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1.2 (Be-)deuten und Interpretieren

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Anstatt interpretieren hätte ich bisher auch deuten schreiben können. Mit beidem bezeichne ich dieselbe Tätigkeit einer Person. Wenn wir statt der Verben die Substantive Interpretation oder Deutung verwenden, tritt der Tätigkeitsaspekt in den Hintergrund und der Resultatsaspekt in den Vordergrund, im Sinne einer abgeschlossenen Interpretation oder Deutung. Den Ausdruck etwas bedeuten im Sinne von ‚mit einer Deutung versehen‘ hätte ich ebenso verwenden können, er ist heute aber abseits von hermeneutischen Diskursen kaum noch gebräuchlich. Das agentive Verb bedeuten betont den konstruktiven Aspekt des Deutens stärker als die anderen beiden Verben. Damit meine ich, dass wir, wenn wir etwas deuten, die Deutung eher aus einem Phänomen herauslesen, während wir, wenn wir etwas bedeuten, sie in das Phänomen hineintragen. Beim Substantiv Bedeutung ist aber nicht nur die Tätigkeitslesart zugunsten einer Resultatslesart verloren gegangen. Die Substantivierung hat uns auch nachhaltig davon entbunden, den Handlungsträger des Bedeutens zu nennen. Niemand sagt, er habe dieses oder jenes so oder so bedeutet. Dadurch ist auch der – man muss es so sagen – Bedeutungsaspekt weitgehend verloren gegangen, dass Bedeuten eine individuelle konstruktive Tätigkeit ist. Stattdessen wird mit der Bedeutung eines Phänomens etwas Fertiges und Überindividuelles bezeichnet, das man nur abzupflücken braucht, das mit dem konstruktiven Deuten, das jede Interpretierende an einem Phänomen selbst vornehmen muss, kaum mehr etwas zu tun hat.

Vor dem Hintergrund eines konventionalisiertenKonvention Zeichen- und Zeichenverknüpfungssystems wie der hochalemannischen (und jeder anderen natürlichen) Sprache mag die Äußerung in (1) der Leserin relativ enge Grenzen dafür setzen, wie sie die Äußerung hinsichtlich ihres Gehalts konstruktiv bedeuten kann. Sie mag sich den Ort, die Personen und was sie tun auf individuelle Weise vorstellen, so dass diese Vorstellung mit keiner Vorstellung identisch ist, die jemand anderes vornimmt, wenn er dieselbe Äußerung interpretiert. Wir können uns VorstellungenVorstellungbildhaft durchaus bildhaft vorstellen, so wie WahrnehmungenWahrnehmungbildhaft, nur dass die äußeren ReizeReiz fehlen. Die Vagheit der Ausdrücke in der Äußerung erlaubt der Phantasie einigen Spielraum, aber diese Vagheit ist etwas anderes als Mehrdeutigkeitmehrdeutigvs. vage. Die Eckdaten der sprachlich vermittelten Vorstellung – grob gesprochen, wasWas steht womit in welcher Beziehung? wo wie und wann womit in welcher Beziehung steht – sind konventionalisiert.

Diese KonventionalitätKonvention setzt nicht nur der Ausdeutbarkeit der Äußerung enge Grenzen, also ihrem Bedeutungspotenzial, sondern sie ist auch konstitutiv für ihre Zweideutigkeit. Ohne die sprachlichen Konventionen wäre diese Äußerung als bloße Sequenz von Geräuschen beinahe beliebig bedeutbar. Unter Berücksichtigung der sprachlichen Konventionen wird die Ausdeutbarkeit der grammatisch mehrdeutigen Äußerung lediglich etwas offener, als es eine grammatisch eindeutigeeindeutig Äußerung wäre, nämlich zweideutig.

Der Mensch und seine Grammatik

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