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Vom intellectus ectypus zum intellectus archetypus

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Was Kant veranlasst, die Idee des intellectus archetypus zu postulieren, ist im Kern Folgendes. Zunächst nimmt er eine Unterscheidung zwischen „bestimmenden Urteilen“ (die sich auf die objektive Erscheinungswirklichkeit beziehen) und „reflektierenden Urteilen“ (welche die Ausübung des Denkens durch das Subjekt betreffen) vor:

Es ist doch etwas ganz anderes, ob ich sage: die Erzeugung gewisser Dinge der Natur, oder auch der gesamten Natur, ist nur durch eine Ursache, die sich nach Absichten zum Handeln bestimmt, möglich; oder: ich kann nach der eigentümlichen Beschaffenheit meiner Erkenntnisvermögen über die Möglichkeit jener Dinge und ihre Erzeugung nicht anders urteilen, als wenn ich mir zu dieser eine Ursache, die nach Absichten wirkt, mithin ein Wesen denke, welches, nach der Analogie mit der Kausalität eines Verstandes, produktiv ist. Im ersteren Falle will ich etwas über das Objekt ausmachen, und bin verbunden, die objektive Realität eines angenommenen Begriffs darzutun; im zweiten bestimmt die Vernunft nur den Gebrauch meiner Erkenntnisvermögen, angemessen ihrer Eigentümlichkeit, und den wesentlichen Bedingungen, ihres Umfanges sowohl, als ihrer Schranken. Also ist das erste Prinzip ein objektiver Grundsatz für die bestimmende, das zweite ein subjektiver Grundsatz bloß für die reflektierende Urteilskraft, mithin eine Maxime derselben, die ihr die Vernunft auferlegt.16

Im nächsten Schritt legt Kant dar, inwiefern reflektierende Urteile erforderlich („unentbehrlich nötig“) und gleichzeitig bloß subjektiv sind:

Wir haben nämlich unentbehrlich nötig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur in ihren organisierten Produkten durch fortgesetzte Beobachtung nachforschen wollen; und dieser Begriff ist also schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine schlechterdings notwendige Maxime. […] Was beweist nun aber am Ende auch die allervollständigste Teleologie? Beweist sie etwa, daß ein solches verständiges Wesen da sei? Nein; nichts weiter, als daß wir nach Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen, also in Verbindung der Erfahrung mit den obersten Prinzipien der Vernunft, uns schlechterdings keinen Begriff von der Möglichkeit einer solchen Welt machen können, als so, daß wir uns eine absichtlich-wirkende oberste Ursache derselben denken. Objektiv können wir also nicht den Satz dartun: es ist ein verständiges Urwesen; sondern nur subjektiv für den Gebrauch unserer Urteilskraft in ihrer Reflexion über die Zwecke in der Natur, die nach keinem anderen Prinzip als dem einer absichtlichen Kausalität einer höchsten Ursache gedacht werden können.17

Im Anschluss hieran folgt der problematischste Zwischenschritt, bei dem Kant die Kluft zwischen objektiver Realität und subjektiver Reflexion mit der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit verknüpft. Danach gibt es in der objektiven Realität nichts Mögliches, nur Wirkliches, nur das, was besteht; Möglichkeiten existieren nur für unseren endlichen Geist, der sich Dinge ausmalen kann, die es nicht gibt, die unserer sinnlichen Anschauung nicht gegeben sind. Für ein Subjekt, dem die Realität unmittelbar so, wie sie an sich ist, zugänglich wäre, in seiner Anschauung gegeben, gäbe es nichts Mögliches, nur wirkliche Dinge:

Es ist dem menschlichen Verstande unumgänglich notwendig, Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden. Der Grund davon liegt im Subjekte und der Natur seiner Erkenntnisvermögen. Denn, wären zu dieser ihrer Ausübung nicht zwei ganz heterogene Stücke, Verstand für Begriffe, und sinnliche Anschauung für Objekte, die ihnen korrespondieren, erforderlich: so würde es keine solche Unterscheidung (zwischen dem Möglichen und Wirklichen) geben. Wäre nämlich unser Verstand anschauend, so hätte er keine Gegenstände als das Wirkliche. Begriffe (die bloß auf die Möglichkeit eines Gegenstandes gehen), und sinnliche Anschauungen (welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegenstand erkennen zu lassen), würden beide wegfallen. Nun beruht aber alle unsere Unterscheidung des bloß Möglichen vom Wirklichen darauf, daß das erstere nur die Position der Vorstellung eines Dinges respektiv auf unsern Begriff und überhaupt das Vermögen zu denken, das letztere aber die Setzung des Dinges an sich selbst (außer diesem Begriffe) bedeutet. Also ist die Unterscheidung möglicher Dinge von wirklichen eine solche, die bloß subjektiv für den menschlichen Verstand gilt, da wir nämlich etwas immer noch in Gedanken haben können, ob es gleich nicht ist, oder etwas als gegeben uns vorstellen, ob wir gleich noch keinen Begriff davon haben.18

Kant ist hier nah an der landläufigen Meinung, dass es in der Wirklichkeit selbst nichts Mögliches gibt. Das Mögliche sei bloß ein Effekt der Begrenztheit unseres Verstandes, das heißt, ein Ereignis erscheint als möglich, weil wir den komplexen Kausalzusammenhang, dem es unterliegt, nicht in allen Einzelheiten verstehen. In seinem Gemeinverständlichen Lehrbuch der marxistischen Soziologie wendet Nikolai Bucharin diese Logik auf die Revolution selbst an:

[W]enn wir die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung kennen, d. h. die Wege, die die Gesellschaft unvermeidlich geht, und die Richtung der Entwicklung kennen, so werden wir auch mit Leichtigkeit die künftige Gesellschaft bestimmen können. In der Gesellschaftswissenschaft wurden derartige Prophezeiungen, die sich durchaus bewahrheitet haben, wiederholt gemacht. Auf Grund unserer Kenntnis der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung haben wir die Wirtschaftskrisen, die Entwertung des Papiergeldes, den Weltkrieg und die soziale Revolution als Folge des Krieges vorausgesagt. […] Wir können einstweilen den Zeitpunkt für den Eintritt dieser oder jener Erscheinung nicht voraussagen. Dies kommt daher, weil wir noch nicht über solche Kenntnisse der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung verfügen, die sich in genauen Zahlen ausdrücken ließen. Wir kennen die Geschwindigkeit der sozialen Prozesse nicht, aber wir sind bereits in der Lage, deren Richtung zu kennen.19

Doch warum, so möchte man naiv einwenden, sollte das Mögliche keine Eigenschaft der Wirklichkeit selbst sein? Und damit stellt sich unmittelbar die Frage: Wenn die Möglichkeit eine Eigenschaft der Wirklichkeit selbst ist, wie gilt es, sie dann zu denken? Müssen wir uns die Wirklichkeit selbst als minimal „offen“, wesentlich kontingent, „unterdeterminiert“ (nicht vollständig determiniert) vorstellen? Und was das Denken betrifft: Gehört dazu nicht auch, dass man über die Wirklichkeit hinausdenkt, mit Hypothesen und alternativen Szenarios spielt? Und wenn dem so sein sollte, müsste dann ein göttliches Denken, das auf die Wirklichkeit beschränkt wäre, nicht als unfrei bezeichnet werden? In Kants eigener Beschreibung stellt sich ein solches Denken wie folgt dar: „Für einen Verstand, bei dem dieser Unterschied nicht einträte, würde es heißen: alle Objekte, die ich erkenne, sind (existieren); und die Möglichkeit einiger, die doch nicht existierten, d. i. Zufälligkeit derselben, wenn sie existieren, also auch die davon zu unterscheidende Notwendigkeit, würde in die Vorstellung eines solchen Wesens gar nicht kommen können.“20 Und weil dem Sein-Sollen nur in der Dimension des Möglichen Bedeutung zukommt (denn etwas, das bereits Fakt ist, kann unmöglich als unsere Tunspflicht dargestellt werden), wären das Ist und das Sollen durch keine Lücke voneinander getrennt:

[S]o ist klar, daß es nur von der subjektiven Beschaffenheit unsers praktischen Vermögens herrührt, daß die moralischen Gesetze als Gebote (und die ihnen gemäße Handlungen als Pflichten) vorgestellt werden müssen, und die Vernunft diese Notwendigkeit nicht durch ein Sein (Geschehen), sondern Sein-Sollen ausdrückt: welches nicht stattfinden würde, wenn die Vernunft ohne Sinnlichkeit (als subjektive Bedingung ihrer Anwendung auf Gegenstände der Natur), ihrer Kausalität nach, mithin als Ursache in einer intelligiblen, mit dem moralischen Gesetze durchgängig übereinstimmenden, Welt betrachtet würde, wo zwischen Sollen und Tun, zwischen einem praktischen Gesetze von dem, was durch uns möglich ist, und dem theoretischen von dem, was durch uns wirklich ist, kein Unterschied sein würde.21

Jetzt schließlich hat der intellectus archetypus seinen Auftritt als Intellekt, der sich eindeutig von unserem endlichen Geist abhebt. Es gilt hier auf die Feinheiten von Kants Argumentation zu achten. Er spricht davon, dass „wir […] eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mussten, wenn die unsrige als eine besondere Art, nämlich die, für welche Gegenstände nur als Erscheinungen gelten, gehalten werden sollte“22. Das heißt, unser endlicher intellectus ectypus steht zu dem des archetypus nicht bloß in logischem Gegensatz (so wie das für Schwarz und Weiß, Groß und Klein usw. gilt), sondern er erscheint vielmehr unmittelbar als „eine besondere Art“, eine Verzerrung eines vorausgesetzten Allgemeinmodells (so wie etwa ein Mensch mit nur einem Bein unmittelbar als verzerrte, besondere Version eines Menschen mit zwei Beinen wahrgenommen wird). Der Gegensatz von intellectus archetypus und intellectus ectypus ist nicht der Gegensatz von zwei Arten des Intellekts, sondern der Gegensatz von Allgemeinem und besonderer Art. Und darum trifft das Gegenteil nicht zu – das heißt, dass wir, um uns den göttlichen intellectus archetypus vorzustellen, nicht „eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben m[üss]en“, also unseren endlichen intellectus ectypus:

[Es] muß hier die Idee von einem andern möglichen Verstande, als dem menschlichen, zum Grunde liegen (so wie wir in der Kritik der r[einen] V[ernunft] eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mußten, wenn die unsrige als eine besondere Art, nämlich die, für welche Gegenstände nur als Erscheinungen gelten, gehalten werden sollte), damit man sagen könne: gewisse Naturprodukte müssen, nach der besondern Beschaffenheit unseres Verstandes, von uns, ihrer Möglichkeit nach absichtlich und als Zwecke erzeugt, betrachtet werden.23

Um zu verstehen, warum Kant hier von Zwecken spricht, müssen wir etwas weiter ausholen. Seiner Auffassung nach können wir, wenn wir lebendigen Wesen begegnen und sie zu verstehen versuchen, gar nicht anders als ihren Aktivitäten und Organen einen Zweck zu unterstellen: Tiere haben Augen zum Sehen, Zähne, um Nahrung zu ergreifen, Beine, damit sie sich bewegen können; doch anders als die Transzendentalkategorien von Ursache und Wirkung sei Zweckhaftigkeit keine konstitutive Kategorie unserer Erscheinungswirklichkeit, und darum dürfe sie in den Wissenschaften – in denen es darum geht, Dinge nicht anhand ihrer Zwecke, sondern anhand von Wirkungsgefügen zu erklären – auch nicht als Kategorie (zur Anwendung auf Phänomene) benutzt werden. Aus diesem Grund gibt es, wie Kant weiter anmerkt, auch keinen Newton der Biologie – Organismen (Lebewesen) fallen demnach nicht in den Kompetenzbereich der deterministischen Wissenschaft: Bei einem Organismus sind die Teile dem Ganzen nicht einfach äußerlich, sondern bilden seine Organe, fügen sich ihm durch ihre Zwecke organisch ein. Damit vollziehe ein Organismus bereits den ersten Schritt zur Überwindung der Dualität von Vernunft und Anschauung: Die empirischen Bestandteile, aus denen er sich zusammensetzt (die Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung), sind nicht einfach ein kontingenter, ihm äußerlicher Stoff; vielmehr sind sie organisch verwurzelt in dem Ganzen, das er darstellt, und bilden Momente seiner Selbstreproduktion – das heißt, bei einem Organismus bringt der allgemeine Begriff seine Teile „organisch“ aus sich selbst hervor und entfaltet und spezifiziert sich in ihnen. (Wir sollten hier nicht auf Spekulationen eingehen, wie Kant auf den Darwinismus reagiert hätte, der genau das leistet, was Kant als unmöglich betrachtete: Er bietet eine wissenschaftliche Erklärung dafür, wie die Zweckhaftigkeit aus dem nicht zweckgerichteten Wechselspiel der Elemente hervorgeht, und so gesehen war Darwin der Newton der Biologie. Würde Kant sich dieser Betrachtung anschließen, bestünde die intellektuelle Anschauung – die Auffassung der Dinge, wie sie an sich selbst sind – in keiner höheren Sicht eines Universums göttlicher Zwecke, sondern in einer viel erschreckenderen Sicht der Wirklichkeit, die vollständig auf die Interaktion freiheitsberaubter „Marionetten“ reduziert wäre, wie das Kant am Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft selbst nahelegt.) In der zur intellektuellen Anschauung gehörenden Wirklichkeitssicht – einer Sicht, in der die Lücke zwischen Verstand und Anschauung, zwischen allgemeiner Form und besonderem/kontingentem/empirischem Inhalt geschlossen ist – würde außerdem unser Verstand von seiner Abhängigkeit von heterogenen Inhalten befreit; er würde zur vollkommenen und vollständigen Spontaneität gelangen:

Di[e] Zufälligkeit findet sich ganz natürlich in dem Besondern, welches die Urteilskraft unter das Allgemeine der Verstandesbegriffe bringen soll; denn durch das Allgemeine unseres (menschlichen) Verstandes ist das Besondere nicht bestimmt; und es ist zufällig, auf wie vielerlei Art unterschiedene Dinge, die doch in einem gemeinsamen Merkmale übereinkommen, unserer Wahrnehmung vorkommen können. Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein muß, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden, und das unter seine Begriffe gebracht werden kann. Weil aber zu [aller] Erkenntnis [nicht nur Verstand, sondern] auch Anschauung gehört, und ein Vermögen einer völligen Spontaneität [statt Rezeptivität] der Anschauung ein von der Sinnlichkeit unterschiedenes und davon ganz unabhängiges Erkenntnisvermögen, mithin Verstand in der allgemeinsten Bedeutung sein würde.24

Kant nimmt hier eine wesentliche Einschränkung vor. Ihm zufolge müssen wir nicht den Beweis antreten, dass ein zu solcher Anschauung befähigter intellectus archetypus Wirklichkeit sei; wir müssten nicht einmal seine Möglichkeit beweisen. Damit der intellectus archetypus seine notwendige Funktion erfüllen kann, reicht es, ihn als konsistente (widerspruchsfreie) Voraussetzung zu setzen – kurz gesagt, es genügt, ihn zu denken:

Es ist hierbei auch gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen, Verstandes (intellectus ectypus), und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit, auf jene Idee (eines intellectus archetypus) geführt werden [und] diese auch keinen Widerspruch enthalte.25

Das Paradoxe dabei ist, dass – obwohl Kant die Identität von Denken und Sein, Hervorbringen und Wahrnehmen für unmöglich erklärt, soweit es unseren endlichen Geist betrifft – mit dem intellectus archetypus etwas passiert, das dem formal ähnelt: Es genügt, ihn (in unserem Denken) vorauszusetzen (und, so könnte man hinzufügen, er muss eine reine Voraussetzung bleiben, damit er seine Funktion erfüllen kann – denn würde bewiesen, dass es ihn in Wirklichkeit gibt, wäre das verhängnisvoll). Wir bekommen es hier mit einem Kant in bester postmoderner Manier zu tun: Einerseits rühmt er die Macht reiner Voraussetzung, einer für unseren Realitätssinn konstitutiv notwendigen Illusion (wir müssen voraussetzen, dass unser Universum von Gott beherrscht wird, wenn wir es als ein konsistentes Ganzes erfassen wollen), andererseits macht er gleichzeitig die irreduzible Lücke geltend, die unsere von einer notwendigen Illusion regulierte Realität vom Realen, dem Ansich, das vielleicht wirklich eine chaotische Ungeheuerlichkeit ist, trennt.

Aus dieser Sicht kann Hegels Kritik von Kants Begriff des intellectus archetypus eigentlich nur als rückwärtsgerichtetes Phänomen, als Schließung der Lücke und Rückübersetzung Kants in die traditionelle aristotelisch-thomistische Ontologie erscheinen: Kant sieht nicht, dass die Idee (des höchsten Gutes, eines Verstandes, der „wahrer“ sei als unsere Erscheinungswirklichkeit) längst keine bloß subjektiv-regulative Idee ist, sondern vielmehr die höchste Wirklichkeit selbst, die Vernunft, die ihr geistiges Regiment über die Welt führt und sämtliche Antinomien zur Aufhebung bringt. Wie erwartet, würdigt Hegel Kants Idee eines „Allgemeine[n], welches das Besondere an ihm selbst hat“ – worin für Kant, wie Hegel anfügt, „die Idee der Urteilkraft“ besteht – und scheint sie ins Aristotelisch-Thomistische zu wenden: „Zweck ist der Begriff, der immanent ist, nicht die äußerliche Form und Abstraktion gegen ein zugrunde liegendes Material, sondern durchdringend, so daß alles Besondere durch dies Allgemeine selbst bestimmt ist.“26 Kant entgehe das; für ihn entfalte sich „[d]er Reichtum des Gedankens […] in subjektiver Gestalt“, falle „alle Fülle, aller Inhalt […] ins Vorstellen, Denken, Postulat. Alles das ist subjektiv; wir wissen nicht, was diese Dinge an sich sind. Das Ansich ist aber nur das caput mortuum, die tote Abstraktion des Anderen, das leere, unbestimmte Jenseits.“27

Der Gegensatz zwischen Kant und dem Deutschen Idealismus nach ihm ist demnach der Gegensatz zwischen Verstand und Vernunft: Fichte, Schelling und Hegel stellt sich das Absolute als Kraft des Spekulativen dar, das allen Inhalt aus seiner eigenen Selbstbewegung hervorbringt, während Kant ungeachtet seiner spekulativen Einsichten in den rohen Oppositionen des Verstandes gefangen bleibt:

Der Grund, warum diese wahre Idee nicht das Wahre sein soll, ist, weil die leeren Abstraktionen von einem Verstande, der sich im abstrakt Allgemeinen hält, und von einem gegenüberstehenden sinnlichen Stoffe der Einzelheit einmal als das Wahre vorausgesetzt sind. Kant kommt näher ausdrücklich auf die Vorstellung eines intuitiven Verstandes. [Dieser] gibt allgemeine Gesetze, bestimmt aber ebenso das Besondere […] das ist tiefe Bestimmung; das ist das wahrhaft Konkrete, durch den inwohnenden Begriff bestimmte Realität [oder] die adäquate Idee, wie Spinoza sagt. […] Aber daß dieser „intellectus archetypus“ die wahre Idee des Verstandes sei, darauf kommt Kant nicht; […] Sonderbarerweise hat Kant diese Idee des Intuitiven, weiß nicht, warum sie keine Wahrheit haben soll, – weil unser Verstand anders beschaffen sei, [nämlich so] daß er „vom Analytisch-Allgemeinen zum Besonderen gehen muß.28

Kurzum, obwohl Kant bereits „die Idee des Denkens“ ausarbeitete, „die absoluter Begriff an ihr selbst ist, den Unterschied, die Realität an ihr selbst hat“, wich er vor ihr in „eine vollendete Verstandesphilosophie [aus], die auf Vernunft Verzicht tut“:

Bei Kant ist also das Resultat: „Wir erkennen nur Erscheinungen“; bei Jacobi dagegen: „Wir erkennen nur Endliches und Bedingtes.“ Über beide Resultate ist nun eitel Freude unter den Menschen gewesen, weil die Faulheit der Vernunft nun, gottlob, von allen Anforderungen des Nachdenkens sich entbunden, der Freiheit ein vollkommenes Recht eingeräumt meinte und nun, da das Insichgehen, das in die Tiefe der Natur und des Geistes Steigen erspart war, es sich wohlsein lassen konnte.29

Eine solche vereinfachende Lesart, nach der Hegel mit seinem Denken auf die vorkritische Metaphysik zurückgeht, verfehlt allerdings das Entscheidende seiner Kant-Kritik, das sich in der merkwürdig scheinenden Rede von der „Faulheit der Vernunft“ bekundet, der Kant sich schuldig gemacht habe. Worin genau aber besteht die „Faulheit“ von Kants Denken, die bei seinen „kritischen Anhängern“ für „ungetrübte Freude“ sorgte? Sie besteht in dem, was Hegel in seiner Deutung von Kants Antinomien als dessen übertriebene „Zärtlichkeit für die Dinge“ der Welt kritisiert: Sobald Kant sich in Widersprüchen und Antinomien verfängt, wenn er über den endlichen Horizont unserer Sinneserfahrungen hinausdenkt, sieht er darin (in den Widersprüchen und Antinomien) den Beweis, dass wir es mit unseren subjektiven Prozessen und nicht mit den Dingen selbst zu tun haben, da die Dinge seiner entschiedenen Auffassung nach keine Widersprüche enthalten können.30 Für Hegel dagegen sind Widersprüche und Antinomien die ureigensten Merkmale der Sachen selbst, sogar (und vor allem) von Gott als der höchsten „Sache“. Denken wir an all die Blockaden und Rückschläge, die wir mit unserem Denken erleiden, wenn wir in eine Thematik, die sich uns verschließt, einzudringen versuchen. Der Grundannahme des von Hegel sogenannten Idealismus zufolge ist diese Bewegung nicht einfach nur die Bewegung unseres Geistes, der mit der Sache ringt, sondern etwas der Sache selbst Immanentes: Was dem Anschein nach Erkenntnisprozess ist, erweist sich als Teil der ontologischen Struktur der Sache selbst. Darum stellen Antinomien für Hegel kein Problem dar, sondern die Lösung (nämlich ihre eigene), und so „überwindet“ er auch die kantische Kluft zwischen dem Ist und dem Sollen: Er überführt die für die Deontologie kennzeichnende Spannung (nichts ist je, wie es sein soll) in die Ontologie selbst, so wie unsere Bemühungen, die Realität zu durchdringen, die Realität sind:

Der Mangel der Kantischen Philosophie liegt in dem Auseinanderfallen der Momente der absoluten Form; oder, von der andern Seite betrachtet, unser Verstand, unser Erkennen bildet einen Gegensatz gegen das Ansich: es fehlt das Negative, das aufgehobene Sollen, das nicht begriffen ist.31

Der Vorwurf, Kant lasse die Momente des Absoluten „auseinanderfallen“, ist ganz wörtlich zu nehmen: Was in Kants Denken „auseinanderfällt“, ist das Absolute in seiner transzendenten Unbeweglichkeit und die subjektive Vermittlungsbewegung, die das Absolute nicht zu erreichen vermag. Anders gesagt, ist die Macht des Denkens gerade die Macht des „Auseinanderfallens“, des Auseinanderreißens dessen, was organisch zusammengehört, und Kant scheut sich, dieses „Auseinanderfallen“ in das Absolute selbst zu verlegen. Im Gegensatz zur intellektuellen Anschauung der unmittelbaren Identität von Subjekt und Objekt, Aktivität und Wahrnehmung, ist die hegelsche spekulative Identität von Subjekt und Objekt, Denken und Handeln demnach keine glückselig-vorreflexive Einheit der Anschauung, sondern vielmehr eine Einheit, die durch eine Lücke vermittelt wird. Der Bereich des Seins ist in sich selbst nichtganz, durchkreuzt, und Denken ist die Aktivierung dieses Lochs in der Seinsordnung – wir „denken“ in unserer Vorstellung über das Seiende hinaus in das hinein, was nicht existiert oder was existieren könnte. „Denken“ gibt es, weil das Sein nicht mit sich identisch ist, sondern durchkreuzt, von einer Grundunmöglichkeit gekennzeichnet, sodass „Denken und Sein identisch sind“ im Sinne eines fortdauernden Extrems.32 Traditionell werden drei Hauptversionen der Einheit von Denken und Sein unterschieden: die mystisch-anschauende Erfahrung ihrer Einheit (die intellektuelle Anschauung), die aristotelisch-thomistische Auffassung eines von göttlichen Zwecken regulierten Vernunftuniversums und die spinozistisch-materialistische Version eines vollständigen Determinismus. Hegel lässt sich auf keine der drei reduzieren, weil seine Einheit radikale Instabilität und Spannungen einschließt, die Behauptung einer radikalen Lücke. Religiös ausgedrückt, steht Hegel auf der Seite des Protestantismus gegen die katholisch-organische Harmonie des Universums. Hegels „Einheit“ besteht nur in der Überführung dieser Lücke in das Absolute selbst.

Sex und das verfehlte Absolute

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