet, Varianten aus anderen Handschriften angemerkt, mit Ausnahme „bloß“ orthographischer Varianten. Dass diese damit nicht mehr nachvollziehbar sind, obwohl sie auch von dialektologischem Interesse sein können, wurde dabei in Kauf genommen. Die Korrekturen werden in meine Analyse einfließen, die Varianten nicht. Auch das betrifft alle Editionen.

Die Wycliffe-BibelWycliffe-Bibel zu edieren ist eine undankbare Aufgabe, denn ihre Überlieferungsgeschichte ist unübersichtlich und unbewältigt. 250 Handschriften sind bekannt und es ist gewiss, dass viel mehr existier(t)en. Bekannt ist ebenfalls, dass John Wycliffe schon seit der Mitte des 14. Jahrhunderts Passagen der Bibel kommentiert und in diesem Zuge auch übersetzt hatte und dass diese Übersetzungen teilweise Eingang in eine frühere Version der mittelenglischenMittelenglisch Bibel fanden.21 Diese frühere Version war aber bereits das Werk mehrerer Beteiligter. Wie die meisten hier behandelten Texte ist die Wycliffe-Bibel das Produkt echter Projektarbeit. Es gab einen Projektleiter, den Theologen und Kirchenreformer Wycliffe, dem vor allem Konzeption und Verantwortung oblagen, und eine Schar Mitarbeiter, die sich um die Umsetzung, also vor allem das Übersetzen und das Schreiben kümmerte.22 Da dieses Unterfangen reformerischer Natur war, war es auch verboten.23 Das führte dazu, dass in den Handschriften keine Namen auftauchen, wodurch die Zuweisung von Arbeitsschritten zu Einzelpersonen kaum zu bewerkstelligen ist.24 Schon die bekannten frühen Versionen der Wycliffe-Bibel weisen in unterschiedlichem Grade Revisionsbemühungen auf, die zu einer späteren Version führten. Diese Bemühungen erstreckten sich über den Tod Wycliffes zur Jahreswende 1384/1385 hinaus und wurden von dessen Schüler John Purvey weiter vorangetrieben. (Es handelte sich um ein Projekt mit vielen Johns.) Die eher frühen Versionen zeichnen sich dabei eher durch eine „close, literal, and sometimes rather unpolished form“ aus, während die eher späteren „a little less literal, […] more smooth and flowing“ anmuten und „in more idiomatic and less laboured English“ verfasst sind.25 Obwohl reformerischen Charakters und dafür von der Orthodoxie verdammt, hatte die Wycliffe-Bibel für ein Werk vor dem Buchdruck doch beträchtliche Verbreitung. Sie reichte bis in aristokratische Laienkreise, die ein allgemeiner Prolog sogar anspricht.26 Zu dem Anspruch auf Breitenwirkung – zumindest in Bezug auf die spätere Version – passt, dass die Wycliffe-Bibel keinem mittelenglischen Dialektverband eindeutig zuordenbar ist. Vielmehr dominieren überregional geläufige Formen, die am ehesten dem Midland, vielleicht dem Central Midland entsprechen.27 Diese Varietät verlor am Ende des 15. Jahrhunderts ihre überregionale Bedeutung. Eine einheitliche lateinische Vorlage hat es nicht gegeben.28 Die zahlreichen Übersetzer hatten anscheinend verschiedene zur Hand und verwendeten diese auch. Ich werde mich auf die Edition von Forshall und Madden aus dem Jahr 1850 stützen. Diese Edition bietet den Text der früheren Version in der linken Spalte einer Seite, den Text der späteren Version rechts daneben, außerdem den allgemeinen Prolog. Die spätere Version in der Edition basiert auf der Handschrift MS 1 C VIII aus der Royal Library des British Museum. Sie entstand um die Wende zum 15. Jahrhundert und sie werde ich analysieren.29 Die Herausgeber zogen zahlreiche Handschriften zum Vergleich heran. Auch wenn ihr Verfahren nicht in allen Aspekten ganz transparent war, ist diese Edition immer noch diejenige, die zum Studium empfohlen wird, insbesondere, was unsere spätere Version betrifft.30

Während in England bis in Wycliffes und in Deutschland bis in Luthers Tage kaum eine Laiin mit englischer beziehungsweise deutscher Muttersprache einen Bibeltext in ihrer eigenen Sprache zu hören, geschweige denn zu lesen bekam – wenn sie denn lesen konnte –, änderte sich dies sowohl in England als auch in Deutschland infolge des Buchdrucks. Eine erste gedruckte englische Bibel erschien 1526 in der Übersetzung von Tyndale. Da dieser sich mit Luther gemein machte und seine Übersetzung nicht legal war, wurden nicht nur die Übersetzungsexemplare, sondern auch ihr geistiger Vater dem Feuer anheimgegeben. Eine von der – zu diesem Zeitpunkt dann anglikanischen – Kirche autorisierte englische Bibel erschien 1611 mit der „King James-Bibel“. In Deutschland verhalf dagegen eine Allianz aus Druckerkunst und politisch-territorial durchgesetzter Reformation der volkssprachlichen Bibel zum Durchbruch.31 Nun wurde die frühneuhochdeutscheFrühneuhochdeutsch „Biblia“ oder „Luther-Bibel“ gedruckt, vervielfältigt, verbreitet und ihr Besitz und Gebrauch waren juristisch-politisch gedeckt. Infolge der Reformation – und wohlgemerkt anders als zuvor – wurden Messen in reformierten Ländern bald auch in deutscher Sprache gehalten. Die katholische Kirche zog im Rahmen des Trienter Konzils diesbezüglich aber notgedrungen bald nach.

Ich werde keine jüngere englische Bibelübersetzung als die des Teams Wycliffe mehr analysieren. Die Untersuchung widmet sich der Frage, wie Leserinnen auch grammatisch mehrdeutige Äußerungen richtig verstehen können, wenn es um die Frage geht, was womit in welcher Beziehung steht. Die Entscheidung, nach der mittelenglischenMittelenglisch keine Bibel im modernen EnglischNeuenglisch mehr zu untersuchen, folgt der Erwägung, dass eine solche die Mehrdeutigkeiten, die uns interessieren, nicht mehr aufweisen wird. Es wird sich zeigen, dass dies im Deutschen anders ist.

Die Verbreitung der lutherischen, frühneuhochdeutschen BibelübersetzungBiblia (1545) erreichte ganz andere Dimensionen als die der mittelalterlichen Handschriften. Es wird davon ausgegangen, dass von 1522 bis 1546 „etwa eine halbe Million Luther-Bibeln im Umlauf waren.“32 Die beiden Daten geben den Zeitraum vom Erscheinen des Neuen Testaments, dann der Gesamtbibel 1534 und der Gesamtausgabe letzter Hand 1545 bis hin zu Luthers Tod an. Luther hatte zwar schon Anfang der 1520er Jahre das Neue TestamentNeues Testament aus den altgriechischen Originaltexten übersetzt, in den späteren Drucken aber Revisionen vorgenommen, die bis ins letzte Jahrhundert Bestand hatten. Die Tendenz dieser Revisionen war es, Luthers eigene ostmitteldeutsche, teilweise auch niederdeutschNordniederdeutsch geprägte Varianten dann, wenn sie eher landschaftlich begrenzt waren, durch großräumiger geläufige Varianten zu ersetzen, mit einer Orientierung ins Ostoberdeutsche.33 Das Ziel seiner Übersetzungen war, dass bei treuer, sinngemäßer Übersetzug und aller dialektalen Unterschiede alle Deutschsprecherinnen sie verstehen konnten,34 und zwar vollständig unabhängig von den aramäischen, hebräischen und griechischen Grundsprachen der Bibel sowie von Textversionen der mittelalterlichen lateinischen Tradition.35 Dieser theologisch-hermeneutischen Intention ordnete Luther alles Weitere unter.36 Das macht ihn aber nicht zum Wegbereiter oder gar zum Schöpfer unseres heutigen Deutschs.37 Grammatisch stand er weitgehend auf dem Boden seiner Zeit, teilweise sogar einer früheren, aber im funktionalen Einsatz seines Stils im Dienste sakraler Sprache war er ein wirkmächtiger Meister.38 Obwohl einer Einzelperson nicht die gestalterische Schöpfung einer Sprach(stuf)e zugerechnet werden kann, muss man aber dennoch berücksichtigen, dass Luthers Bibeldeutsch, auch wenn es nicht exklusiv das seine war, im Fahrwasser der Reformation an überregionaler Bedeutung gewinnen musste. Dabei war es vom Glück seiner sprachgeographischen Mittellage begünstigt. „Luther in Kiel oder in Konstanz hätte sich sprachlich schwergetan, wäre wahrscheinlich gescheitert.“39 Zur Analyse wird mir die Ausgabe letzter Hand dienen, in denen Luthers eigene Revisionen zu einem Ende gekommen sind.40

Auch wenn die 1545er Bibel und die späteren gedruckten Bibeln, die ich verwenden werde, keine historisch-kritischen Editionen sind, so erleichtert die Tatsache, dass die entsprechenden Übersetzungen schon für den Druck konzipiert waren, dass die Drucke – trotz Raubdrucken – von ihren Urhebern autorisiert waren und dass das Druckverfahren existierende Fehler oder Abweichungen eher tradiert statt neue zu produzieren, das Problem, das bei den Handschriften besteht: der Abstand zwischen Handschriftentext(en) und Editionstext und den Unwägbarkeiten, mit denen anonyme mittelalterliche Handschriften verbunden sind.

Die jüngeren weiteren Revisionen der Luther-Bibel obliegen seit dem Bestehen der Bundesrepublik offiziell der Evangelischen Kirche in Deutschland, die in unregelmäßigen Abständen (1956 beziehungsweise 1964, 1975, 1984 beziehungsweise 1999, 2017) eine Schar Leute daransetzt, Änderungen an der jeweils vorangegangenen Revision vorzunehmen, immer in Auseinandersetzung mit Luthers eigener Übersetzung, ihrer theologischen Bedeutung und aktuellen Veränderungen im Sprachgebrauch. Ich werde stellvertretend für die neuhochdeutscheNeuhochdeutsch Sprache die Revision von 1984Bibel (1984) analysieren.

Der Siegeszug der Luther-Bibel war auch der Siegeszug der überregionalen geschriebenen Sprache der Luther-Bibel. Selbst dort, wo ihre Verwendung aus theologisch-konfessionellen Gründen abgelehnt wurde, entstanden Bibelübersetzungen, denen diese überregionale Schriftsprache als Vorbild diente. Selbst in der Schweiz hielt im 17. und 18. Jahrhundert die SchriftnormSchriftnorm der deutschen Drucker Einzug, noch früher breitete sich diese Norm im niederdeutschen Raum aus. Die überregionale Schriftsprache gelangte mit den Bibelübersetzungen nicht nur in die Kirchen, sondern geriet bald auch als AussprachenormAussprachenorm in die höheren urbanen Gesellschaftsschichten und von dort weiter hinab in die anderen Gesellschaftsschichten (und später auch in die Schule). Sie ersetzte nicht die alten, lokal begrenzten Sprechweisen, sondern etablierte sich als situationsspezifisch gebrauchte Sprechweise neben den alten, lokalen Sprechweisen. Ab diesem Zeitpunkt, etwa um 1700 herum, entwickelten sich die kleinräumigen Dialekte auch in Auseinandersetzung mit der überregionalen Schrift- und Aussprachenorm weiter. Die Geschichte der deutschen Dialekte lässt sich auch als eine solche des Rückzugs des Dialekts aus Situationstypen erzählen.

Dieser kurze historische Abriss ist wichtig, um den Status der hochalemannischenHochalemannisch BibelS Nöi Teschtamänt von Emil Weber (1997) und der nordniederdeutschenNordniederdeutsch (schleswigischenDat Nie Testament) Bibel von Johannes Jessen ([1933] 2006) besser einschätzen zu können. Es führt keine Traditionslinie von den regional geprägten Bibelübersetzungen des Mittelalters zu diesen beiden Dialektbibeln des 20. Jahrhunderts. Dazwischen ist die neuhochdeutsche Standardsprache geraten, die den Dialekt nicht nur aus vielen Lebensbereichen verdrängt hat, sondern ihn auch gar nicht erst in der Kirche hat heimisch werden lassen. Hinzu kommt, dass die reformierten Kirchen durchaus auch ihre schützende Hand über ihre jeweiligen Bibelübersetzungen halten und ein Interesse an einer autorisierten Bibelversion haben. Dass diese keine dialektale sein kann, versteht sich von selbst. Solche Dialektübersetzungen sind am ehesten als Reaktion auf die Dominanz der deutschen Standardsprache im religiösen Bereich zu werten. Die neuhochdeutsche Standardsprache ist für die meisten Deutschschweizer und war noch vor hundert Jahren für die Niederdeutschen die erste Fremdsprache. Religiöse Gefühle gehören zum Ureigenen vieler Menschen und sie durch eine Sprache vermittelt zu bekommen, die primär die von jemand anderem ist, muss als Mangel empfunden werden. Emil Weber sagt es selbst:

Ali Zürcher chönd sie ja uf Hoochtüütsch läse, zum Biischpil i de nöie Zürcher Übersetzig. Aber vilicht isch grad drum d Bible vilne frönd plibe. S Hoochtüütschi isch ebe e Fröndspraach für öis. […] Wänn s stimmt, das d Büecher vom Nöie Teschtamänt für s Hèèrz gschribe sind, dänn mues es au e züritüütschi Übesetzig gèè.41

Diesen beiden Bibeln ist daher auch keine große öffentliche Wirkung beschieden. Sie dienen vielmehr der privaten Erbauung. „Dat Nie TestamentDat Nie Testament“ von Jessen ist eine relativ freie Übersetzung, deren Stil als „Hartslag“ bezeichnet wird. Sowohl Weber als auch Jessen haben aus dem Griechischen übersetzt.

Die Kurzcharakterisierungen der Bibelübersetzungen beziehungsweise -editionen sollte zumindest andeuten, dass sie jeweils unter sehr verschiedenen kulturhistorischen, theologie- und kirchengeschichtlichen, sprachhistorischen und editionstheoretischen Umständen entstanden sind. Wenn wir uns vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund unserer Fragestellung für jede Übersetzung so etwas wie eine generalisierte Leserin vorstellen, an der wir InterpretationsautomatismenAutomatismus und ‑routinenRoutine, Routinisierung durchspielen, die für alle Texte gelten sollen, dann ist es klar, dass wir von den meisten dieser variablen Umstände absehen müssen, um überhaupt vergleichen zu können. Die wichtigsten beiden Faktoren haben wir dabei noch nicht ausreichend berücksichtigt. Es ist der Charakter der Übersetzung selbst und die Bedingungen ihrer Rezeption. Die Übersetzung ist geprägt von den ideellen Auffassungen, die die Übersetzer von der Quellsprache der Vorlage und der Zielsprache des jeweiligen Übersetzungstextes hatten. Davon ist ebenfalls abhängig, wie sie gelesen wurde und wird. Und wie eine Bibelübersetzung gelesen wurde und wird, ist schließlich davon abhängig, wie zu einer bestimmten Zeit generell gelesen wurde. In Bezug auf diese Faktoren stehen unsere Bibelübersetzungen unter ganz verschiedenen Vorzeichen. Welche das genau sind und wie mit ihren Konsequenzen zu verfahren ist, soll aber erst erörtert werden, wenn deutlich geworden ist, was es für sprachliche Äußerungen bedeutet, grammatisch eindeutigeindeutig und grammatisch mehrdeutigmehrdeutig zu sein.42

Der Mensch und seine Grammatik

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