Читать книгу Der Mensch und seine Grammatik - Simon Kasper - Страница 8

1.1 Ein Alltagsphänomenmehrdeutigalltägliches Phänomen

Оглавление

Kurz nachdem Jesus von den römischen Soldaten ans Kreuz geschlagen worden war, traten seine Mutter Maria und der Lieblingsjünger Jesu vor das Kreuz. Im Bewusstsein, dass mit seinem Tod sowohl der Jünger als auch Maria den wichtigsten Menschen in ihrer beider Leben verlieren würden, erklärte Jesus, vom Kreuz herabsprechend, Maria und seinen Lieblingsjünger zu Mutter und Sohn. In Emil Webers hochalemannischerHochalemannisch BibelübertragungS Nöi Teschtamänt berichtet uns der Evangelist Johannes im anschließenden 27. Vers des 19. Kapitels Folgendes:


Eine Leserin, die die Bibel in ihrer eigenen Muttersprache lesen möchte und die Geschichte noch nicht in allen Details kennt, liest vielleicht einfach über diese Stelle hinweg und geht nun davon aus, dass Maria, Jesu Wunsch entsprechend, den Jünger bei sich aufgenommen hat. Möglicherweise wird sie überrascht sein, wenn diese Stelle in einem Gespräch mit einem Zürcher Zeitgenossen zur Sprache kommt und dieser den Glauben äußert, nicht Maria habe den Jünger, sondern umgekehrt der Jünger Maria zu sich genommen. Der Zeitgenosse mag seinerseits überrascht von der Annahme sein, dass es anders sein könnte. Wenn sie gemeinsam die entsprechende Stelle nachschlagen, um zu überprüfen, wie es nun tatsächlich erzählt wird, werden sie feststellen, dass es nicht entscheidbar ist: Das Pronomen si, mit dem hier auf Maria referiert wird, und die Form de Jünger können beide sowohl den Nominativ als auch den Akkusativ darstellen und beide kongruierenKongruenz in Person und Numerus mit dem Auxiliar hät. Da Satzsubjekte im zürichdeutschen HochalemannischenHochalemannisch im Nominativ stehen und mit dem finiten Verb kongruieren und da (direkte) Objekte von nèè ‚nehmen‘ im Akkusativ stehen, können hier beide Ausdrücke, morphologischMorphologie gesehen, sowohl als Subjekt als auch als Objekt fungieren. Auch sind die Funktionen der beiden Ausdrücke nicht über ihre Position im Satz unterscheidbar. Die Form der Äußerung gibt Leserinnen also keinen Aufschluss darüber, wer hier wen zu sich nahm. Plausibilitätserwägungen, also inhaltliche Erwägungen auf Basis durchschnittlichen Weltwissens, könnten ergeben, dass Maria durch ihre Mutterrolle legitimiert gewesen wäre, den Jünger, und der Jünger qua Gender, die Frau zu sich zu nehmen. Für hochalemannische Leserinnen ist dieser Satz also grammatisch mehrdeutigmehrdeutiggrammatisch und sie werden weder in diesem Satz noch in einem vorangehenden oder nachfolgenden Satz einen zuverlässigenzuverlässigzuverlässig HinweisHinweis darauf finden, wie er denn nun richtig zu interpretieren ist.

Äußerungen, die anders interpretierbar sind, als ein Sprecher oder Schreiber es beabsichtigt hat, sind schnell produziert und die Mehrdeutigkeit bleibt auch leicht unbemerkt, sowohl für den Urheber der Äußerung als auch für die Interpretierende, die sie verstehen möchte. (Wer hat beispielsweise bemerkt, dass der vorangehende Relativsatz der Form nach mehrdeutigmehrdeutig ist?) Dass sprachliche Äußerungen bisweilen mehrdeutig sind, gehört zu den Alltagsbeobachtungen der meisten Menschen. Dabei werden die Mehrdeutigkeiten sehr häufig aber deswegen gar nicht bemerkt, weil sie folgenlos bleiben. Sie können einerseits folgenlos bleiben, weil sie für die Lebenspraxis irrelevante Bedeutungsnuancen betreffen. Dass wir etwas falsch interpretiert haben, bemerken wir nur, wenn in der Folge der Interpretation etwas schiefgeht, was mit der Interpretation zu tun hat. Eine Interpretation aufgrund unsicherer Indizienlage ist eine bloße Annahme, auf deren Basis wir weiter handelnHandlung und die von unserer nichtsprachlichen Praxis oder kommunikativ von anderen Personen als falsch erwiesen werden kann, aber nicht muss. Die Annahme wird dann entweder modifiziert und eventuell als besser gesicherte Annahme beibehalten oder sie bleibt unverändert bestehen. Es ist gut möglich, dass unsere fiktive hochalemannische Leserin den Satz in Johannes 19, 27 falsch interpretiert hat, er aber nie wieder zur Sprache kommt und sie bis an ihr Lebensende davon ausgeht, dass Maria den Jünger zu sich genommen hat. Oder sie vergisst das Ganze.

Unbemerkte Mehrdeutigkeiten können andererseits auch deswegen folgenlos bleiben, weil sie trotz der formalen Mehrdeutigkeit richtig, das heißt im Sinne des Urhebers, interpretiert werden, wie im Falle des Relativsatzes oben.


Ob diese (kolportierte1) Schlagzeile in dem Bewusstsein formuliert wurde, dass sie mehrdeutig ist, und wie viele Leserinnen sie nur auf eine Art interpretiert haben, wissen wir nicht. Aber wer sich den Sportteil einer Zeitung vornimmt, geht mit bestimmten ErwartungenErwartung an die entsprechenden Schlagzeilen und Artikel. Wenn dort dann die Rede von einem Hole in One ist, wird dies sehr wahrscheinlich als sportliches Erfolgserlebnis beim Golf interpretiert – das Einlochen mit einem Schlag auf einem Loch, für das drei Schläge vorgesehen sind –, weil dies bereits im Erwartungshorizont der Leserin gelegen hat. Widmet man sich dagegen dem Gesellschaftsteil einer Zeitung und entdeckt die gleiche Schlagzeile dort, erwartet man eher, dass die Rede von Menschen ist, die andere Menschen zu deren Leidwesen mit Löchern versehen, und interpretiert die Schlagzeile entsprechend. Das Beispiel zeigt, dass Erwartungen, die leitend für die Interpretation einer Äußerung werden können, nicht nur durch die grammatischen Eigenschaften von Sprachen aufgebaut werden können, wie sie sich in konkreten Äußerungen und deren sprachlichem Begleittext zeigen, sondern auch von außerhalb der sprachlichen Struktur kommen können.

Je stärker sprachliche Äußerungen zur Erreichung praktischer (nichtsprachlicher oder sprachlicher) Zwecke eingesetzt werden, desto höher, so scheint es, ist die Wahrscheinlichkeit, dass falsche Interpretationen im Rückblick bemerkt werden. Nichtsprachliche HandlungenHandlung infolge von Kochrezepten, Bauanleitungen oder Wegbeschreibungen, die unmittelbare praktische Relevanz haben, sind gute Beispiele, um zu zeigen, wie Fehlinterpretationen, die aufgrund von Mehrdeutigkeiten entstanden sind, spürbare Folgen haben können und wie diese Folgen auf die Interpretation und die Äußerung zurückverweisen.

Der Mensch und seine Grammatik

Подняться наверх