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Intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel
ОглавлениеBeginnen wir mit dem Begriff der „intellektuellen Anschauung“ als dem ungehinderten Fluss unmittelbaren Selbstbewusstseins, in dem Freiheit und Notwendigkeit, Aktivität und Passivität zusammenfallen. Die intellektuelle Anschauung ist innerhalb des Raums, den das kantische Denken bildet, unmöglich, weil Kant sich mit seinem Begriff des transzendentalen Ich auf eine gewisse Lücke (zum Realen) stützt, die in der Erfahrung der intellektuellen Anschauung eben genau geschlossen wird. Seiner Bestimmung in der Kritik der reinen Vernunft zufolge ist das transzendentale Subjekt nichts als „die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet.“
Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; eine Unbequemlichkeit, die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewußtsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt, sofern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, daß ich dadurch irgend etwas denke.1
Diese Zeilen gilt es sehr aufmerksam zu lesen. Kant sagt hier, dass sich das Ich durch eine fundamentale Lücke konstituiert, eine Lücke, die es (das Ich oder transzendentale Subjekt) von seiner noumenalen Stütze („diesem Ich, oder Er, oder Es […], welches denket“) trennt: Diese „Unbequemlichkeit [ist] davon nicht zu trennen“, weil das Ich nur als ex-sistierendes besteht, in Abstand von dem „Ding“, das es ist. Erkenntnistheoretisch ausgedrückt: Während wir Gegenstände in der Wirklichkeit phänomenal erkennen können (obwohl sie uns in ihrem Ansich unzugänglich bleiben), ist das Selbst für unser phänomenales Erkennen unerreichbar. Es phänomenal zu erkennen hieße, es nämlich schon noumenal zu erkennen (aufgrund seiner Selbstidentität, seiner Identität mit „sich selbst“). Und hier werden die Dinge wirklich kompliziert: Diese Lücke, die das Ich konstitutiv von seiner noumenalen Stütze trennt, bestimmt auch den Status des Ich als ethisch-praktisches. Wäre intellektuelle Anschauung möglich, bestünde die innerste, kontemplative Handlung des Ich darin, Subjekt und Objekt, Sein und Denken zur endgültigen Identität zu bringen.
Kant bezieht hier eine Gegenposition zu Spinoza. Seiner Ansicht nach lässt sich die spinozische Stellung der Erkenntnis ohne die „deontologische“ Dimension eines unbedingten Sollens unmöglich halten: Es geht ein irreduzibler Riss durch das Gefüge des Seins, und durch diesen Riss hindurch interveniert die deontische Dimension des Sollens – das Sollen füllt die Unvollständigkeit des Ist, des Seins aus. Wenn Kant sagt, er habe den Erkenntnisbereich eingeschränkt, um Raum für den religiösen Glauben zu schaffen, so ist das ganz wörtlich, auf eine grundlegend gegen Spinoza gerichtete Weise zu verstehen. Dessen Position erscheint aus kantischer Sicht wie eine alptraumhafte Vision von Subjekten, die auf den Status von Marionetten reduziert sind. Was aber kennzeichnet einen solchen Status genau? Der Ausdruck „Marionette“ findet sich bei Kant in einem rätselhaften Unterkapitel seiner Kritik der praktischen Vernunft mit dem Titel „Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“. Darin geht er der Frage nach, wie es sich auf uns auswirken würde, wenn wir Zugang zum Bereich der Noumena, zum Ding an sich erlangen könnten:
Aber, statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem, nach einigen Niederlagen, doch allmählich moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und Ewigkeit, mit ihrer furchtbaren Majestät, uns unablässig vor Augen liegen […]. [S]o würden die mehresten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen aber, worauf doch allein der Wert der Person und selbst der der Welt, in den Augen der höchsten Weisheit, ankommt, würde gar nicht existieren. Das Verhalten der Menschen, solange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe, würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo, wie im Marionettenspiel, alle gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde.2
Für Kant also würde uns der unmittelbare Zugang zum Noumenalen gerade der „Spontaneität“ berauben, die den Kern transzendentaler Freiheit ausmacht; sie würde uns in leblose Automaten oder, zeitgemäß ausgedrückt, „denkende Maschinen“ verwandeln. Die Folgerungen aus dieser Passage sind viel radikaler und paradoxer, als es vielleicht scheint. Wenn wir ihre Widersprüchlichkeit einmal beiseitelassen (Wie könnten Furcht und leblose Gestik nebeneinander bestehen?), so legt sie den Schluss nahe, dass wir Menschen ein „bloßer Mechanismus“ ohne Autonomie und Freiheit sind, und zwar sowohl auf phänomenaler wie auch auf noumenaler Ebene: Als phaenomena sind wir nicht frei, sondern Teil der Natur, ein „bloßer Mechanismus“, gänzlich Kausalzusammenhängen unterworfen, Teil des Ursache-Wirkung-Gefüges; und auch als noumena sind wir nicht frei, sondern auf einen „bloßen Mechanismus“ reduziert. (Bildet ein Mensch, wie er von Kant beschrieben wird, der über unmittelbares Wissen vom Noumenalen verfügt, nicht eine genaue Entsprechung zum utilitaristischen Subjekt, dessen Handeln sich vollständig nach dem Lust-Unlust-Kalkül bestimmt?) Unsere Freiheit besteht lediglich in einem Raum zwischen dem Phänomenalen und dem Noumenalen. Kant schränkt die Kausalität daher nicht einfach auf den Bereich der Phänomene ein, um behaupten zu können, dass wir auf der noumenalen Ebene freie und selbstbestimmte Akteure sind: Frei sind wir nur insofern, als unser Horizont der Horizont der Erscheinungen ist und uns der Bereich des Noumenalen unzugänglich bleibt. Wir haben es hier wiederum mit der Spannung zwischen den beiden Begriffen des Realen zu tun: des Realen des unzugänglichen noumenalen Dings und des Realen der reinen Lücke, des Zwischenraums zwischen der Wiederholung des Gleichen. Das kantische Reale ist das noumenale Ding jenseits der Erscheinungen, während das hegelsche Reale genau die Lücke zwischen Phänomenalem und Noumenalem bildet, die Lücke, welche die Freiheit aufrechterhält.3
Liegt der Ausweg aus dieser Problematik darin zu behaupten, wir seien insofern frei, als wir es noumenal sind, während wir mit unserem Erkennen jedoch auf die phänomenale Ebene beschränkt bleiben? In diesem Fall wären wir auf noumenaler Ebene zwar „tatsächlich frei“, unsere Freiheit aber wäre gegenstandslos, wenn wir auch Einsicht ins Noumenale hätten, weil wir in unseren Entscheidungen immer schon durch diese Einsicht bestimmt würden. (Wer würde sich entscheiden, Böses zu tun, wenn er ganz genau wüsste, dass ihn dann die göttliche Strafe träfe?) Aber liefert dieser imaginierte Fall nicht die einzig konsequente Antwort auf die Frage, worin eine wirklich freie Handlung besteht, eine freie Handlung für eine noumenale Entität, ein Akt echter noumenaler Freiheit? Ein solcher Akt bestünde darin, all die schrecklichen Konsequenzen zu kennen, die sich aus der Entscheidung für das Böse unerbittlich ergeben, und sich dennoch dazu zu entschließen. Dies wäre eine wirklich „nicht pathologische“ Handlung, ein Akt, bei dem man ohne Rücksicht auf die eigenen pathologischen Interessen handelt.
Die Grundgeste von Kants transzendentaler Wende besteht folglich darin, das Hindernis in eine positive Bedingung umzukehren. Der gängigen leibnizschen Ontologie zufolge können wir endlichen Subjekte trotz unserer Endlichkeit frei handeln, da die Freiheit jener Funke sei, der uns mit dem unendlichen Gott vereint. Bei Kant ist diese Endlichkeit – unsere Trennung vom Absoluten – positive Bedingung unserer Freiheit. Kurz gesagt ist damit die Bedingung der Unmöglichkeit die Bedingung der Möglichkeit. In diesem Sinne ist Susan Neiman recht zu geben, wenn sie schreibt: „Es war nicht die Sorge, daß die Welt anders sein könnte, als sie uns erscheint, welche die Debatten über den Unterschied zwischen Erscheinung und Wirklichkeit befeuerte, es war vielmehr die Befürchtung, daß sie genau so ist.“4 Diese Befürchtung ist in letzter Hinsicht eine ethische: Das Schließen der Lücke zwischen Erscheinung und Wirklichkeit würde uns unserer Freiheit und dadurch unserer ethischen Würde berauben. Das heißt wiederum, dass die Lücke zwischen noumenaler Wirklichkeit und Erscheinung verdoppelt wird: Es gilt zu unterscheiden zwischen der noumenalen Wirklichkeit „an sich“ und dem, wie die noumenale Realität im Erscheinungsbereich erscheint (etwa wenn wir die Erfahrung der Freiheit und des moralischen Gesetzes machen). Diese winzige Schwelle, die beide voneinander trennt, ist die Schwelle zwischen dem Erhabenen und dem Schrecklichen: Aus unserer endlichen Perspektive ist Gott für uns erhaben; würden wir ihn jedoch unmittelbar erfahren, würde er zu einem tödlichen Schrecken für uns werden.5 Das kantische Transzendentale ist irreduzibel im Empirischen/Zeitlichen/Endlichen verankert – es ist das alle Erscheinung übergreifende Transphänomenale, wie es im endlichen Zeithorizont erscheint. Und diese Dimension des Transzendentalen (speziell im Gegensatz zum Noumenalen) ist eben das, was bei Spinoza, dem Philosophen der unendlichen Immanenz, nicht vorkommt.
Ist die Unterscheidung zwischen dem, wie mir die Dinge scheinen, und dem, wie sie mir erscheinen, nicht folglich ein ganz zentraler Punkt von Kants transzendentaler Wende? Die Erscheinungswirklichkeit besteht nicht einfach darin, wie die Dinge scheinen: Sie bezeichnet vielmehr, wie sie „wirklich“ erscheinen, wie sie eine Erscheinungswirklichkeit konstituieren, und keinen bloß subjektiven/täuschenden Schein. Nehme ich einen Gegenstand in der Erscheinungswirklichkeit falsch wahr und verwechsle ihn mit einem anderen, liegt der Fehler nicht darin, dass ich keine Vorstellung davon habe, wie die Dinge „an sich wirklich sind“, sondern darin, wie sie mir „wirklich erscheinen“. Man kann die Bedeutung dieses kantischen Schritts gar nicht hoch genug einschätzen. Die Philosophie als solche ist letztlich kantianisch, und es gilt, sie entsprechend von der kantischen Revolution her zu verstehen: nicht als naive Bemühung um ein „absolutes Wissen“, als vollständige Beschreibung der Gesamtheit der Wirklichkeit, sondern als die Arbeit an der Entfaltung des Horizonts des von jeder Beschäftigung mit den Dingen vorausgesetzten Vorverständnisses. Die eigentliche Philosophie beginnt erst mit Kant (und seinem Begriff des Transzendentalen): Davor war sie schlichte allgemeine Ontologie, Wissen über alles, aber noch nicht die Auffassung von einem transzendental-hermeneutischen Horizont der Welt. Dementsprechend hatte die nachkantische Philosophie „nur“ die eine grundlegende Aufgabe, Kant zu Ende durchzudenken. Neben anderen hatte das auch Heidegger in Sein und Zeit vor: Er wollte die Geschichte der Ontologie (Descartes, Aristoteles) von Kant her rückwärts auslegen – etwa die Physik von Aristoteles als hermeneutische Entfaltung dessen, was die Griechen sich unter dem Sein, dem Leben usw. vorstellten. (Später nahm Heidegger leider Abstand von seinem Vorhaben, Kants Durchbruch bis zum Ende nachzugehen, und tat die transzendentale Wende als weiteren Schritt in die Richtung subjektivistischer Seinsvergessenheit ab.) Der Gipfel der Ironie ist, dass Deleuze sich über diese Zusammenhänge in gewisser Hinsicht vollkommen im Klaren war: In seinen Kant-Vorlesungen von 1978 behauptet er, dass es für Kant „hinter der Erscheinung kein Wesen mehr gibt; es gibt nur den Sinn oder Unsinn dessen, was erscheint“; dies, so heißt es weiter, zeuge von „einer radikal neuen Atmosphäre des Denkens, bis hin zu dem Punkt, an dem ich sagen kann, dass wir in dieser Hinsicht alle Kantianer sind“.6
Worin besteht nun Hegels Beitrag zu dieser Konstellation? Hegel ist kein irgendwie gearteter „Vermittler“ zwischen den beiden Extremen Spinoza und Kant. Im Gegenteil: Aus hegelianischer Sicht ist das Problematische bei Kant, dass er noch viel zu spinozistisch bleibt. Die bruchlose Positivität des Seins wird lediglich auf das unzugängliche Ansich übertragen. Anders gesagt, stellt diese Faszination, die von dem schrecklichen Noumenon an sich ausgeht, aus hegelianischer Sicht die höchste Verlockung dar. Dabei geht es nicht darum, der alten leibnizschen Metaphysik zu neuem Ansehen zu verhelfen, und sei es, indem man heroisch in das noumenale „Herz der Finsternis“ vordringt und sich dessen Schrecken stellt. Vielmehr gilt es diese absolute Kluft, die uns vom noumenalen Absoluten trennt, in das Absolute selbst zu verlegen. Wenn Kant die Begrenztheit unserer Erkenntnis geltend macht, so behauptet Hegel im Gegenzug nicht, er könne die kantische Kluft überwinden und sich damit nach Art der vorkritischen Metaphysik Zugang zum absoluten Wissen verschaffen. Er vertritt vielmehr die Auffassung, dass es sich bei der kantischen Kluft bereits um die Lösung handelt: Das Sein selbst ist unvollständig. Darin liegt die eigentliche Bedeutung von Hegels Devise, es gelte, das Absolute nicht nur als Substanz, sondern auch als Subjekt aufzufassen: „Subjekt“ ist die Bezeichnung für einen Riss im Gefüge des Seins. Diese Dimension geht bei Fichte und Schelling verloren, die beide in der intellektuellen Anschauung die Lösung für Kants Inkonsistenzen sehen, für einen (ihrer Sicht nach) verborgenen Dogmatismus, von dem Kants Kritik getragen sei. Fichte beginnt mit dem thetischen Urteil: Ich=Ich, das ist reine Immanenz des Lebens, reines Leben, reine Selbstsetzung, Tathandlung, vollständige Übereinstimmung des Gesetzten mit dem Setzenden. Ich bin nur durch das Setzen ich selbst, und ich bin nichts als dieser wiederholte Vorgang des Setzens – darin besteht die intellektuelle Anschauung, dieser mystische Fluss, der dem reflexiven Bewusstsein unzugänglich ist:
Was Fichte als „intellektuelle Anschauung“ bezeichnet, gehört demnach nicht mehr der inneren Wahrnehmung, sondern dem unbedingten Absoluten jenseits des Zirkels des Selbstbewusstseins. […] Im Unterschied zu Kants regulativer Idee der Vernunft ist die Vernunft hierbei die Idee Gottes als unmittelbare, absolute, unbedingte Identität. Das unmittelbare Bewusstsein des Geistes von seinem absoluten Willen, das sich begrifflich nicht weiter fassen lässt, ist das, was Schelling in seiner Abhandlung als „intellektuelle Anschauung“ bezeichnet. Anschauung ist es, weil es noch nicht durch den Begriff vermittelt ist, und es ist intellektuelle Anschauung, weil es über das Empirische insofern hinausgeht, als es die Selbstversicherung zum Prädikat hat.“7
Fichte und Schelling zufolge kann unser Denken die äußerliche Reflexion in diesem Sinne überwinden und in der intellektuellen Anschauung zur vollen Identität mit dem Ding an sich gelangen. Hegel geht hier jedoch einen vollkommen anderen Weg. Das reflektierende Denken zu überwinden heißt für ihn nicht, es für eine Einheit mit dem Absoluten hinter sich zu lassen, sondern die Reflexion selbst zum Absoluten zu erheben, das heißt, ihr das Ansich zu nehmen, das sich ihr vorgeblich entzieht. In Bezug auf den Gegensatz zwischen intellectus archetypus (göttlichem Verstand) und intellectus ectypus (menschlichem Verstand) stellt Hegel sich nicht einfach auf den Standpunkt, dass wir die Begrenztheit des ectypus überwinden und zum archetypus übergehen können, also dem Intellekt, der allen besonderen Inhalt spontan aus sich selbst, aus seiner Form erzeugt, ohne dass es einen Eintrag von außen bräuchte. Er argumentiert vielmehr, dass wir unseren Blick radikal auf den ectypus verlagern und dessen Beschränktheit (oder das, was als solche erscheint) als das ihn positiv charakterisierende Merkmal auffassen sollten – ein Schritt, der strukturell der Differenz zwischen Verstand und Vernunft entspricht. Die Vernunft ist für Hegel kein Spezialvermögen jenseits des Verstandes; die Vernunft ist der Verstand selbst ohne sein Jenseits.
Der üblichen Auffassung nach stellt der Verstand die elementare Form des Analysierens, des Festlegens von Differenzen und Identitäten dar; er reduziert die Fülle der Realität auf eine Reihe abstrakter Merkmale. Aus dieser Sichtweise muss die spontane Tendenz des Verstandes zur identitären Verdinglichung dann durch die dialektische Vernunft korrigiert und ausgeglichen werden. Die dialektische Vernunft vermag die dynamische Komplexität der Wirklichkeit exakt nachzubilden, indem sie das veränderliche Beziehungsgeflecht entfaltet, in das jede Identität eingeschrieben ist. Dieses Geflecht steht am Anfang und zugleich am Ende aller Identität. Das ist nun aber ausdrücklich nicht die Art, wie Hegel den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft versteht. Nehmen wir eine bekannte Stelle aus der „Vorrede“ zur Phänomenologie des Geistes und lesen sie noch einmal aufmerksam:
Eine Vorstellung in ihre ursprünglichen Elemente auseinanderlegen, ist das Zurückgehen zu ihren Momenten, die wenigstens nicht die Form der vorgefundenen Vorstellung haben, sondern das unmittelbare Eigentum des Selbsts ausmachen. Diese Analyse kommt zwar nur zu Gedanken, welche selbst bekannte, feste und ruhende Bestimmungen sind. Aber ein wesentliches Moment ist dies Geschiedene, Unwirkliche selbst; denn nur darum, daß das Konkrete sich scheidet und zum Unwirklichen macht, ist es das sich Bewegende. Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten oder vielmehr der absoluten Macht. Der Kreis, der in sich geschlossen ruht und als Substanz seine Momente hält, ist das unmittelbare und darum nicht verwundersame Verhältnis. Aber daß das von seinem Umfange getrennte Akzidentelle als solches, das Gebundene und nur in seinem Zusammenhange mit anderem Wirklichen ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs.8
Es ist genau der Aspekt des Analysierens, des Auseinanderreißens der Einheit eines Dings oder eines Prozesses, der hier am Verstand, „der verwundersamsten und größten oder vielmehr der absoluten Macht“, gerühmt wird – in diesem Sinne findet er sich überraschenderweise (für jene, die der üblichen Auffassung der Dialektik anhängen) auf genau die gleiche Weise charakterisiert wie der Geist, der in Hinblick auf den Gegensatz zwischen Verstand und Vernunft eindeutig auf der Seite der Vernunft steht: „Der Geist ist in seiner einfachen Wahrheit Bewußtsein und schlägt seine Momente auseinander.“9 Alles hängt hier davon ab, wie wir diese gleichzeitige Identität und Differenz von Verstand und Vernunft verstehen: Es ist nicht so, dass die Vernunft der trennenden Macht des Verstandes etwas hinzufügt, dass sie die organische Einheit dessen, was der Verstand auseinandergerissen hat, (auf irgendeiner „höheren Ebene“) wiederherstellt und die Analyse um eine Synthese ergänzt. Die Vernunft ist in gewissem Sinne nicht mehr, sondern weniger als der Verstand, sie ist – in Anlehnung an Hegels berühmte Unterscheidung zwischen dem, was man sagen will, und dem, was man tatsächlich sagt – das, was man tatsächlich tut, wenn man seinen Verstand aktiv betätigt, im Unterschied zu dem, was man dabei zu tun beabsichtigt oder vermeintlich tut. Die Vernunft ist somit kein weiteres, zusätzliches Vermögen, das den Verstand in seiner „Einseitigkeit“ ergänzt: Die Vorstellung, dass es etwas gibt (den substanziellen Kerngehalt des analysierten Gegenstands), das sich dem Verstand entzieht, ein transrationales Jenseits außerhalb seiner Reichweite, ist die grundlegende Täuschung in Bezug auf den Verstand. Anders ausgedrückt: Um vom Verstand zur Vernunft zu gelangen, braucht man nichts weiter zu tun, als diese konstitutive Täuschung von ihm abzuziehen – der Verstand ist nicht zu abstrakt beziehungsweise zu gewaltsam, vielmehr ist er, wie Hegel es mit Blick auf Kant ausdrückte, „zu zärtlich den Dingen gegenüber“, zu ängstlich, um die gewaltsame Bewegung, die das Auseinanderreißen der Dinge darstellt, in diesen selbst auszumachen. In gewissem Sinne haben wir es hier mit einer Auseinandersetzung zwischen Epistemologie und Ontologie zu tun: Die Täuschung über den Verstand besteht darin, dass seine eigene analytische Macht nur als „Abstraktion“ verstanden wird, etwas außerhalb der „eigentlichen Realität“, die in ihrer unerreichbaren Fülle dort draußen unberührt fortbesteht. Anders gesagt, beinhaltet die übliche kritische Sicht auf den Verstand und sein Abstraktionsvermögen (wonach er lediglich eine ohnmächtige intellektuelle Betätigung ist, welche die Realität in ihrem Reichtum verfehlt) die grundlegende Täuschung über ihn. Noch anders gesagt, besteht der Fehler in Bezug auf den Verstand darin, seine negative Tätigkeit (der Trennung, des Auseinanderreißens der Dinge) nur unter ihrem negativen Aspekt zu betrachten und den „positiven“ (produktiven) Aspekt ganz zu vernachlässigen – die Vernunft ist der Verstand als sein produktiver Aspekt.10
Man kann den Akt der Abstraktion, des Auseinanderreißens auch als selbst auferlegte Blindheit verstehen, als Weigerung, „alles zu sehen“. In seinem Buch Blindness and Insight liefert Paul de Man eine differenzierte Interpretation der „Dekonstruktion“ Rousseaus durch Derrida anhand von dessen Grammatologie.11 Indem er Rousseau als „Logozentriker“ darstellt, der in der Metaphysik der Präsenz gefangen sei, übersieht Derrida – so de Mans These –, dass die Motive und theoretischen Schritte zur Dekonstruktion der Präsenzmetaphysik schon in Rousseaus Text angelegt seien. Was Derrida „dekonstruktivistisch“ gegen Rousseau vorbringt, werde häufig bereits von diesem selbst zur Sprache gebracht. Zudem sei es kein Zufall, dass Derrida diese Dinge entgangen seien, sondern eine strukturelle Notwendigkeit. Nur dadurch, dass er für sie blind sei, könne Derrida sehen, was er sieht (seine dekonstruktivistische Interpretation vornehmen). Die gleiche paradoxe Überschneidung von Blindheit und Einsicht ließe sich auch leicht anhand von anderen großen Interpretationen Derridas nachweisen, etwa an seiner eingehenden Hegel-Auslegung in Glas. Er will zeigen, dass Hegel nicht sieht, dass eine Bedingung der Unmöglichkeit eine Bedingung der Möglichkeit darstellt, dass er etwas produziert, dessen Status er verleugnen muss, um sein Gedankengebäude konsistent zu erhalten. Auch hier wird die komplexe theoretische Beweisführung mit einer groben Vereinfachung des zugrunde liegenden hegelschen Denkrahmens erkauft. Derrida reduziert ihn auf die absolut-idealistische „Metaphysik der Präsenz“, bei der die Selbstvermittlung der Idee alle Andersheit aufzuheben vermag. Sämtliche Äußerungen Hegels, die nicht zu dieser Vorstellung passen, werden als Zeichen seiner symptomatischen Inkonsistenz gedeutet, die angeblich belegen, dass er seine theoretische Produktion nicht unter Kontrolle halten könne und gezwungen sei, etwas mehr (und etwas anderes) zu sagen, als er eigentlich will.
Fichte wie auch Schelling bleiben hinter der dargestellten Einsicht zurück. Beide erheben den „absoluten Anfang“, das Prinzip aller Prinzipien, zum Ausgangspunkt: Während Fichte die intellektuelle Anschauung als unbedingte Spontaneität des Denkens, als Selbsttätigkeit des Subjekts geltend macht, sieht Schelling sie als Form der Überwindung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes selbst, als die unmittelbar vollständige Einheit von Subjekt und Objekt, als unbedingt-spontane, sich selbst hervorbringende Einheit von Fließen und Stillstand, Aktivität und Passivität, Intellekt und Anschauung, deren erstes Modell die Identität von Atman (Selbst) und Brahman (Gott) im Vedanta darstellt. In Abgrenzung zu Schelling, der die intellektuelle Anschauung zum „höchsten Organ der Philosophie“ erhebt, lehnt Hegel diese als Rückkehr zur Unmittelbarkeit ab und kommt so in gewisser Weise wieder auf Kant zurück, der eine äußerst wichtige Unterscheidung zwischen dem Bewusstsein der Selbsttätigkeit und dem Denken des Ich vorgenommen hat. Danach gehört Ersteres zur Anschauung, Letzteres hingegen zum Denken – das heißt, dass uns die Selbsttätigkeit in der Art der „sinnlichen Anschauung“ gegeben ist, wohingegen das Ich in der Art des anschauungslosen „Verstandesdenkens“ aufgefasst wird. Dadurch treten die „Selbsttätigkeit“ als Phänomen und das „Ich“ auseinander, und aufgrund dieser Trennung ist „[d]as Bewußtsein seiner selbst […] also noch lange nicht eine Erkenntnis seiner selbst“12. Für Kant wäre nur ein göttlicher Intellekt (Gott) imstande, die trennende Kluft zwischen Verstand und Anschauung zu überwinden. Und dieser heißt bei ihm intellectus archetypus oder „göttlicher Verstand“, der „nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben, oder hervorgebracht würden“13. Dieser intuitus originarius bezeichnet „die Anschauung, die uns die Gegenstände in ihrer Existenz geben kann“, im Gegensatz zu unserem endlichen intuitus derivativus, der seinen Inhalt von der äußeren Realität bezieht und darum über keine Spontaneität verfügt: „Diese Anschauung lässt sich auch als ,schöpferische Anschauung‘ bezeichnen, da es sich bei ihr einerseits um keine passiv-aufnehmende Anschauung handelt, als vielmehr um eine Anschauung, durch welche in demselben Anschauungsvorgang die Existenz gegebener Gegenstände bestimmt wird.“14 Die intellektuelle Anschauung ist daher kein Vermögen der Erkenntnis, sondern eines der Schöpfung, „eine Fähigkeit zur Hervorbringung“. „Ein solcher Verstand würde nicht in einer Welt der Erscheinungen operieren, sondern unmittelbar in der Welt der Dinge an sich. Seine Macht, das Allgemeine (Begriffe und Ideen) zu vermitteln, wäre nicht zu trennen von seiner Macht, Anschauungen von speziellen Dingen zu bilden: Begriff und Sache, Denken und Realität wären eins.“15 Wir müssen Hegel hier sehr genau lesen, denn er scheint den Fortgang der Entwicklung von Kant zu Fichte und Schelling entschieden zu begrüßen: Seiner Auffassung nach stellt Kant die endliche, empirische Erkenntnis als einzig wirkliche Erkenntnis dar, und folglich müsse er die höhere Erkenntnis als eine rein subjektive behandeln – kurz gesagt, schaffe er selbst das Hindernis, von dem er dann feststellt, dass es unmöglich zu überwinden sei. Wie aber geht nun Hegel im Zusammenhang des intellectus archetypus über Kant hinaus? Er tut dies nicht, indem er einfach behauptet, die Einheit des intellectus archetypus sei wirklich, die Wirklichkeit der Vernunft in ihrer sich selbst vermittelnden Produktivität, welche auf kein Äußeres angewiesen sei, sondern indem er die bloße Idee eines intellectus archetypus als illusorische Projektion abtut, die alles auf einmal haben will, so ähnlich wie die heutige Idee einer posthumanen Singularität in den Hirnwissenschaften. (Es mag vielleicht so scheinen, als hätten wir es bei der Singularität mit einer unerwarteten Verwirklichung oder der neuesten Form von Hegels Weltgeist zu tun, einem Geistwesen, das positive Existenz erlangt. Dabei lassen die überzeugten Verfechter der Singularität freilich völlig unberücksichtigt, dass der Übergang vom Humanen zum Posthumanen einen Preis hat. Er kostet nämlich das Selbstbewusstsein, das in der Endlichkeit und im Scheitern gründet.)