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2.1.3 Die Zwänge der Öffentlichkeit: TreuTreue (vs. Sparsamkeit)e und SparsamkeitSparsamkeit (vs. Treue)

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Von Anfang an begleitet diesen Zyklus aus Versuch und (Miss-)Erfolg aber auch ein Kompromiss aus dem Wünschenswerten und dem Machbaren. Wünschenswert wäre beispielsweise die Möglichkeit, bestimmte Vorstellungen – dieser konkrete Jünger, diese konkrete Frau, vielleicht auch das ganze konkrete Ereignis in seiner phänomenalen FülleWahrnehmungPhänomenqualitäten1 – mit bestimmten, nur für diese konkreten Gegenstände oder dieses Ereignis verwendbaren Gesten sozusagen vorstellungsgetreu auszudrücken und für andere konkrete Jünger, Frauen oder Ereignisse ebenso treu jeweils andere Ausdrücke zu verwenden. Obwohl dies nicht einmal der radikalste mögliche Wunsch im Sinne der Treue ist, mag selbst er, wenn überhaupt, nur so lange praktizierbar sein, wie die Miniaturwelt, in der so kommuniziert wird, klein genug ist und der Kreis, mit dem so kommuniziert wird, dieser Miniaturwelt angehört. Er wird sehr schnell an Grenzen stoßen. Diese Grenzen betreffen einerseits die geringen Erfolgsaussichten, die die verfügbaren Ausdrucksmittel besitzen, sobald nicht mehr alle Sprecher über den gleichen Erfahrungsschatz verfügen, und andererseits die kognitive Beherrschbarkeit der Ausdrucksmittel, sobald die Zahl der Gegenstände oder Ereignisse des gleichen Typs, aber auch unterschiedlichen Typs, zu hoch wird. Solche Erfordernisse der Sparsamkeit erzeugen bei Menschen einen Selektionsdruck auf solche Ausdrucksmittel, die in ihrer Bestimmtheit in gewissem Maße untreu gegenüber den bestimmten Vorstellungen sind, zu deren Ausdruck sie dienen, aber immer noch treu genug, um den Interaktionserfolg sicherzustellen.

Ein zentraler Aspekt dieser Untreue im Dienste der Sparsamkeit ist auch, für alle möglichen Beziehungen zwischen allen möglichen Dingen (WasWas steht womit in welcher Beziehung? steht womit in welcher Beziehung?) ein begrenztes Inventar an Ausdrucksmustern zu entwickeln. Gestern wies der Präsident alle Anschuldigungen von sich mag hinsichtlich des Vorstellungsinhalts wenig mit unserer Äußerung in (4) gemeinsam haben, aber die Ausdrucksmuster können als sehr ähnlich oder sogar identisch beschrieben werden, wenn wir von der jeweiligen Bestimmung des Was?, Womit? und Welche Beziehung? absehen. In dem langen Prozess der Konventionalisierung einer Sprache setzt die Herausbildung eines solchen begrenzten Inventars an routinisierten Ausdrucksmustern der Kreativität ihrer Sprecher zunehmend Grenzen. Dadurch entsteht in der Sprache so etwas wie eine Eigenstruktur in einem Bereich zwischen dem Privaten der individuellen Vorstellungswelt und dem Öffentlichen, Überindividuellen des Kommunikationsmittels Sprache.2 Die Eigenstruktur ist nämlich einerseits niemals völlig unabhängig vom VorstellungslebenVorstellungsleben der Sprecher. Die beiden Äußerungen weisen, wenn wir vom Konkreten der Vorstellungen absehen, jeweils eine AgensAgens-Handlung-PatiensPatiens-Pfad-LokationLokation-Konfiguration auf, was dem Treuezwang Genüge tut; andererseits kann nicht (mehr) jede Konfiguration von Vorstellungsinhalten so kreativ ausgedrückt werden, dass ständig neue Ausdrucksmuster entstünden, die zu RoutinenRoutine, Routinisierung neben anderen Routinen führen würden – jemanden zu sich zu nehmen und Vorwürfe von sich zu weisen unterscheiden sich in der Ausgestaltung der obigen Konfiguration nämlich recht stark. Die Sprecher einer Sprache sind stattdessen gezwungen, das meiste vorstellungsmäßig Neue analogisch mit einer geschlossenen Klasse an überkommenen Mitteln auszudrücken. Diese Konventionen erstrecken sich irgendwann auf die meisten Aspekte der Formgebung auf verschiedenen Ebenen der Sprache und sind so eng aneinandergeknüpft, dass jede Innovation, die dann doch einmal von anderen Sprechern übernommen wird, das strapazierte Gleichgewicht aus Treue und Sparsamkeit stören und Modifikationen in den überkommenen Mitteln erzwingen kann, damit dieses Gleichgewicht im Dienste der Funktionalität und Beherrschbarkeit der Sprache wieder hergestellt wird.

Von allen Kommunikationsformen, die wir kennen, ist Sprache in Bezug auf Treue und Sparsamkeit die effektivste, zu der Menschen fähig sind, und das heißt, diejenige mit dem besten realisierbaren Verhältnis von Anwendungsbreite, Aufwand (Sparsamkeit, Beherrschbarkeit), Eindeutigkeiteindeutig (Treue), Übertragungsrate und Erfolgsaussichten. Der Schreiber der Äußerung in (4) und seine RezipientinnenRezipientin (kommunikative Rolle) sind räumlich und zeitlich voneinander getrennt. Er kann daher nicht einfach auf das Ereignis zeigen, damit sie es ebenfalls in seiner phänomenalen Fülle wahrnehmenWahrnehmung und deuten können, was hinsichtlich des Aufwands, der Eindeutigkeit, Übertragungsrate und der Erfolgsaussichten vielleicht effektiver sein könnte – unter der Voraussetzung, dass die Rezipientinnen das Ereignis vor einem vergleichbaren Horizont von NormenNorm, KonventionenKonvention und PertinenzenPertinenz deuteten. Ohne diesen gemeinsamen Horizont hätte der Schreiber es mit der Zeigegeste den Rezipientinnen selbst überlassen, die pertinenten Aspekte der gesamten Szene auszusondern, was bei ihnen ziemlich sicher zu anderen Antworten auf ihre W-FragenW-Fragen geführt hätte als bei ihm. Er verwendete also den (geschriebenen) sprachlichen Ausdruck, dessen Anwendungsbreite auch die räumliche und zeitliche Trennung zwischen Schreiber und RezipientinnenRezipientin (kommunikative Rolle) überbrückt. Eine Konsequenz dieser Anwendungsbreite ist, dass die Übertragungsrate viel geringer ist. In derselben Zeit, die eine Zeigegeste benötigt, können viel weniger Vorstellungen mitsamt ihren phänomenalen QualitätenPhänomenqualitäten sprachlich kommuniziert werden. Dadurch war der Schreiber gezwungen, das vor seinem Deutungshorizont bereits gedeutete Ereignis zum Zweck der sprachlichen Kommunikation nochmals hinsichtlich seiner – nun kommunikativ – pertinenten Aspekte zu verschlanken, denn nicht alle Aspekte seiner Vorstellung waren ihm bei dem gebotenen Aufwand gleich mitteilenswert (und für die Rezipientinnen gleich bemerkenswert). So geht auf dem Weg von der privaten, aber bestimmten Vorstellung des Ereignisses mitsamt seiner phänomenalen Fülle zu der öffentlich wahrnehmbaren und deutbaren Äußerung in (4) vieles dieser Bestimmtheit mitsamt den phänomenalen Qualitäten verloren.

Der Mensch und seine Grammatik

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