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Die Parallaxe der Ontologie
ОглавлениеNicht nur unsere Realitätserfahrung, sondern auch die Realität selbst wird von einer parallaktischen Lücke durchkreuzt: dem gleichzeitigen Bestehen zweier Dimensionen, der realistischen und der transzendentalen, die sich nicht in demselben global-ontologischen Gefüge zusammenbringen lassen.
„Die Weste“ („Kamizelka“), eine von Bolesław Prus 1882 verfasste Kurzgeschichte, spielt zu Lebzeiten des Autors in einem der alten Mietshäuser Warschaus. Das Geschehen spielt sich in dem begrenzten Raum der Wohnung der Protagonisten ab, und es ist, als säße der Erzähler in einem Kinosaal und berichtete über all das, was er auf einer Leinwand sieht, bei der es sich genauso gut um ein Fenster in einer Hauswand handeln könnte – kurz gesagt: Es ist Hitchcocks „Fenster zum Hof “, nur mit einem anderen Verlauf. Das Paar in der Wohnung, das der Erzähler beobachtet, ist jung und mittellos. Beide führen ein stilles, arbeitsames Leben, doch der Ehemann ist an Tuberkulose erkrankt und stirbt langsam an der Krankheit. Die titelgebende Weste hat der Erzähler im Nachhinein für einen halben Rubel bei einem jüdischen Händler gekauft (an den die Frau sie nach dem Tod ihres Mannes verkauft hat). Sie ist alt und verblichen, voller Flecken und hat auch keine Knöpfe mehr. Der kranke Mann hat sie getragen, und da er immer weiter abmagerte, ließ er eines der Westenbänder kürzen, damit seine Frau sich keine Sorgen macht, und die Frau ließ das andere Band kürzen, um ihrem Mann die Hoffnung zu erhalten. Demnach täuschen beide sich in guter Absicht gegenseitig.1 Man kann vermuten, dass das Paar eine so tiefe Liebe verbindet, dass sie sich die jeweilige Täuschung nicht ausdrücklich eingestehen müssen: Im Stillen wissen sie es, und es gehört für sie dazu, dass sie nicht darüber sprechen. Dieses stille Wissen ließe sich als eine Gestalt des „absoluten Wissens“ auffassen, Hegels Version des Absoluten, mit dem der Mensch in Berührung kommt.