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ZUSATZ 1.3:

„Der Tod der Wahrheit“

Rund um Fake News und ihre explosionsartige Ausbreitung in den Medien (und nicht nur da) sind lebhafte Debatten entbrannt. Liberale Kritiker führen in diesem Zusammenhang gern drei Ereignisse ins Feld, die durch ihre geballte Wirkung der Wahrheit auf breiter Front ein tödliches Ende bereiten. Bei dem ersten dieser Ereignisse handelt es sich um den Aufstieg von religiösem und ethnischem Fundamentalismus und seinem Gegenstück, der politischen Korrektheit. Beide sind rationalen Argumenten nicht zugänglich und von beiden Seiten werden skrupellos Daten manipuliert, um die eigene Botschaft durchzubringen. Christliche Fundamentalisten lügen für Jesus, linke Moralisten vertuschen Nachrichten, die ihre liebsten Schützlinge in schlechtem Licht erscheinen lassen, oder sie beschuldigen die Überbringer solcher Nachrichten, „islamophobe Rassisten“ zu sein. Zweitens wären da die neuen digitalen Medien, die es den Leuten ermöglichen, Gemeinschaften zu bilden, in denen ein bestimmtes ideologisches Interesse dominiert. Der Austausch von Nachrichten und Meinungen erfolgt außerhalb des von allen geteilten öffentlichen Raums, und das Resultat davon ist, dass Verschwörungstheorien und ähnliche Abstrusitäten ungehindert zirkulieren können (die Webseiten von Neonazis und Antisemiten sind hierfür ein abschreckendes Beispiel). Schließlich wäre da noch drittens das geistige Erbe von postmodernem „Dekonstruktivismus“ und historistischem Relativismus. Diesen Denkrichtungen zufolge gibt es keine allgemeingültige, objektive Wahrheit, vielmehr sei jede Wahrheit auf einen spezifischen Horizont angewiesen und gründe in einem subjektiven Standpunkt, der seinerseits von gesellschaftlichen Machtverhältnissen abhängig ist. Die Behauptung, wir könnten uns von unserer geschichtlichen Beschränkung lösen und die Dinge so sehen, wie sie objektiv sind, sei selbst die größte Ideologie. Dagegen wird natürlich wiederum eingewendet, dass es da draußen Tatsachen gibt, die einer objektiven, uneigennützigen Betrachtung zugänglich sind, und dass es zwischen Meinung und Fakten zu unterscheiden gilt. Liberal Gesinnte können sich folglich ganz bequem auf den privilegierten Standpunkt der Aufrichtigkeit stellen und sich nach beiden Seiten abgrenzen, gegenüber der alternativen Rechten wie der radikalen Linken.

Die Schwierigkeiten beginnen mit der letzten Unterscheidung: Es gibt nämlich tatsächlich so etwas wie „alternative Fakten“ – natürlich nicht in dem Sinne, dass sich die Frage stellen würde, ob es den Holocaust gegeben hat oder nicht. (Nebenbei gesagt, argumentieren alle Leugner beziehungsweise Revisionisten des Holocaust seit David Irving strikt empirisch, das heißt, sie stützen sich auf angeblich objektive Daten – den postmodernen Relativismus bemüht meines Wissens keiner dieser Leute.) Doch „Daten“ sind ein riesiges undurchdringliches Gebiet, und wir gehen, hermeneutisch gesprochen, immer von einem ganz bestimmten Verstehenshorizont aus an sie heran, wobei wir einige vorziehen, andere hingegen weglassen. Alle unsere Historien sind, wie das Wort schon sagt, Storys: eine Kombination von (ausgewählten) Daten, die in den konsistenten Zusammenhang einer Geschichte gebracht werden; sie sind keine fotografischen Reproduktionen der Wirklichkeit. Zum Beispiel könnte ein Historiker, der antisemitische Ansichten vertritt, problemlos eine Übersicht zur Rolle der Juden im gesellschaftlichen Leben in Deutschland in den 1920er-Jahren erstellen und etwa darauf verweisen, dass ganze Berufszweige (Rechtsprechung, Journalismus, Kunst) von Juden dominiert wurden – das mag alles mehr oder weniger zutreffen und stünde dennoch eindeutig im Dienst einer Lüge. Die wirksamsten Lügen sind solche, bei denen mit der Wahrheit, also mit Fakten operiert wird. Bleiben wir bei der Geschichte, aber nehmen wir ein anderes Beispiel: Die Geschichte eines Landes oder einer Nation lässt sich unter verschiedenen Aspekten erzählen – anhand der Wechselfälle politischer Macht, der wirtschaftlichen Entwicklung, der ideologischen Kämpfe oder auch mit Blick auf das Elend und die Proteste der Bevölkerung. Alle diese Betrachtungsweisen können durchaus den Fakten entsprechen und doch sind sie nicht in dem gleichen emphatischen Sinne „wahr“. Andererseits ist der Umstand, dass die Geschichte der Menschen stets aus einer bestimmten Perspektive erzählt wird, die sich wiederum mit bestimmten ideologischen Interessen verbindet, nicht mit Relativismus oder Beliebigkeit zu verwechseln. Das Schwierige an der ganzen Problematik besteht gerade darin, deutlich zu machen, dass nicht alle dieser interessengeleiteten Perspektiven letztlich gleich wahr sind – einige sind „wahrhaftiger“ als andere. Wenn man etwa die Geschichte NS-Deutschlands vom Leid der Menschen her erzählt, die von den Nationalsozialisten unterdrückt wurden, das heißt, wenn man sich dabei vom universellen Interesse an der Befreiung des Menschen leiten lässt, so drückt sich darin nicht einfach nur eine andere subjektive Perspektive aus: Dieser Zugang vermittelt vielmehr auch ein „wahreres“ Bild der Geschehnisse, weil er der gesamtgesellschaftlichen Dynamik, die den Nationalsozialismus entstehen ließ, besser Rechnung trägt. Subjektive Interessen sind nicht alle gleichzusetzen – und das nicht primär deshalb, weil die einen ethisch wertvoller sind als die anderen, sondern weil „subjektive Interessen“ nicht außerhalb des gesellschaftlichen Ganzen stehen. Sie sind selbst Momente des gesamtgesellschaftlichen Geschehens und werden von den aktiv (oder passiv) daran Mitwirkenden ausgebildet. Der Titel von Habermas’ frühem Meisterwerk ist heute vielleicht aktueller denn je: Erkenntnis und Interesse.

Doch es gibt ein noch größeres Problem mit der These vom angeblichen „Tod der Wahrheit“. Ihre Verkünder reden nämlich so, als hätte es eine einmal Zeit gegeben – die bis in die frühen 1980er-Jahre gedauert haben soll –, in der die Wahrheit ungeachtet aller Manipulationen und Verdrehungen irgendwie die Vorherrschaft innehatte und als sei ihr Siechtum eine vergleichsweise neue Erscheinung. Das ist natürlich Unsinn, wenn wir nur an die vielen Menschenrechtsverletzungen und humanitären Katastrophen denken, die sich mit den Namen von Nixon, Reagan oder Bush verbinden – angefangen beim Vietnamkrieg bis hin zur Invasion in den Irak. Der Unterschied zu damals besteht nicht darin, dass die Vergangenheit irgendwie „wahrhaftiger“ oder „ehrlicher“ war, vielmehr war die ideologische Hegemonie weit stärker ausgeprägt als heute. Während es heute von lokalen „Wahrheiten“ nur so wimmelt, wurde damals praktisch alles von einer „Wahrheit“ oder vielmehr einer großen Lüge beherrscht. Im Westen handelte es sich dabei um die (auf links oder rechts gedrehte) liberal-demokratische Wahrheit. Heute können wir erleben, wie mit der Welle des Populismus, die das politische Establishment ins Wanken gebracht hat, auch die Wahrheit beziehungsweise die Lüge zerfällt, aus der dieses Establishment sich ideologisch speiste. Der entscheidende Grund für diesen Zerfall ist nicht der Aufstieg des postmodernen Relativismus, sondern vielmehr der Umstand, dass die Machteliten nicht länger imstande sind, ihre ideologische Vorherrschaft aufrechtzuerhalten.

Jetzt verstehen wir, was diejenigen, die den Verlust der Wahrheit beklagen, wirklich bedauern: das Auseinanderfallen der einen großen Geschichte, die vom Großteil der Menschen mehr oder minder akzeptiert wurde, woraus dann wiederum die Gesellschaft ihre ideologische Stabilität bezog. Menschen, die den „historischen Relativismus“ verfluchen, sehnen sich insgeheim nach der Sicherheit jener Situation zurück, als alle Welt sich an einer großen Wahrheit orientierte (auch wenn es sich dabei um eine große Lüge handelte). Kurzum: Diejenigen, die den „Tod der Wahrheit“ beklagen, haben ihn in Wahrheit am radikalsten betrieben: Sie halten sich an das goethesche Wort „besser Unrecht als Unordnung“ – lieber eine große Lüge als eine Realität, in der sich Lügen und Wahrheiten mischen.

Heißt das, dass der postmoderne Relativismus, der von uns verlangt, diese Mischung aus Lügen und (kleinen) Wahrheiten als unsere Realität zu akzeptieren, die einzig aufrichtige Position darstellt und dass es sich bei jeder großen Wahrheit um eine Lüge handelt? Das ganz sicher nicht. Es heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass es kein Zurück zur alten Hegemonie geben wird – es gibt nur eine Möglichkeit, zur Wahrheit zurückzukehren, und diese besteht darin, sie aus einer Position universellen Emanzipationsstrebens wiederherzustellen. Wir müssen das Paradox akzeptieren, dass universelle Wahrheit und Parteilichkeit sich nicht gegenseitig ausschließen: In unseren Gesellschaften ist universelle Wahrheit nur für diejenigen erreichbar, die sich im Kampf um Befreiung engagieren, nicht für diejenigen, die „objektive“ Unentschiedenheit zu wahren suchen. Zurück zu unserem Beispiel: Antisemitismus (aber auch jede andere Form von Rassismus) ist auch dann absolut falsch, wenn er durch „Teil-Wahrheiten“ (genaue Datenangaben) gestützt wird. Es gibt nicht nur richtige und falsche Daten, es gibt auch richtige und falsche subjektive Standpunkte, denn diese sind selbst Teil der gesellschaftlichen Realität.

Sex und das verfehlte Absolute

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