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Die Realität und ihr transzendentales Supplement
ОглавлениеIn der Philosophiegeschichte nimmt diese Lücke viele Formen an, und insofern das hegelsche Diktum „Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ gilt, müssen wir mit derjenigen Lücke anfangen, die unseren geschichtlichen Augenblick bestimmt. Ihre heute vorherrschende Form ist zweifellos die Lücke oder die Parallaxe zwischen der Realität im naiven positiven Sinne „der Gesamtheit dessen, was es gibt“, und dem transzendentalen Horizont, in dem uns die Realität erscheint. Die Philosophie scheint von ihren ersten Anfängen an zwischen zwei Denkansätzen hin- und herzupendeln: dem transzendentalen und dem ontologischen oder ontischen. Ersterer zielt darauf ab, die allgemeine Struktur der Realität in ihrer Erscheinung für uns zu erfassen: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit wir etwas als wirklich existent wahrnehmen? „Transzendental“ ist der technische Ausdruck, mit dem Philosophen einen solchen Rahmen bezeichnen, der die Wirklichkeit in ihren Koordinaten bestimmt. Über den Transzendentalansatz machen wir uns beispielsweise klar, dass für einen wissenschaftlichen Naturalisten nur raumzeitliche, von Naturgesetzen gesteuerte materielle Phänomene existieren, während für einen vormodernen Traditionalisten auch geistige Dinge und Sinnphänomene Teil der Realität sind und nicht einfach nur unsere Projektionen. Beim ontischen Ansatz wiederum geht es um die Realität selbst, um Fragen ihrer Entstehung und Entwicklung: Wie ist das Universum zur Existenz gelangt? Hat es einen Anfang und ein Ende? Welches ist unser Platz darin? Im 20. Jahrhundert tat sich die Kluft zwischen diesen beiden Denkweisen besonders weit auf: Der Transzendentalansatz erreichte mit Heidegger seinen Höhepunkt, während es scheint, als hätten sich heute die Naturwissenschaften des ontologischen Ansatzes bemächtigt. Allgemein wird die Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen unseres Universums von der Quantenkosmologie, der Hirnforschung und der Entwicklungsbiologie erwartet. Gleich zu Beginn seines Bestsellers Der große Entwurf erklärt Stephen Hawking die Philosophie triumphierend für tot.6 Metaphysische Fragen etwa nach dem Ursprung des Universums, die einmal Gegenstand philosophischer Spekulationen waren, könnten nun von der experimentellen Wissenschaft beantwortet und dementsprechend empirisch geprüft werden.
Bei genauerer Betrachtung wird freilich schnell klar: So weit sind wir denn doch noch nicht – fast, aber eben nicht ganz. Außerdem ließe sich Hawkings Behauptung leicht entkräften, indem man zeigt, inwiefern er die Philosophie nach wie vor selbst in Anspruch nimmt (ganz abgesehen davon, dass es sich bei seinem Buch ganz bestimmt nicht um Wissenschaft handelt; es stellt vielmehr eine sehr problematische populärwissenschaftliche Generalisierung dar). Hawking stützt sich auf eine Reihe methodologischer und ontologischer Annahmen, die er als selbstverständlich voraussetzt. Die Wissenschaft bleibt im hermeneutischen Zirkel gefangen, das heißt, der Raum dessen, was sie entdeckt, unterliegt auch weiter der Determination durch ihren Ansatz.
Wenn aber die transzendentale Dimension den irreduziblen Rahmen oder Horizont bildet, in und durch den wir wahrnehmen (und der in einem strikt kantischen Sinn, der nichts mit dem ontischen Werden zu tun hat, die Realität begründet), warum sollte sie dann auf ein Supplement der Realität reduziert werden? Dies liegt einmal mehr im dialektischen Zusammenfallen der Gegensätze begründet: Der alles umfassende Rahmen ist demnach gleichzeitig ein bloßes Supplement dessen, was er umrahmt. Wird die Wirklichkeit ihres transzendentalen Rahmens beraubt, so ist sie ein wirres Durcheinander des Realen; ihre Einheitlichkeit verdankt sie einem Supplement, das sie als Ganzes konstituiert. Wir haben es hier wiederum mit einem Beispiel des Paranoia-Motivs des „falschen Knopfs“ zu tun, wie man es aus Science-Fiction-Filmen kennt – einem kleinen, sogar störenden Zusatzelement in einer Szene der Realität, dessen zufällige Betätigung den Zerfall der Realität einleiten würde. Was wir (fälschlicherweise) für einen winzigen Teil der Realität gehalten haben, ist das, was ihr Zusammenhalt verleiht.
Die heute vorherrschende Auffassung entspricht in etwa dem, was Sellars und McDowell inhaltlich vertreten, und findet ihren treffendsten Ausdruck im Titel von McDowells Buch Geist und Welt. Nach dieser als Realismus ausgegebenen Sicht – die man als einen dynamisierten Kantianismus bezeichnen möchte – gibt es da draußen ein unerforschliches Reales; doch auch wenn unser Geist sich nicht bloß in seiner eigenen Sphäre bewegt, ist unser Zugang zu diesem Realen immer schon durch die diskursiven (symbolischen) Praktiken unserer Lebenswelt vermittelt. Die Frage, die uns hier beschäftigt, lautet daher: Wie kann man über die Paargestalt von Realität und ihrem transzendentalen Horizont hinausgelangen (beziehungsweise darunter)? Gibt es eine Nullebene, auf der sich beide Dimensionen überschneiden? Die Suche nach dieser Ebene ist das große, verbindende Thema des Deutschen Idealismus: Fichte fand sie in der Selbstsetzung des absoluten Ich (des transzendentalen Selbst), Schelling dagegen in der intellektuellen Anschauung, bei der Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, Intellekt und Anschauung unmittelbar zusammenfallen. Im kritischen Anschluss an diese fehlgeschlagenen Bemühungen gilt es, davon auszugehen, dass die Nullebene von Realität und transzendentalem Horizont nicht in einer irgendwie gearteten Synthese beider zu suchen ist, sondern gerade in der Bewegung des Bruchs zwischen beiden. Weil der wissenschaftliche Realismus die heute vorherrschende Sichtweise darstellt, drängt sich die Frage auf, ob die transzendentale Dimension sich auf dieser seiner Grundlage erklären lässt. Wie kann die transzendentale Dimension im Realen entstehen bzw. ausbrechen? Die Antwort darauf ist kein unmittelbarer Rückgriff auf realistische Positionen, sondern wiederum eine Frage: Was muss aus unserem Begriff der Realität konstitutiv ausgeschlossen (urverdrängt) werden? Kurz gefragt: Was wäre, wenn die transzendentale Dimension die „Wiederkehr des Verdrängten“ unseres Realitätsbegriffs ist?
Was sich dem Transzendentalansatz entzieht, ist nicht die Realität selbst, sondern die primordiale Lücke, die von innen her in die Ordnung des Seins schneidet und sie damit nichtganz und inkonsistent macht – zu einer Differenz, die noch keine Differenz zwischen zwei positiven Gliedern, sondern eine Differenz „als solche“ ist: eine reine Differenz zwischen etwas und Leere, eine Differenz, die mit dieser Leere zusammenfällt und in diesem Sinne selbst eines der Glieder ist, zwischen denen sie differenziert (somit erhalten wir etwas und dessen Differenz). (Auf das gleiche Paradox zielte Heidegger mit seiner „ontologischen Differenz“ ab, bei der es sich nicht um eine Differenz zwischen Entitäten handelt, nicht einmal um die Differenz zwischen Seiendem und Sein als unterschiedlichen Entitäten: Das Sein ist die Differenz selbst.) Dieser Riss im ontologischen Gefüge öffnet den Raum für die sogenannte deontologische Dimension, für die Ordnung oder Ebene dessen, was sein soll, im Gegensatz zu dem, was schlechthin ist, für das Normative im Gegensatz zum Faktischen. Die alte Frage, wie sich das Sollen aus dem Sein (oder die Bedeutung aus der Realität) ableitet, lässt sich nur beantworten, wenn man davon ausgeht, dass mitten durch die Seinsordnung selbst eine ursprüngliche Spalte verläuft.
Was diese Spalte betrifft, so bleiben alle heutigen Versuche, analytisches Denken mit der kontinentaleuropäischen Tradition zu verbinden, in der von Kant vorgenommenen Trennung zwischen der rohen positiven Realität und dem normativen Bereich von Bedeutung, Argumentation und Geltung gefangen; jeder Versuch, diese Dualität zu überwinden, gilt als unzulässige Überschreitung der Grenzen unserer Vernunft. (Es gibt einige Evolutionspositivisten – Dennett, Pinker usw. –, die diese Trennung zu überwinden versuchen, indem sie unsere normativen Fähigkeiten als Resultat der natürlichen Evolution darstellen, doch es gibt keine eigentlichen Idealisten, die sich auf das ziemlich riskante Unternehmen einlassen würden, die Wirklichkeitsordnung selbst aus der Selbstentwicklung der Vernunft heraus zu erklären.) Dieses Paradigma geht auf Jürgen Habermas zurück, für den die Regeln kommunikativen Handelns als pragmatisches Apriori fungieren, das sich nicht auf den positiven Inhalt (die natürliche oder gesellschaftliche Wirklichkeit) reduzieren lässt, weil sie bei jeder Annäherung an die Wirklichkeit immer schon vorausgesetzt werden. Innerhalb dieses Paradigmas vertreten Robert Pippin und Robert Brandom zudem die Auffassung, dass der Raum der normativen Vernunft (Argumentation, Geltungsbegründung) keiner positivistisch-wissenschaftlichen Erklärung zugänglich sei. Selbst Lacan operiert (im Großteil seiner Lehre zumindest) mit einer starren Entgegensetzung des positiven Realen natürlicher Objekte, bei dem „nichts fehlt“, mit der in Mangel und Negativität gründenden symbolischen Ordnung; dazu insistiert er im herkömmlichsten Sinne auf der Unhintergehbarkeit des transzendentalen Zirkels, der uns entsprechend gefangen hält: Was auch immer wir als sein Außen wahrnehmen, ist bereits durch das Symbolische in seiner Totalität überdeterminiert. (So ist für westliche Marxisten das, was wir über die nicht menschliche Außenwelt wissen, bereits durch die gesellschaftliche Praxis in ihrer Totalität überdeterminiert oder, um es mit Lukács zu sagen: Die Natur ist von jeher eine gesellschaftliche Kategorie.)
Selbstverständlich räumen all diese Autoren ein, dass sich der Mensch auf einem kleinen Planeten in unserem Sonnensystem herausgebildet und entwickelt hat, dass wir Teil eines umfassenden Naturprozesses sind. Wie sie jedoch außerdem herausstellen, bleiben wir mit unseren Bemühungen, uns der Realität anzunähern, im Zirkel sozio-symbolischer Praxis gefangen. Demnach sind diese Autoren einer Version dessen verhaftet, was Foucault als empirisch-transzendentale Dublette bezeichnete: Empirisch gesehen sind wir Teil der Natur, der Naturrealität; in transzendentaler Hinsicht aber bildet die symbolische Praxis unseren letzten Horizont – und das heißt, dass Kants unerreichbare „Natur an sich“ immer in dieser oder jener Gestalt im Hintergrund lauert. Doch ist damit das letzte Wort in dieser Sache gesprochen? Lässt sich hier vielleicht der Übergang von Kant zu Hegel vollziehen? Brandom ist unter den Genannten sicher derjenige, der sich am weitesten in diese Richtung bewegt. In seiner Fassung des „semantischen Idealismus“ sind das Subjektive und das Objektive identisch, sprich begriffsidentisch, das heißt, die Identität besteht zwischen unserer Vernunft und der Begriffsstruktur objektiver Realität – aber damit eben unter einer einschränkenden Bedingung: Es handelt sich nur um eine semantische Identität, keine ontologische.
Wenn man vom „Idealismus“ spricht, spricht man von einer Konzeption, einer Auffassung davon, wie das Subjektive mit dem Objektiven in Beziehung steht. Nach meinem Verständnis vertritt Hegel mit dem, was ich als seinen „objektiven Idealismus“ bezeichne, die Ansicht, dass die Begriffe und Kategorien, die wir verwenden, um die objektive Welt zu verstehen, und die Begriffe und Kategorien, die wir verwenden, um die diskursiven Praktiken zu verstehen, kraft derer wir Subjekte sind, wechselseitig sinnabhängig sind. Das heißt, man kann objektive Kategorien wie etwa Gegenstand, Tatsache und Naturgesetz nicht erfassen oder verstehen, wenn man nicht auch versteht, was es heißt, einen Ausdruck als Einzelterminus zu verwenden (das heißt, sich auf einen Gegenstand beziehen oder einen Gegenstand herausgreifen zu wollen), einen Satz geltend zu machen (das heißt, eine Tatsache angeben zu wollen) und kontrafaktisch Schlussfolgerungen anzustellen (hinsichtlich dessen, was der Fall sein muss). Das große Missverständnis des Idealismus (das für seine heutige philosophische Stellung als „die Liebe, die ihren Namen nicht auszusprechen wagt“, verantwortlich ist) besteht in der Verwechslung der Sinnabhängigkeit mit der Referenzabhängigkeit – der Verwechslung der Abhängigkeit in der Ordnung des Verstehens mit der Abhängigkeit in der Ordnung der Existenz. Denn aus dieser Ansicht folgt nicht, dass es keine Gegenstände, Tatsachen oder Gesetzlichkeiten gegeben hat, bevor es Menschen gab, die einzelne Ausdrücke, Sätze oder Modalwörter wie etwa „notwendig“ benutzten. Der objektive Idealismus ist eine theoretische Position über Bedeutungen. Er ist eine Art Holismus, der Begriffe von Objektbeziehungen zu Begriffen subjektiver Vorgänge oder Praktiken in Beziehung setzt – er ist die Fähigkeit, Wörter unterschiedlicher Art zu benutzen. In diesem Sinne stellt der semantische Pragmatismus, für den ich mich ausspreche, eine Art semantischen Realismus dar.7
Brandom weist vorsorglich darauf hin, dass sein semantischer Idealismus, das heißt seine Version der hegelschen Identität von Subjektivem und Objektivem, keineswegs impliziert, dass „es keine Gegenstände, Tatsachen oder Gesetzlichkeiten gegeben hat, bevor es Menschen gab, die einzelne Ausdrücke, Sätze oder Modalwörter wie etwa ,notwendig‘ benutzten. Der objektive Idealismus ist eine theoretische Position über Bedeutungen. Er ist eine Art Holismus, der Begriffe von Objektbeziehungen zu Begriffen subjektiver Vorgänge oder Praktiken in Beziehung setzt.“ Was Brandom davon abhält, den verhängnisvollen Schritt in den vollständigen ontologischen Idealismus zu gehen, ist natürlich die Furcht, er würde in diesem Fall zu dem einfachen idealistischen Ergebnis kommen, dass die Gegenstände in unserer Realität an sich selbst von unserer Betrachtung abhängen. Darum nimmt Brandom, wenn er sich genötigt sieht, seinen semantischen Idealismus mit einem ontologischen Fundament auszustatten, dazu nicht die Realität selbst in Anspruch, sondern greift auf ein Segment von ihr zurück, das die Grundlage unserer normativen Betrachtung liefert: die symbolisch strukturierten gesellschaftlichen Praktiken. „Der normative Pragmatismus bezüglich der Ontologie überführt die Fragen nach den fundamentalen Kategorien der Dinge in Fragen nach der Geltung und versteht diese Fragen dann von den sozialen Praktiken her.“8
Aus unserer Sicht bleibt Brandoms Position allzu kantianisch, weil sie die folgende Frage offen lässt: Wenn es „Gegenstände, Tatsachen oder Gesetzlichkeiten gegeben hat, bevor es Menschen gab, die einzelne Ausdrücke, Sätze oder Modalwörter wie etwa ,notwendig‘ benutzten“, das heißt, wenn sie unabhängig von unserem Denken (unserer gesellschaftlichen Praxis) existieren, lassen sie sich dann in dieser Beschaffenheit irgendwie fassen, oder sind es kantische „Dinge an sich“? Der ganze Schritt von Kant zu Hegel geht über die von Fichte und Schelling behauptete unmittelbare Identität von Realem und Ideellem, Objektivem und Subjektivem hinaus; es geht dabei vielmehr um die Frage, wie die Realität strukturiert sein muss, damit die symbolische Ordnung in ihr hervortreten kann. Demnach verbindet sich mit diesem Schritt das Postulat, dass die positive, dem Ausbruch des Symbolischen vorhergehende Realität nicht einfach nur das ist (eine positive Realität), dass es in ihr einen Bruch, eine proto-deontologische Spannung oder Spalte gibt: In ihrer grundlegendsten Form ist die Realität nicht das, was ist, sondern das, was zu sein verfehlt, was es ist, dessen Faktizität von einer Unmöglichkeit durchkreuzt wird. Die Dinge „werden, was sie sind“, weil sie nicht unmittelbar sein können, was sie sind. Nach üblicher materialistischer Sicht kennzeichnet die Realität, wie sie „an sich“ ist, in letzter Hinsicht vollkommene Indifferenz: Die „Natur an sich“ ist ein chaotisches Nichtganzes, in dem sämtliche Spannungen und Differenzen, all unsere Auseinandersetzungen, nicht verschwinden, sondern als indifferent fortbestehen – vom großen Ganzen her gesehen, sind sie ohne Belang. Aus hegelianischer Sicht jedoch ist das „an sich seiende“ Reale als das Nicht-Eine nicht einfach jenseits (oder vielmehr unterhalb) jeder Form der Einheit, sondern ein Nicht-Eines im aktiven Wortsinn von „nicht“ als Negation, die einen Bezug auf das Eine voraussetzt. Das Eine ist von Anfang an da – als Verhindertes, von einer Unmöglichkeit, das, was es ist, zu sein, Durchkreuztes, und somit gibt es selbst auf der elementarsten Ebene keine Indifferenz.
Die transzendentale Position knüpft sich in aller Regel an die Subjektivität, dennoch haben wir es heute auch mit transzendentalen Auffassungen zu tun, die sich als antisubjektivistisch darstellen – Claude Lévi-Strauss beispielsweise kennzeichnete den Strukturalismus als Transzendentalismus ohne Subjekt. (Obwohl Lévi-Strauss seinen Strukturalismus als subjektlosen Transzendentalismus charakterisierte, sollten wir uns auf das genaue Gegenteil ausrichten: die Vorstellung eines nicht transzendentalen Subjekts, einer Subjektivität, die der transzendentalen Dimension vorausgeht.) In einem einzigartigen Fall von Selbstbezüglichkeit bildet das Auftauchen der symbolischen Ordnung den ultimativen Fall eines Ereignisses, bei dem plötzlich etwas hervortritt und seine eigene Vergangenheit erschafft. Nach strukturalistischen Vorstellungen lässt sich die Entstehung des Symbolischen (der symbolischen Ordnung) nicht denken: Sobald sie da ist, ist diese Ordnung immer schon da gewesen; man kann nicht aus ihr heraustreten, und über ihre Entstehung kann man lediglich Mythen verbreiten (was Lacan gelegentlich getan hat). Es ist wie bei der Umkehrung in dem wunderbaren Titel von Alexei Yurchaks Buch über die letzte sowjetische Generation: Alles war ewig, bis es nicht mehr war – nichts davon (von der symbolischen Ordnung) war da, bis mit einem Mal alles davon immer schon da war. Die Schwierigkeit ist hier das Auftauchen eines selbstbezüglich-„geschlossenen“ Systems, das kein Außen hat: Es lässt sich nicht von außen erklären, weil sein Gründungsakt selbstbezüglich ist, das heißt, das System tritt vollständig hervor, sobald es beginnt, sich herbeizuführen und seine Voraussetzungen in einer geschlossenen Schleife zu setzen. Es ist daher nicht nur so, dass die symbolische Ordnung mit einem Mal vollständig da ist – nichts war da, und einen Moment später ist alles da –, sondern vielmehr so, dass nichts da ist, und dann mit einem Mal scheint die symbolische Ordnung immer schon dagewesen zu sein, als habe es nie eine Zeit gegeben, in der es sie nicht gab. Es ist eine besondere Ironie, dass mit Louis Althusser ausgerechnet der Theoretiker der Subjektivität als ideologischem Scheineffekt dem Transzendentalen verhaftet blieb. Denn wie er im Zusammenhang mit seiner Erörterung der überdeterminierten Struktur betont, ist die Struktur immer schon da und keiner entstehungsgeschichtlichen Erklärung zugänglich. (Noch mal, damit es keine Missverständnisse gibt: Es geht nicht darum, dem Transzendentalismus dadurch zu begegnen, dass die entwicklungsgeschichtliche Entstehung der synchronen Struktur entfaltet wird: Die [viel schwierigere] Aufgabe besteht darin, das „fehlende Bindeglied“ zwischen dem Davor und dem Danach anzugeben, das, was „urverdrängt“ werden musste, damit eine synchrone Struktur hervortreten kann. Eine synchrone Struktur taucht immer „aus dem Nichts“ auf, sie lässt sich nicht auf ihre genetischen Anlagen zurückführen; dieses „Nichts“ aber lässt sich näher bestimmen.)
Dies bringt uns zu dem klassischen Thema der Beziehung zwischen Ewigkeit und geschichtlichen Einschnitten. Der metaphysischen Dualität einer (natürlichen oder geschichtlichen) Wirklichkeit, die sich immerfort wandelt, und der höheren ewigen Ordnung der Dinge lässt sich naheliegenderweise zunächst mit der Behauptung begegnen, dass es keine ewige Ordnung gibt, dass alles in ständigem Wandel begriffen ist und sich darin unsere Ewigkeit erschöpft. Einen differenzierteren Ansatz bietet die derridasche Version des „immer schon“ (die jedoch nicht mit dem transzendentalen „immer schon“ verwechselt werden sollte): Es gibt den Fall – einen Spalt, den gewaltsamen Einschnitt der Differenz, der den ewigen Frieden stört, die sündige Tat, welche die Unschuld vernichtet, usw. –, dieser aber hat sich immer schon ereignet, der Spalt ist immer schon da, ihm geht nichts vorher, der vorhergehende Friede ist wie die entsprechende Unschuld nur eine rückwirkende Illusion … Einem weiteren (echt hegelianischen) Ansatz zufolge greift auch die „Immer-schon“-Umstellung des Einschnitts (oder Falls) noch zu kurz, da es Einschnitte gibt, die keine zeitlichen Einschnitte, sondern gewissermaßen Einschnitte in die Ewigkeit selbst sind: In einem bestimmten (geschichtlichen) Moment tritt etwas Neues in Erscheinung, das nicht nur die Gegenwart und die Zukunft, sondern die Vergangenheit selbst ändert; die Dinge werden, was sie von Ewigkeit her waren bzw. sind. Wie eben gesehen, kennzeichnet diese Zeitlichkeit den Strukturalismus – doch ist das alles? Charakterisiert sich die eigentliche Geschichtlichkeit (im Unterschied zur evolutionär gedachten Entwicklung) als eine Abfolge von Einschnitten, von denen jeder rückwirkend die Vergangenheit ändert und seine eigene Ewigkeit erschafft? Das ist nicht hinreichend, weil es einfach nur die transzendentale Logik zum Abschluss bringt – um wirklich weiterzukommen, um den entscheidenden Schritt zu machen, gilt es, die übliche Sicht umzukehren: Es geht nicht darum, was die Natur aus der Perspektive der Sprache ist oder ob sie sich in oder durch die Sprache adäquat erfassen lässt. Die Frage ist vielmehr, was die Sprache aus der Perspektive der Natur ist, wie sich ihre Entstehung auf die Natur auswirkt. Eine solche Umkehrung ist keineswegs logozentrisch, sie ist vielmehr die stärkste Aufhebung des Logozentrismus und der Teleologie, genauso wie Marx’ These über die Anatomie des Menschen als Schlüssel zur Anatomie des Affen jede Art von Entwicklungsteleologie untergräbt. Statt zu fragen, was die Substanz aus der Perspektive des Subjekts ist, wie das Subjekt die Substanz erfassen kann, gilt es vielmehr, von Hegel her die umgekehrte Frage zu stellen: Was ist das (sich erhebende) Subjekt aus der Perspektive der (präsubjektiven) Substanz? G. K. Chesterton hat eine genau solche hegelianische Umkehrung mit Blick auf den Menschen und das Tier vorgeschlagen. Statt zu fragen, was Tiere aus der Perspektive von Menschen und ihrer Erfahrung sind, sollte man fragen, was der Mensch aus der Perspektive der Tiere ist. In seinem weniger bekannten Werk Der unsterbliche Mensch stellt Chesterton ein wunderbares Gedankenexperiment dazu an, indem er sich vorstellt, als welches Ungeheuer der Mensch den nur natürlichen Tieren in seiner Umgebung zunächst erschienen sein muss:
Die schlichteste Wahrheit über den Menschen lautet, daß er ein äußerst fremdartiges Wesen sein muss, fast in dem Sinne eines Fremden auf Erden. In aller Nüchternheit: Er besitzt weit mehr von der unirdischen Erscheinung eines Geschöpfes, das fremde Gewohnheiten aus einem anderen Lande bringt, als von einem auf dieser Erde entstandenen Wesen. Er verfügt über einen unfairen Vorteil und über einen unfairen Nachteil, er kann in seiner eigenen Haut nicht schlafen, er kann seinen eigenen Instinkten nicht vertrauen; er ist gleichzeitig ein Schöpfer, der geheimnisvoll Hände und Finger regt, und eine Art Krüppel; er geht eingehüllt in künstliche Bandagen, genannt Kleider. Er stützt sich auf künstliche Krücken, genannt Möbel; sein Geist besitzt die gleichen zweifelhaften Freiheiten und die gleichen seltsamen Beschränkungen. Vereinsamt unter den Tieren erschüttert ihn der herrliche Wahnsinn, genannt Gelächter, als hätte er Einblick getan in irgendein Geheimnis der wahren, dem Universum selbst verborgenen Gestalt des Universums. Vereinsamt unter den Tieren empfindet er den Zwang, seine Gedanken abzukehren von den verrotteten Wirklichkeiten seiner eigenen körperlichen Existenz, sie gleichsam wie in Gegenwart irgendeiner höheren Möglichkeit, die das Geheimnis der Scham schafft, zu verhüllen. Ob wir diese Eigenschaft als für den Menschen natürlich preisen oder sie als Kunstprodukte in der Natur ablehnen, sie bleiben dennoch einzigartig.9
Chesterton spricht in dem Zusammenhang vom „Rückwärtsdenken“: Wir müssen uns in die Zeit zurückversetzen, bevor die verhängnisvollen Entscheidungen getroffen wurden und sich die Zufälle ereigneten, die den Zustand herbeigeführt haben, der uns jetzt normal erscheint. Es gehe darum, diesen offenen Moment der Entscheidung greifbar zu machen, indem man sich vorstellt, wie die Geschichte an jenem Punkt hätte anders verlaufen können. Bezogen auf das Christentum heißt das: Statt seine Zeit damit zu verschwenden, darüber nachzuforschen, wie es mit dem Judentum zusammenhängt, inwiefern es das Alte Testament missverstand, als es dieses in der Annahme, es verkünde die Ankunft Christi, vereinnahmte, und zu versuchen zu rekonstruieren, inwiefern die Juden vor dem Christentum da waren und durch die rückwirkende christliche Sicht unbeeinflusst blieben, sollte man vielmehr genau andersherum verfahren und es „verfremden“, es als ein Christentum-im-Werden betrachten und seine Aufmerksamkeit darauf richten, was für ein fremdartiges Scheusal und ungeheuerliches Monstrum Christus als solcher in den Augen des jüdisch-weltanschaulichen Establishments gewesen sein muss.
Das drastischste Beispiel liefern hier jene seltenen Gesellschaften, denen es bis heute gelungen ist, den Kontakt mit der „Zivilisation“ zu vermeiden. Im Mai 2018 berichteten die Medien über die Entdeckung eines „unkontaktierten Stammes“ im dichten Regenwald entlang der peruanisch-brasilianischen Grenze, der nie in irgendeiner Form mit der „Außenwelt“ in Berührung gekommen war und dessen Lebensweise sich wahrscheinlich seit mehr als 10 000 Jahren nicht verändert hatte. Es wurden Aufnahmen des Dorfes veröffentlicht, die aus einem Flugzeug heraus gemacht worden waren. Als die beteiligten Anthropologen das Gebiet erstmals überflogen, erblickten sie Frauen und Kinder im Freien, und es schien so, als sei niemand bemalt. Erst als das Flugzeug ein paar Stunden später zurückkehrte, sahen die Forscher Stammesmitglieder, die sich von Kopf bis Fuß rot angemalt hatten. „Leuchtend rote Haut, teilweise rasierte Schädel, gespannte Langbögen, direkt auf das über ihnen brummende Flugzeug gerichtet – die Botschaft ist eindeutig: Bleibt weg!“ Und sie haben recht: Für solche entlegenen Stämme bedeutet der Kontakt in der Regel eine Katastrophe. Auch wenn die Holzarbeiter sie nicht erschießen oder zum Verlassen ihres Landes zwingen, werden die Angehörigen eines unkontaktierten Stammes meist innerhalb von ein, zwei Jahren zur Hälfte von Krankheiten dahingerafft, gegen die diese isoliert lebenden Menschen keine Abwehrkräfte besitzen. Für sie ist unsere Zivilisation buchstäblich ein Schmelztiegel – sie schmelzen und verschwinden darin wie die antiken Fresken in Fellinis Roma, die so lange geschützt waren, wie sie in dem luftleeren Raum unter der Erde isoliert blieben. In dem Moment, da die (sehr sorgsam vorgehenden und respektvollen) Forscher in ihren Bereich eindrangen, verblassten die Fresken und begannen sich aufzulösen … Wir fragen uns oft, wie wir reagieren würden, wenn wir auf Außerirdische träfen, die in ihrer Entwicklung viel weiter fortgeschritten wären als wir – für den unkontaktierten Stamm sind wir selbst diese Außerirdischen. Das ist das Erschreckende an solchen Aufnahmen: Wir sehen entsetzte Ureinwohner, die einen unmenschlichen Anderen beobachten – und dieser Andere sind wir selbst … Und sobald wir uns fragen, wie wir auf höher entwickelte Wesen aus dem All reagieren würden, bewegen wir uns über die transzendentale Dimension hinaus.
Analog dazu ist das Reale in der Quantenphysik keine Wellenschwankung – während dagegen die Realität durch den Zusammenbruch der Wellenfunktion entsteht –, sondern es ist dieser Zusammenbruch selbst „in seinem Werden“, als Bewegung, bevor er sich zur konstituierten Realität stabilisiert. Genauso wie Chesterton uns herausforderte, uns vorzustellen, wie ein Mensch in den Augen eines Affen erscheint, sollten wir uns vorstellen, wie sich die Konstitution der Realität im Raum der Wellenschwankung vollzieht. Gleiches gilt auch für die Geschlechterdifferenz: Das Reale der Geschlechterdifferenz ist nicht die Differenz zwischen männlicher und weiblicher Identität, sondern diese Differenz „in ihrem Werden“, die Bewegung der (Selbst-)Differenzierung, die den differenzierten Begriffen vorausgeht.
Der Einschnitt, auf den wir hier abzielen (der Bruch im Realen selbst, durch den die Subjektivität „explodiert“), ist daher nichts, was sich evolutionsbiologisch von der Transformation des Affen zum Menschen her beschreiben lässt. Diese Transformation gestaltete sich rein empirisch, und darin ist sie etwas ultimativ Indifferentes und vollkommen Kontingentes – es gab keinen teleologischen Antrieb, auf eine höhere Entwicklungsebene überzugehen. Wie Stephen Jay Gould immer wieder betonte, vollzog sich dieser Übergang aller Wahrscheinlichkeit nach durch einen Prozess, den er als „Exaptation“ bezeichnete. Bei einem solchen Vorgang löst ein Organ oder ein Vermögen, das ursprünglich einem bestimmten evolutionären Zweck diente, dann aber seine Funktion einbüßte und gar zu einem Hemmnis geworden ist – ein nutzloser, im Körper verbleibender Rest wie der Blinddarm –, versehentlich das Erscheinen einer neuen (symbolischen) Ordnung aus, die nicht als Element, sondern als Struktur hervortritt. Auf aleatorische Weise taucht aus dem Chaos (beziehungsweise dem, was rückwirkend als Chaos erscheint) eine neue Ordnung auf, eine „neue Harmonie“, und obwohl sich (rückwirkend) eine lange Anbahnungsphase feststellen lässt, wird der rasche Umschlag vom Chaos in die neue Ordnung durch ein einzelnes und kontingentes letztes Element bewirkt. (Gould vermutet sogar, dass die menschliche Sprache aus dem Funktionsausfall einiger Rachenmuskeln bei Menschenaffen hervorging.) Diese neue Ordnung kann nicht unter dem Aspekt der „Anpassung“ erklärt werden – es fehlt dabei ein eindeutiges ad quem (Anpassung woran?). Eine solche naturalistische Beschreibung kann über den Ausbruch der Subjektivität im Realen keinen Aufschluss geben: Sie bleibt auf der Ebene der (transzendental konstituierten) positiven Realität, während der Schnitt (der Ausbruch), um den es geht, den arche-transzendentalen Prozess der Erhebung ebenjener transzendentalen Dimension kennzeichnet, die für unsere Realität konstitutiv ist.
Das eigentliche Ansich ist demnach nicht die Beschaffenheit der Dinge vor dem symbolischen Einschnitt, sondern der Einschnitt selbst, wie er sich aus der Perspektive des Vorher darstellt – mit Kierkegaard gesprochen, der Einschnitt in seinem Werden, nicht aus der Perspektive, nachdem er sich als die neue Ordnung begründet hat. Versuchen wir zu klären, worin diese Position sich von Meillassoux’ Kritik des Korrelationismus unterscheidet. Meillassoux bewegt sich bei seiner Zurückweisung des transzendentalen Korrelationismus (der Behauptung, es müsse, um die Realität denken zu können, bereits ein Subjekt geben, dem diese Realität erscheint) noch zu sehr in den Grenzen der kantisch-transzendentalen Entgegensetzung der Realität, wie sie uns erscheint, und des von uns unabhängigen transzendenten Jenseits der Realität an sich. In der Manier Lenins (des Lenin von Materialismus und Empiriokritizismus) versichert er dann, dass wir die Realität, wie sie an sich ist, erkennen und dass wir Zugang zu ihr erlangen können. Genau in dem Bereich des transzendentalen Dilemmas aber geht etwas verloren, das den eigentlichen Kern der freudschen Entdeckung berührt (beziehungsweise deren Ausformulierung durch Lacan): die inhärente Verdrehung/Krümmung, die für das Subjekt konstitutiv ist. Was Lacan nämlich geltend macht, ist gerade die irreduzible (konstitutive) Disharmonie, die Nicht-Korrelation zwischen Subjekt und Realität: Damit das Subjekt entstehen kann, muss das unmögliche „Objekt, das ein Subjekt ist“, aus der Realität ausgeschlossen werden, weil genau diese Ausschließung den Raum für das Subjekt aufschließt. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, das Reale außerhalb der transzendentalen Korrelation in seiner Unabhängigkeit vom Subjekt zu denken; die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, es innerhalb des Subjekts zu denken, sich den harten Kern des Realen im Innersten des Subjekts, in dessen extimem Zentrum vorzustellen. Die eigentliche Schwierigkeit des Korrelationismus ist nicht die Frage, ob wir zum Ansich gelangen können, wie es außerhalb jeder Korrelation mit dem Subjekt ist (oder zum Alten – zu den „Fossilien“ als den Restbeständen der Natur in ihrer vormenschlichen Beschaffenheit –, wie es außerhalb seiner Wahrnehmung vom Blickwinkel des Neuen aus ist), die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, sich das Neue selbst „im Werden“ vorzustellen. Das Fossil ist nicht das Alte, wie es an sich war bzw. ist. Das Fossil ist vielmehr das Subjekt selbst in seinem unmöglichen Objektstatus – das Fossil bin ich selbst, wie die Katze mich sieht, wenn sie mich verängstigt anschaut. Was sich der Korrelation in Wahrheit entzieht, ist nicht das Ansich des Objekts, sondern das Subjekt als Objekt.
Der üblichen Auffassung nach verläuft die Spaltung im Objekt (zwischen dem, wie es für uns ist, und dem, wie es an sich ist), während das Denken beziehungsweise das Subjekt als homogen aufgefasst werden. Lacan dagegen führt auch in das Subjekt eine Spaltung ein, die zwischen seinem Denken und (nicht seinem eigentlichen Lebenssein, sondern) seinem Nicht-Gedachten, seinem nicht Nicht-Gedachten, zwischen dem Diskurs und dem Realen (nicht der Realität) verläuft. Es geht also nicht nur darum, das unerreichbare Ansich zu überwinden, indem man sich auf den Standpunkt stellt, dass „hinter dem Vorhang der Erscheinungen nichts ist, als das, was das Subjekt dort selbst hingetan hat“, als vielmehr darum, das Ansich auf die Spaltung im Subjekt selbst zu beziehen. Meillassoux kommt ironisch auf eine genial einfache christliche Antwort auf die darwinistische Herausforderung zu sprechen. Ein Zeitgenosse Darwins habe einen Vorschlag zum Ausgleich zwischen Bibel und Evolutionstheorie gemacht, wonach das, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht, buchstäblich wahr ist und die Welt tatsächlich circa 4 000 Jahre vor Christus erschaffen worden sei. Die Fossilien erklärten sich damit, dass sie unmittelbar von Gott als Fossilien erschaffen wurden, um dem Menschen eine falsche Vorstellung zu geben und ihn denken zu lassen, er lebe in einem älteren Universum – kurzum: Als Gott die Welt erschuf, legte er darin auch Spuren ihrer imaginären Vergangenheit. Meillassoux ist nun der Ansicht, dass der nachkantische Transzendentalismus auf die Herausforderung durch die objektiven Naturwissenschaften ähnlich reagiert. Wie es der Überzeugung der Bibelgläubigen entsprach, dass Gott unmittelbar die Fossilien schuf, um den Menschen in Versuchung zu führen, die Schöpfung zu leugnen, und seinen Glauben so auf die Probe zu stellen, so würden auch die nachkantischen Vertreter des Transzendentalismus die spontan-„naive“ Alltagsvorstellung von der unabhängig von uns existierenden objektiven Realität als eine Art Falle auffassen, um die Menschen auf die Probe zu stellen und sie dazu herauszufordern, diese „Evidenz“ zu durchschauen und zu erfassen, dass die Realität durch das transzendentale Subjekt konstituiert wird.10 Auch wenn die christliche Lösung wissenschaftlich gesehen Unsinn ist, gilt es doch darauf zu beharren, dass sie ein Körnchen Wahrheit enthält: Was Lacan als objet a bezeichnet – das unmöglich-reale objektale Gegenstück des Subjekts –, ist ebenso ein „imaginiertes“ (phantasmatisches, virtuelles) Objekt, das nie positiv existiert hat – es tritt durch seinen Verlust zutage, es wird unmittelbar als Fossil geschaffen.
Auf andere Weise bleibt auch die objektorientierte Ontologie dem Transzendentalen verhaftet. Zwar präsentiert sie sich als eine „objektive“ Sicht der Realität, die dem Subjekt keine Sonderstellung einräumt, sondern es wie ein Objekt unter anderen behandelt. Dennoch ist sie maßgeblich mit einer bestimmten Vorstellung von „Entbergung“ verbunden (um einen Ausdruck Heideggers zu verwenden), zu der es nur im Horizont menschlichen Verstehens kommen kann. Was ich an der objektorientierten Ontologie auszusetzen habe, ist demnach nicht, dass sie zu objektivistisch wäre, sondern dass sie auf eine anthropomorphische Rückkehr zur vormodern verzauberten Welt setzt. In Vibrant Matter formuliert Jane Bennett ihr „Nizäisches Glaubensbekenntnis für angehende Materialisten“ wie folgt:
Ich glaube an die eine Materie-Energie, die Schöpferin aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge … Ich glaube, dass es falsch ist, nicht menschlichen Körpern, Kräften und Formen die Vitalität abzusprechen, und dass eine behutsam vorangetriebene Anthropomorphisierung dazu beitragen kann, diese Vitalität zum Vorschein zu bringen, auch wenn sie sich einer vollständigen Erschließung widersetzt und mein Begriffsvermögen übersteigt. Ich glaube, dass die Begegnung mit lebendiger Materie meine menschlichen Beherrschungsfantasien zügeln, die allem Seienden gemeinsame Materialität in den Vordergrund stellen, zur Erkenntnis der weiteren Verbreitung von Handlungsvermögen beitragen und sich verändernd auf das Selbst und seine Interessen auswirken kann.11
Was in der vibrierenden Materie vibriert, ist die ihr immanente Lebenskraft beziehungsweise ihre Seele (im präzisen aristotelischen Sinne das der Materie immanente aktive Prinzip), nicht die Subjektivität. Der neue Materialismus lehnt demnach die radikale Trennung von Materie und Leben sowie Leben und Denken ab – „Selbste“ beziehungsweise multiple Akteure gibt es überall in unterschiedlicher Gestalt. Eine Frage aber bleibt dabei vollkommen offen: Sind die Vitaleigenschaften materieller Körper das Resultat unseres (des menschlichen Beobachters) „wohlmeinenden Anthropomorphismus“, sodass, wenn Materie über Vitalität verfügt, „alles in gewissem Sinne lebendig ist“,12 oder haben wir es praktisch mit der starken ontologischen Behauptung einer Art Spiritualismus ohne Götter zu tun, das heißt mit einer Möglichkeit, das Irdische in den Zustand der Heiligkeit zurückzuversetzen? Wenn eine „behutsam vorangetriebene Anthropomorphisierung dazu beitragen kann, die Vitalität [materieller Körper] zum Vorschein zu bringen“, so ist doch nicht klar, ob diese Vitalität von unserer animistischen Wahrnehmung herrührt oder von einer wirklichen, asubjektiven Lebenskraft, und diese Ambiguität ist durch und durch kantianisch.
Auch Derrida bleibt mit seiner Dekonstruktion in den Fallstricken des Transzendentalen gefangen. Seine berühmte Äußerung (aus der Grammatologie) „Il n’y a pas de hors-texte“ („Es gibt kein Text-Äußeres) wird häufig als „Es gibt nichts außerhalb des Textes“ und damit falsch wiedergegeben. Dadurch wirkt es so, als vertrete Derrida eine Art Sprachidealismus, für den es jenseits der Sprache nichts gibt. Wie ist der Satz also zu verstehen? Tatsächlich hat er etwas grundlegend Uneindeutiges an sich. Er pendelt zwischen einer transzendentalen und einer ontologischen Lesart. Il n’y a pas de hors-texte kann heißen, dass alle ontologischen Behauptungen immer schon in der arche-transzendentalen Dimension der Schrift gefangen sind: Sie handeln nie unmittelbar von der Realität da draußen, weil sie immer durch eine spezifische Textur von Spuren überdeterminiert sind, die den undurchdringlichen Hintergrund all unserer Behauptungen bilden. Der Satz lässt sich jedoch auch unmittelbar ontologisch verstehen. Danach wird die äußere Realität, das Leben, immer schon aus Spuren und Differenzen gebildet, das heißt, die Struktur der différence ist die Struktur all dessen, was es gibt. Dieser Lesart kam Derrida in seinem unveröffentlichten Seminar von 1975, La vie la mort, am nächsten, dessen erste sechs Sitzungen der Biologie gewidmet sind (vor allem François Jacob und seinen Forschungen zu DNA-Struktur und Vererbungsgesetzen). Begriffe wie „Différance“, „Arche-Schrift“, „Spur“ und „Text“ bilden demnach nicht nur den meta-transzendentalen Hintergrund unseres symbolischen Universums, sie bezeichnen auch die Grundstruktur allen Lebens (und vermeintlich all dessen, was ist): Der „allgemeine Text“ ist Derridas grundlegendste ontologische Behauptung. Zu beachten gilt es dabei, dass die Ambiguität, die uns hier beschäftigt, noch mit einer anderen Ambiguität zusammenhängt, welche die Stellung der „Metaphysik der Präsenz“ berührt. Dass es zur Metaphysik der Präsenz kein einfaches Außen gibt, ist ein Leitmotiv, das von Derrida ausgiebig variiert wird. Danach lässt sie sich nur graduell und punktuell dekonstruieren und in ihren Inkonsistenzen entlarven usw. – den Zugang zu einem reinen Außen zu postulieren hieße, in die ultimative Falle der Präsenz zu laufen. Doch insoweit die Metaphysik der Präsenz praktisch die europäische Philosophiegeschichte ist, stellt sich eine naive, gleichwohl aber relevante Frage: Was ist beispielsweise mit dem alten China? Waren auch die Chinesen in der Metaphysik der Präsenz befangen (was diese dann zu einem universellen Merkmal des Menschen erheben würde) oder stehen sie außerhalb der Metaphysik? Wenn ja, wie können wir dann mit ihnen in Kontakt kommen? (Derrida geht ein paar Mal auf die Stellung der chinesischen Sprache in Bezug auf den europäischen Logozentrismus ein, beschränkt sich dabei allerdings auf die allgemeine Aussage, das Chinesische sei nicht phonozentrisch, weil die Wörter in seiner Schrift keine phonetischen Zeichen wiedergeben, sondern unmittelbar Vorstellungsbegriffe, weshalb an erster Stelle die Schrift komme und das Sprechen an zweiter: Alle Chinesen teilen die gleiche Schrift, die in unterschiedlichen Teilen Chinas unterschiedlich ausgesprochen wird. Das heißt jedoch nicht, dass die allgemeine Struktur der Differenz [ihre Spur] dort nicht auch wirksam wäre – demnach besteht das Problem, das uns beschäftigt, weiter.13)
Die jüngste ontologische Wende des sogenannten kontinentalen Denkens kennzeichnet dieselbe Ambiguität. Nach der heute weitgehend geteilten Auffassung „können wir die Natur nicht den Naturwissenschaften überlassen und uns in der Philosophie der Untersuchung von Denk- oder Handlungsnormen widmen, ohne dabei irgendeine Konzeption des physikalischen Universums zu berücksichtigen. Sobald wir uns die Frage vornehmen, wie unser Verständnis von uns selbst als Erkennende und Handelnde besonderer Art sich mit dem Wissen integrieren lässt, das wir über die Natur haben, dürfte sich herausstellen, dass nicht alle Auffassungen der Natur mit unserer Selbstbeschreibung als autonome Akteure vereinbar sind.“14