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Modalitäten des Absoluten

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Mit aller Naivität, die dazu gehört, werfen wir hier die traditionelle theologisch-philosophische Frage auf: Gibt es für uns Menschen, die wir in einer kontingenten geschichtlichen Wirklichkeit gefangen und eingeschlossen sind, irgendeine Möglichkeit der Berührung mit dem Absoluten (was auch immer damit gemeint ist – meist ein Punkt oder Moment, der von der Realität in ihrem natürlichen Fluss irgendwie ausgenommen ist)? Auf diese Frage gibt es eine ganze Reihe traditioneller Antworten. Die erste, klassische Antwort findet sich in den Upanishaden und beschreibt die Einheit von Brahman, der höchsten und einzigen letzten Wirklichkeit, und Atman, der Seele in jedem einzelnen menschlichen Wesen. Wenn unsere Seele sich von allem Zufälligen, allem Nichtgeistigen reinigt, erfährt sie sich als eins mit dem absoluten Grund aller Wirklichkeit, und diese Erfahrung wird üblicherweise als rauschhaftes, geistiges Einssein beschrieben. Spinoza zielt mit der „geistigen Liebe zu Gott“ auf etwas ganz Ähnliches ab, ungeachtet all der Unterschiede, die zwischen seiner Auffassung vom Weltganzen und dem Hinduismus bestehen.

Die gegenteilige Entsprechung zum Absoluten als letzter Substanz der Wirklichkeit bildet das Absolute als reine Erscheinung. In einer der Geschichten von Agatha Christie kommt der Meisterdetektiv Hercule Poirot dahinter, dass es sich bei einer hässlichen Krankenschwester um dieselbe schöne Frau handelt, mit der er auf einer Reise über den Atlantik Bekanntschaft gemacht hatte. Sie trug lediglich eine Perücke und suchte auch sonst ihre natürliche Schönheit zu verbergen. Hastings, der ständige Begleiter von Poirot, reagiert betrübt: Wenn eine schöne Frau sich eine hässliche Erscheinung geben kann, müsse man auch vom Umgekehrten ausgehen. Aber, so fragt er, ist die männliche Verliebtheit dann nicht bloßer Trug? Und stellt diese Einsicht in die unverlässliche Schönheit einer geliebten Frau nicht den Anfang vom Ende der Liebe dar? „Nicht doch, mein Freund“, erwidert ihm daraufhin Poirot. „Mit ihr fängt die Weisheit an.“ Dennoch geht solche Skepsis, geht das Wissen um die trügerische Natur weiblicher Schönheit am Kern der Sache vorbei – weibliche Schönheit ist nichtsdestotrotz absolut, sie ist ein Absolutes, das zur Erscheinung gelangt. So zerbrechlich diese Schönheit auch sein mag und so sehr sie vielleicht auch täuscht – was sich im und durch das Moment der Schönheit ereignet, ist ein Absolutes: Es liegt mehr Wahrheit in der Erscheinung als in dem, was sich dahinter verbirgt. Dies war auch Platons große Einsicht: Ideen sind nicht die verborgene Wirklichkeit hinter den Erscheinungen (Platon war sehr wohl bewusst, dass es sich bei dieser verborgenen Wirklichkeit um die Realität der sich ständig verändernden und ebenso verderblichen wie verderbten Materie handelt); Ideen sind nichts als die Form der Erscheinung, sie sind diese Form als solche – oder, wie Lacan Platons Auffassung auf den Punkt brachte: Das Übersinnliche ist die Erscheinung als Erscheinung. Darum haben wir es weder bei Platons Denken noch beim Christentum in irgendeiner Form mit Weisheit zu tun – beide sind vielmehr Anti-Weisheit in unterschiedlicher Gestalt. Was ist dann aber das Absolute? Es ist etwas, das uns in flüchtigen Erfahrungen erscheint, wie etwa im zarten Lächeln einer schönen Frau oder selbst in dem warmherzigen Lächeln von jemandem, der ansonsten vielleicht grob und abschreckend wirkt – in solchen wundersamen, doch äußerst zerbrechlichen Augenblicken scheint eine andere Dimension durch unsere Realität hindurch auf. Als solches aber zerfällt das Absolute auch leicht wieder; es schlüpft uns allzu leicht durch die Finger und muss so sorgsam wie ein Schmetterling behandelt werden.

In einem Ansatz, der diesen beiden Fassungen des Absoluten zu ähneln scheint, aber doch ganz anders gelagert ist, bringt der Deutsche Idealismus den Begriff der intellektuellen Anschauung ein, bei der Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität zusammenfallen. Der Unterschied zu den Vorgenannten besteht darin, dass die Vertreter des Deutschen Idealismus sich auf eine andere Gestalt des Absoluten stützen, die mit der transzendentalen Reflexion hervortritt: Dies ist nicht mehr das Absolute an sich, sondern das Absolute der unhintergehbaren Selbstbezüglichkeit aller Bedeutung. Betrachten wir zwei Fälle, an denen sich dieser ziemlich ominös klingende Punkt verdeutlichen lässt. Für einen konsequent materialistischen Marxisten bildet die Totalität der sozialen Praxis den ultimativen, letzten Horizont, der jedes noch so „natürliche“ Phänomen überdeterminiert. So befasst sich die Quantenkosmologie zwar mit dem Wellen- und Teilchenspiel am Ursprung unseres Universums und stellt entsprechende Untersuchungen an, dennoch bildet diese wissenschaftliche Tätigkeit sich als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen heraus, das sie in ihrer Bedeutung überdeterminiert – dieses Ganze ist das „konkrete Absolute“ der Situation. Oder kommen wir einmal mehr auf den Antisemitismus zu sprechen: Dieser ist nicht deshalb unwahr, weil er jüdische Menschen in falschem Licht darstellt – auf dieser Ebene lässt sich immer argumentieren, dass die entsprechenden Behauptungen zum Teil zutreffen (unter den Juden gab es viele reiche Banker oder einflussreiche Journalisten und Anwälte usw.). Der Antisemitismus ist vielmehr „vollkommen“ unwahr, denn selbst wenn er in einigen Punkten zutrifft, besteht seine Unwahrheit in der Funktion, die er in dem gesellschaftlichen Ganzen, in dem er wirksam ist, erfüllt. Schließlich dient er seinen Anhängern dazu, den gesamtgesellschaftlichen Antagonismus dadurch zu verschleiern, dass dessen Ursache auf einen äußeren Eindringling oder Feind projiziert wird. Das heißt mit Blick auf den ersten Fall, dass ein historischer Materialist einerseits ein Materialist im üblichen Sinne ist und dementsprechend anerkennt, dass wir Menschen nur eine Spezies auf einem ebenso winzigen wie unbedeutenden Planeten im riesigen Universum sind und dass unser Erscheinen auf der Erde das Resultat eines langen, kontingenten Entwicklungsprozesses darstellt. Andererseits ist es für ihn gerade ausgeschlossen, dass wir uns von irgendeinem Standpunkt außerhalb des gesellschaftlichen Ganzen aus „objektiv“ betrachten können, also so, „wie wir wirklich sind“: Ein solcher Standpunkt wäre immer in dem Sinne „abstrakt“, dass er von dem konkreten (gesellschaftlichen) Ganzen, aus dem er seine Bedeutung bezieht, abstrahiert … Doch auch mit diesem transzendentalen Absoluten lässt sich die „Quadratur des Kreises“ offensichtlich nicht vollbringen. Denn aus einer solchen Perspektive muss jeder Versuch, die beiden Sichtweisen – die ontische (der Naturrealität, von der wir ein Teil sind) und die transzendentale (der Totalität alles Sozialen als letzter Bedeutungshorizont) – zusammenzuführen, als vernachlässigenswert erscheinen (oder als naiv abgetan werden). Unser Ziel dagegen ist es, über das Transzendentale hinauszugelangen (oder vielmehr darunter zu gelangen) und uns dem „Bruch“ in der Natur (die noch keine ist) zu nähern, der das Transzendentale entstehen lässt.

Es gilt hier jedoch sehr sorgsam vorzugehen: Dieser „Bruch“ sollte nicht vorschnell vor dem Hintergrund der von de Sade bis Bataille vertretenen materialistischen Version des Absoluten – des Absoluten als ekstatischer Ausbruch zerstörerischer Negativität – gedeutet werden. Da die Wirklichkeit nach dieser Auffassung ein ständiges Werden und Vergehen von Formen und Gestalten ist, würde die einzige Möglichkeit zur Berührung mit dem Absoluten in der unmittelbaren Identifikation mit der zerstörerischen Kraft selbst bestehen. Entsprechendes ließe sich auch hinsichtlich der Sexualität behaupten. Diese nämlich bildet keineswegs die natürliche Grundlage des menschlichen Lebens, sondern ist vielmehr gerade das Gebiet, auf dem der Mensch sich von der Natur loslöst: Sexuelle Perversionen sind im Tierreich ebenso unbekannt wie irgendwelche tödlichen Leidenschaften sexueller Art. Im Taumel dieser unendlichen Leidenschaft, die weder Natur noch Kultur ist, haben wir Berührung mit dem Absoluten, und weil es unmöglich (selbstzerstörerisch) ist, darin zu verweilen, flüchten wir uns in die historisierte Symbolisierung.

Auch wenn diese letzte Version einen hegelianisch-lacanianischen Ton haben mag, so gilt es sich doch in eine ganz andere Richtung zu orientieren: nicht in die irgendeiner radikalen oder extremen Erfahrung, aus der wir zwangsläufig wieder herausfallen, sondern in die des Fallens, des Sturzes selbst. Während wir unseren Ausgangspunkt wie üblich bei der Lücke nehmen, die uns beziehungsweise unseren endlichen Verstand vom Absoluten trennt, besteht die Lösung oder der Ausweg nicht darin, diese Lücke auf irgendeine Weise zu überwinden, um uns mit dem Absoluten zu vereinigen. Vielmehr gilt es, diese Lücke in das Absolute selbst zu überführen. So heißt es in einer Schlüsselpassage der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, in der Hegel die prägnanteste Erklärung dafür bietet, was es heißt, die Substanz auch als Subjekt zu begreifen:

Die Ungleichheit, die im Bewusstsein zwischen dem Ich und der Substanz, die sein Gegenstand ist, stattfindet, ist ihr Unterschied, das Negative überhaupt. Es kann als der Mangel beider angesehen werden, ist aber ihre Seele oder das Bewegende derselben; weswegen einige Alte das Leere als das Bewegende begriffen, indem sie das Bewegende zwar als das Negative, aber dieses noch nicht als das Selbst erfassten. – Wenn nun dies Negative zunächst als Ungleichheit des Ichs zum Gegenstande erscheint, so ist es ebensosehr die Ungleichheit der Substanz zu sich selbst. Was außer ihr vorzugehen, eine Tätigkeit gegen sie zu sein scheint, ist ihr eigenes Tun, und sie zeigt sich wesentlich Subjekt zu sein.2

Die letzte Umkehrung ist von entscheidender Wichtigkeit: Die Ungleichheit zwischen Subjekt und Substanz ist gleichzeitig die Ungleichheit der Substanz mit sich selbst – oder, um es mit Lacan zu sagen: Ungleichheit heißt, dass der Mangel im Subjekt gleichzeitig der Mangel im Anderen ist. Subjektivität entsteht, wenn die Substanz nicht zur völligen Übereinstimmung mit sich selbst gelangen kann, wenn sie in sich selbst „gesperrt“, von einer immanenten Unmöglichkeit oder einem Antagonismus durchzogen ist. Kurz gesagt: Der Erkenntnismangel des Subjekts, sein Scheitern daran, den ihm entgegengesetzten substanziellen Inhalt vollständig zu erfassen, bezeichnet zugleich eine Begrenztheit, ein Scheitern oder einen Mangel des substanziellen Inhalts selbst. Die Gleichheit von Denken und Sein, wie sie zuerst von Parmenides behauptet wurde („denn Denken und Sein sind dasselbe“), stellt auch die Grundthese von Hegels Idealismus dar. Für Hegel sind Denkbestimmungen zugleich Seinsbestimmungen; es gibt keine Lücke, die das unerkennbare Ding an sich von unserer Erkenntnis trennen würde. Bei Hegel kommt aber noch ein spezieller Dreh hinzu: Für ihn sind die Limitierungen (Antinomien, Fehlfunktionen) des Denkens zugleich die Limitierungen des Seins selbst.

Darin besteht auch die wesentliche Dimension der theologischen Revolution des Christentums: Die Entfremdung des Menschen von Gott muss auf Gott selbst rückprojiziert/-übertragen werden als dessen eigene Entfremdung von sich selbst (darin besteht der spekulative Gehalt des Gedankens von der kenosis Gottes) – dies ist die christliche Fassung von Hegels Erkenntnis darüber, inwiefern die Ungleichheit von Subjekt und Substanz die Ungleichheit der Substanz in Bezug auf sich selbst einschließt. Darum wird die Einheit von Mensch und Gott im Christentum auf eine Weise dargestellt, die sich fundamental von derjenigen heidnischer Religionen unterscheidet, bei denen der Mensch danach streben muss, seinen Abfall von Gott dadurch zu überwinden, dass er sein Dasein von irdischem Schmutz reinigt und sich zur Vereinigung mit Gott erhebt. Im Christentum dagegen fällt Gott von sich selbst ab; er wird zu einem endlichen Sterblichen, von dem Gott sich (in der Gestalt Christi und seiner Klage am Kreuz: „Vater, warum hast du mich verlassen?“) abwendet, und der Mensch kann die Einheit mit Gott nur erlangen, indem er sich mit diesem Gott identifiziert: einem von sich selbst im Stich gelassenen Gott. Dies ist die Grunderfahrung des Christentums: Ein gläubiger Christ vereinigt sich mit Gott nicht unmittelbar, sondern erst durch die Vermittlung Christi – während Christus sich von Gottvater verlassen wähnt, identifiziert ein gläubiger Christ seine Entfremdung von Gott mit der Entfremdung Gottes (Christi) von sich selbst, sodass ihn gerade der Abstand, der ihn von Gott trennt, mit Gott vereint.

Dieser einzigartige Wesenszug des christlichen Glaubens lässt auch die Verbindung zwischen Christentum und Marxismus in neuem Licht erscheinen. Unter „christlichem Marxismus“ versteht man in der Regel eine spirituell aufgeladene hybride Denkrichtung, die sich durch das Bemühen kennzeichnet, das marxistische Revolutionsprojekt von der christlichen Erlösung her zu begreifen. Im Unterschied zu dieser (in der Befreiungstheologie auszumachenden) Tendenz gilt es, darauf zu bestehen, dass ein Marxismus ohne Christentum nur ein weiteres, allzu idealistisches Projekt zur Befreiung des Menschen bleibt. Das Paradoxe ist, dass erst die Verbindung mit dem Christentum (mit dessen zentralem Motiv des Mangels im Anderen selbst) den Marxismus wirklich materialistisch macht.

Bei Hegel findet sich dieses Motiv in diversen Variationen immer wieder. So spricht er etwa davon, dass die Geheimnisse der alten Ägypter auch für die Ägypter selbst Geheimnisse waren – das bedeutet, dass sie nicht durch die Enthüllung irgendwelcher tieferer Zusammenhänge aufgelöst werden, sondern dadurch, dass einfach nur der Ort des Geheimnisses geändert wird, indem er verdoppelt wird. Dabei wird kein neuer, positiver Inhalt hervorgebracht; der Vorgang beschränkt sich auf eine rein topologische Überführung der Lücke, die mich vom Ding trennt, in das Ding selbst. Diese Verdopplung der Lücke, dieser einzigartige Moment des Erkennens, dass dieselbe Lücke, die mich von dem Ding trennt, mich in das Ding einschließt, ist der einzigartige Moment meiner Berührung mit dem Absoluten. Vor diesem Hintergrund können wir nun eine genauere Bestimmung des absoluten Wissens vornehmen: Es bezeichnet dieses verdoppelte Nichtwissen, die gewaltsame Verdrehung, durch die wir schließlich erkennen, dass unser Nichtwissen zugleich das Nichtwissen inmitten des Anderen selbst ist. (Wie wir im dritten Kapitel an der Figur der Klein’schen Flasche sehen werden, verortet sich diese Verdopplung in der Tülle, mit der die Flasche in sich selbst zurückkehrt). Wenn man diesen entscheidenden Aspekt vernachlässigt, versteht man einfach nicht, warum ich mit Nachdruck auf die primordiale Lücke usw. bestehe. Žižek, so schreibt Robert Pippin so weit richtig, „,ontologisiert‘ die von Kant namhaft gemachten Lücken in unserer Erkenntnis. Mit Hegel, wie Žižek ihn versteht, erklärt er sie zu Lücken im Sein“. Weiter aber heißt es:

Ich war davon immer wieder verblüfft. Wenn mit der Rede von einem „sich selbst entzweienden“ Sein einfach nur gemeint ist: Wir müssen damit umgehen, dass das Sein Subjekte und Objekte umfasst, dass die Welt nun mal so eingerichtet ist, dass sie irgendwie zu dieser Dualität geführt hat, dann sind wir noch genauso mit all unseren Schwierigkeiten konfrontiert. (Wie konnten Subjekte Objekte erkennen? Wie konnten Subjekte Objekte umherbewegen, den Körper eingeschlossen? Wie konnten Objekte Bewusstsein erlangen? Wenn es sich dabei um falsch formulierte Scheinprobleme handelt, was Hegel meiner Ansicht nach annimmt, so gibt das Entzweiungsgeschehen keinen Aufschluss darüber, warum dies so ist.) Wenn „entzweit sich selbst“ etwas erklären soll – worin begründet sich dann das Entzweien und inwiefern gibt uns das Entzweiungsgeschehen Aufschluss über diese „Immanenz“, aber nicht die „Reduzierbarkeit“ (ist das nicht das alte Problem in neuem Gewand?), und inwiefern würde uns das mit den alten Schwierigkeiten weiterhelfen? Schlicht gesagt: Es begründet sich in nichts; das Entzweiungsgeschehen ist reine Kontingenz (auch das ein häufiges Mantra; alles habe seinen Ursprung in der Leere), es erübrigt jedes weitere Gespräch, philosophisch aber stellt es keine Hilfe dar.3

Pippin geht hier ein bisschen schnell vor. Ich für meinen Teil behaupte nicht, dass das Sein „sich selbst“ in Subjekt(e) und Objekt(e) „entzweit“, sondern meine These ist viel präziser gefasst. Die Frage lautet: Wenn die „objektive“ Realität in gewissem Sinne alles umfasst, „was es gibt“ – den Kosmos –, wie müsste sie dann strukturiert sein, damit die Subjektivität in ihr und aus ihr heraus entstehen konnte? (Oder, philosophischer gefragt: Wie ließen sich die ontische Sicht der Realität und die transzendentale Dimension miteinander in Einklang bringen? Die transzendentale Dimension müsste in der Realität, die ihr vorausgeht, irgendwie „ausgebrochen“ sein – wie könnte sich das abgespielt haben? Wie lässt es sich denken, ohne auf einen naiven, vorkritischen Realismus zurückzufallen?) Ich vermeide hier einen simplen Evolutionsansatz wie auch jede Annahme einer primordialen Identität des Absoluten, das sich dann in Objekt und Subjekt „selbst entzweit“. Die parallaktische Spaltung ist hier ebenso grundlegend wie radikal: Einerseits ist alles, was wir als Realität erfahren, transzendental konstituiert, andererseits muss die transzendentale Subjektivität irgendwie aus dem ontischen Wirklichkeitsprozess hervorgegangen sein. Begriffe wie „absoluter Gegenstoß“ oder „Lücke“ sind auf dieser paratranszendentalen Ebene anzusiedeln; sie bezeichnen die vorontische und vorontologische Struktur der objektiven Realität (in ihrer durch diese Struktur vermittelten transzendentalen Verfasstheit). Meine Hypothese ist, dass auf dieser Ebene verrückte Dinge passieren, passieren müssen, und unter anderem auch das, was ich mit Bezug auf die Quantenphysik „weniger als nichts“ nenne – wir sind demnach weit entfernt von der tautologischen Simplizität der Entzweiung, wie Pippin sie unterstellt. Es ist bezeichnend, dass er wiederholt das Verb „entzweien“ benutzt, das sich in dem berühmten Systemfragment findet, welches ich jedoch zu vermeiden suche, weil es impliziert, dass sich irgendeine Art von Ur-Einheit „entzweit“, also von sich selbst trennt. Nach meiner Auffassung gibt es jedoch keine vor der Entzweiung bestehende Einheit (nicht nur empirisch gesehen, sondern auch unter dem Gesichtspunkt logischer Zeitlichkeit): Die durch die Entzweiung verlorene Einheit resultiert rückwirkend aus der Entzweiung selbst, so wie es etwa bei Beckett heißt: Ein Ding teilt sich selbst in eins. In dem Sinne gilt es, auch Hegels Ausdruck „absoluter Gegenstoß“ zu verstehen: Es ist nicht einfach nur so, dass eine substanzielle Entität von sich selbst „zurückprallt“, sich von sich selbst trennt. Der Punkt ist vielmehr, dass diese Entität durch den Rückstoß entsteht, als Rückwirkung ihrer Teilung. Die Frage ist also nicht, „Wie/warum das Eine sich teilt“, die Frage ist, wo dieses Eine herrührt.

Selbst Beckett geht hier mit seiner häufig zitierten Äußerung („Jedes Wort ist wie ein unnötiger Fleck auf dem Schweigen und dem Nichts“) an der Sache vorbei. Was Beckett nämlich nicht erfasst, ist der Umstand, dass ein Wort-Fleck, so unnötig und überflüssig er auch erscheinen mag, dennoch unvermeidlich bleibt – erzeugt er doch rückwirkend erst die Stille, die er befleckt. Ja, Wörter sind unzulänglich, diese Eigenschaft definiert sie geradezu, allerdings schaffen sie rückwirkend überhaupt erst den Maßstab, nach dem sie unzulänglich erscheinen. Der in sich geschlossene selbstbezügliche Zirkel des absoluten Gegenstoßes, bei dem die Ursache eine Rückwirkung ihrer Wirkungen darstellt, ist damit tatsächlich eine Art Erfüllung der lustigen Geschichte über den Baron Münchhausen. Dieser zog sich bekanntlich mitsamt dem Pferd, auf dem er saß, selbst aus dem Sumpf, in dem er vollständig zu versinken drohte; er packte sich am eigenen Schopf und hievte sich nach oben. In der Naturwirklichkeit ist so etwas selbstverständlich unmöglich, ein unsinniges Paradox, das allenfalls als Spaß durchgeht. Auf dem Gebiet des Geistes kann es sich hingegen nicht bloß ereignen, es ist vielmehr sogar das Definitionsmerkmal des Geistes. Die materielle Basis dieser Selbstsetzungsschleife besteht natürlich weiter: „Es gibt keinen Geist ohne Materie“; wird der Körper zerstört, verschwindet der Geist. Die Selbstsetzung des Geistes stellt jedoch nicht einfach nur eine Art „Nutzerillusion“ dar, sondern besitzt eine eigene Realität und wirkt sich entsprechend real aus. Darum lag Nietzsche mit seinem herablassenden Verweis auf Münchhausen in Jenseits von Gut und Böse doppelt falsch: „Das Verlangen nach der ‚Freiheit des Willens‘ […,] das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen […,] ist nämlich nichts Geringeres, als […] sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren ins Dasein zu ziehn.“

Nietzsche wendet sich hier gegen die Selbstsetzung, die im Deutschen Idealismus das Subjekt definiert. Allerdings gilt es festzuhalten, dass diese Weise, „sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren ins Dasein zu ziehen“, bereits in der Natur angelegt ist – in der Natur, soweit sie „vornatürlich“ ist, noch keine Naturwirklichkeit, sondern die Quanten-Protorealität, in der Teilchen aus dem Nichts entstehen. Denken wir an das Paradox des masselosen Photons: Ein gewöhnliches Teilchen (falls es dergleichen gibt) wird als massehaltiges Objekt vorgestellt, wobei diese Masse mit beschleunigter Bewegung zunimmt. Ein Photon aber ist an sich masselos, seine gesamte Masse resultiert aus der Beschleunigung seiner Bewegung. Wir haben es hier mit dem Paradox eines Dings zu tun, das immer ein Überschuss in Bezug auf sich selbst ist (und nichts weiter): In seinem „Normalzustand“ ist es nichts. Hier zeigt sich die Begrenztheit topologischer Modelle (wie jenes des gekrümmten Raums); wie im Fall der Klein’schen Flasche kennzeichnen sie ein Paradox, das sich in unserem dreidimensionalen Raum nicht realistisch darstellen lässt: Das disqualifiziert sie jedoch nicht, denn sie geben einem charakteristischen Merkmal, das nur im geistigen Bereich (und außerdem im Quantenuniversum) voll zum Tragen kommt, auf negative Weise Gestalt. Doch nehmen wir hier nicht eine idealistische Position ein? Behaupten wir nicht, dass unsere Realität bloß eine unvollkommene Metapher für etwas sein kann, das nur im Bereich des Geistes vollständig besteht? Nein, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Denn dass es nicht gelingt, eine vollkommene materielle Entsprechung dafür zu finden, wie der Geist funktioniert, ist nicht irgendwelchen äußeren Umständen geschuldet, sondern liegt in ihm selbst begründet. Das heißt, durch das Scheitern der Bemühungen, ihn im materiellen Bereich vollständig wiederzugeben, entsteht Geist. Gleiches gilt für das Absolute, das (wie wir im nächsten Theorieteil sehen werden) gerade durch die verfehlten Versuche, es richtig darzustellen, im Erhabenen zum Vorschein gebracht wird. Kurz gesagt, die Bemühungen, das geistige Selbstverhältnis durch ein materielles Modell (wie die Klein’sche Flasche) angemessen wiederzugeben, schlagen fehl, und dieses Scheitern lässt das geistige Selbstverhältnis selbst nicht einfach nur zutage treten, sondern es bringt es erst hervor.

In diesem Zusammenhang bedeutsam ist auch der feine Unterschied zwischen der Vorstellung eines verdoppelten Mangels und der Art und Weise, wie Quentin Meillassoux aus dem transzendentalen Zirkel ausbricht, indem er die Kontingenz unserer Realitätswahrnehmung in die Realität selbst verlegt.4 Für Meillassoux liegt der Fehler des transzendentalen Korrelationismus nicht in der vollständigen Anerkennung der Faktizität (das heißt der radikalen ontologischen Kontingenz), sondern vielmehr in der (philosophisch inkonsistenten, selbstwidersprüchlichen) Begrenzung dieser Faktizität. Der Korrelationismus versteht die ultimative Faktizität, die Beschaffenheit unserer Realität ohne Warum als unauslöschliches Kennzeichen unserer Endlichkeit. Diese halte uns bis in alle Ewigkeit unter dem Schleier der Unwissenheit gefangen und damit vom Absoluten getrennt, das wir folglich nie werden erkennen können. An diesem Punkt setzt Meillassoux an. Wie er in einem wahrhaft spekulativ-hegelianischen Parforceritt darlegt, besteht der Ausweg aus dieser Situation nicht darin, dass man sie umgeht, indem man sich auf den Standpunkt stellt, der Schleier der Unwissenheit könne trotzdem durchdrungen und das Absolute trotzdem erreicht werden. Vielmehr gelte es, die Situation uneingeschränkt anzunehmen und die entsprechenden Konsequenzen aus ihr zu ziehen. Der transzendentale Agnostizismus gegenüber dem Ansich stellt nicht deshalb ein Problem dar, weil er in seiner Skepsis zu radikal wäre, weil er „zu weit geht“, sondern weil er im Gegenteil auf halbem Wege steckenbleibt. Wie kommt nun Meillassoux zu seiner Auffassung und wie entwickelt er sie? Denken wir dazu zunächst an die dialektische Umkehrung bei Hegel, deren Logik sich am besten durch einen Witz aus der ehemaligen Sowjetunion veranschaulichen lässt, den ich regelmäßig erzähle. Er handelt von einem Juden namens Rabinowitsch, der aus der Sowjetunion emigrieren will, und das aus zwei Gründen: „Erstens“, so fürchtet er, „wird man die Schuld an den kommunistischen Verbrechen uns Juden in die Schuhe schieben, wenn die sowjetische Ordnung zerfällt.“ „Aber nicht doch“, wendet ein Vertreter der Staatsorgane daraufhin ein. „In der Sowjetunion wird sich nie etwas ändern. Der Sozialismus währt ewig!“ „Das“, erwidert Rabinowitsch ruhig, „ist mein zweiter Grund.“ Das Problem selbst – das Hindernis – erscheint rückwirkend als seine eigene Lösung, weil das, was uns den direkten Zugang zum Ding verwehrt, dieses Ding selbst ist. Und in genauer Entsprechung hierzu stellen wir uns im Fall von Meillassoux einen hegelianischen Philosophen vor, der zu seinen Studenten sagt: „Zwei Gründe sprechen dafür, dass wir das Ding an sich erkennen können. Erstens ist die phänomenale Wirklichkeit, die wir erfahren, radikal kontingent; sie könnte uns ohne Weiteres ganz anders erscheinen …“ „Aber“, unterbricht ihn einer seiner Studenten, „verliert die Wirklichkeit dadurch nicht jede Struktur und Festigkeit, sodass sie wohl kaum Ausdruck einer tieferen rationalen Notwendigkeit sein kann?“ „Tja“, erwidert der Philosoph daraufhin ruhig, „so ist das mit den an sich seienden Dingen nun mal!“ Die Schönheit und Kraft von Meillassoux’ Argumentation liegt darin, dass er von dieser unbedingten Faktizität nicht etwa zu einer Art von verallgemeinertem agnostischem Relativismus gelangt, sondern vielmehr zu der Auffassung, dass uns die Realität an sich, so, wie sie unabhängig vom Menschen besteht, im Denken zugänglich ist. Die Faktizität ist demnach kein Zeichen für die Begrenztheit unseres Erkennens, sondern der ontologische Grundzug der Realität in ihrer von uns unabhängigen Existenz selbst. Darum ist jeder Versuch, die formalen Mindestbedingungen aller denkbaren Welten zu einer allgemeinen Ontologie auszuarbeiten, von vornherein zum Scheitern verdammt. Das wiederum heißt aber nicht, dass wir zu agnostischer Skepsis verurteilt wären, denn der Schatten der Ungewissheit, der auf jede Beschreibung des Realen fällt und ihm experimentellen Charakter verleiht, ist ein Merkmal des Realen an sich: Durch das an sich seiende Reale verläuft eine Sperre des Unmöglichen, und es „experimentiert“ mit sich selbst, um unvollkommene Welten zu errichten.

Alain Badiou macht häufig keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber Kants transzendentaler Wende, und er wünschte sich, wir würden zu einem vorkantischen („vorkritischen“) Realismus zurückkehren. Was Badiou bei Kant nicht ertragen kann, ist die epistemologische Bescheidenheit, die Kant der theoretischen Vernunft verordnet, wenn er behauptet, die Dinge blieben uns in ihrem Ansich (ihrer von uns unabhängigen Existenz) prinzipiell verborgen. Entgegen dieser Sichtweise besteht Badiou mit Nachdruck auf der vollständigen Erkennbarkeit der Realität. Nichts sei unserem erkennenden Zugriff von vornherein entzogen; bei entsprechender Anstrengung wäre alles erkennbar … Badiou scheint hier allerdings zu übersehen, wie Hegel den Agnostizismus Kants überwindet. Hegel behauptet nämlich nicht einfach von einem objektiv-idealistischen Standpunkt aus, dass alles erkennbar sei, weil die Vernunft die eigentliche Substanz der Realität darstelle – er geht viel differenzierter vor. Während er sich weiter innerhalb von Kants transzendentalem Horizont bewegt, überführt er Kants Erkenntnisbeschränkung (die Unerkennbarkeit der Dinge an sich) in eine ontologische Unmöglichkeit: Die Dinge sind in sich selbst durchkreuzt, durch eine grundlegende Unmöglichkeit gekennzeichnet, ontologisch unvollständig.

Jene „Endlichkeit“, die Meillassoux’ Buch im Titel führt, ist die Endlichkeit des transzendentalen Subjekts Kants, welches die „objektive Wirklichkeit“ der Erscheinungen begründet. Meillassoux geht es um nichts weniger als darum, das noumenale Ansich – nach Kant, das heißt unter Berücksichtigung der kantischen Revolution – als Gegenstand möglicher Erkenntnis auszuweisen. Er rehabilitiert die alte Unterscheidung zwischen den „primären“ Eigenschaften von Objekten (die – unabhängig davon, wie sie vom Menschen wahrgenommen werden – zu den Gegenständen gehören) und ihren „sekundären“ Eigenschaften (Farbe, Geschmack), die nur in der menschlichen Wahrnehmung existieren. Das Grundkriterium für diese Unterscheidung ist ein wissenschaftliches und besteht in der Frage, ob ein Gegenstand sich mathematisch beschreiben lässt: „Es hat Sinn, alles, was vom Gegenstand in mathematischen Begriffen ausgesagt werden kann, als Eigenschaft des Gegenstandes an sich zu denken.“5

Aus unserer Sicht überstürzt Meillassoux die Dinge hier allerdings und erliegt der ontologischen Versuchung, indem er, wie schon Descartes, den radikalen Zweifel in ein Werkzeug verwandelt, mit dem der Zugang zum Absoluten erlangt wird, indem er die Faktizität als grundlegendes Merkmal der Realität an sich geltend macht. Doch was ist, wenn wir den Mangel (beziehungsweise die Negativität oder die Faktizität) nicht „ontologisieren“, was, wenn wir ihn nicht als Leiter benutzen, die uns den Sprung in eine positive Sicht der an sich seienden Realität ermöglicht? Was wäre, wenn wir die Überschneidung zweier Mängel dagegen als Lücke begreifen, die jede Ontologie zum Scheitern bringt, sodass wir, nachdem wir die beiden Mängel akzeptiert – oder vielmehr gedanklich durchgespielt – haben, zu der Annahme genötigt werden, dass jede objektive (Sicht der) Realität irreduzibel normativ bleibt, und also keine Tatsache darstellt, sondern etwas, das sich auf die Normativität des Symbolischen stützen muss? (So versteht Lacan die aristotelische Ontologie, genauer gesagt, Aristoteles’ Definition des Wesens to ti ēn einai: Ihre wörtliche Übersetzung „das Was-es-gewesen-ist“ impliziert eine Herrengeste, nämlich „das Was-sein-muss“). Die einzige nicht normative Tatsache ist die der Lücke der Unmöglichkeit selbst, der Sperre, die durch jede ontologische Positivität verläuft.

Sex und das verfehlte Absolute

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