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Varianten des Transzendentalen im westlichen Marxismus
ОглавлениеIn den letzten Jahrzehnten hat das Misstrauen gegenüber dem westlichen Marxismus unter den wenigen verbliebenen radikalen Linkstheoretikern zugenommen – von Perry Anderson und Wolfgang Fritz Haug bis zu Domenico Losurdo, der dem westlichen Marxismus vorhält, den Kontakt zu den revolutionären Bewegungen der Dritten Welt verloren zu haben (für Losurdo, der ein Buch zur Rehabilitierung Stalins geschrieben hat, sind auch die Reformen Deng Xiaopings ein Beispiel authentisch marxistischer Politik). Aus Sicht der westlichen Marxisten ist es freilich der kommunistische Radikalismus in der Dritten Welt, der den Kontakt zum eigentlichen emanzipatorischen Gehalt des Marxismus verloren hat. Interessanterweise ist der westliche Marxismus (den man in „Kulturmarxismus“ umgetauft hat) auch das Ziel des Gegenangriffs, den die Alt-Right-Bewegung derzeit gegen die politische Korrektheit führt. Für die „alternative Rechte“ nämlich stellt der Aufstieg des westlichen Marxismus das Resultat eines bewussten Strategiewechsels im Marxismus (oder Kommunismus) dar. Nachdem der Kommunismus den Wirtschaftskampf mit dem Kapitalismus verloren hatte (und die ersehnte Revolution in der entwickelten westlichen Welt ausgeblieben war), beschlossen die führenden Köpfe, das Terrain zu wechseln und auf dem Feld der Kulturkämpfe (Sexualität, Feminismus, Rassismus, Religion …) aktiv zu werden. Das Ganze sei der Versuch, die kulturellen Fundamente und Werte unserer freiheitlichen Grundordnung systematisch zu untergraben, und diese neue Strategie habe sich in den letzten Jahrzehnten als überraschend effektiv erwiesen: Heute seien unsere Gesellschaften unentrinnbar dem Schuldkult verfallen und unfähig, ihr positives Erbe zu verteidigen … An diesem Angriff von beiden Rändern zeigt sich die fortgesetzte Aktualität des westlichen Marxismus – er trifft offensichtlich einen sensiblen Nerv, und das auf beiden Seiten unseres politischen Spektrums. Die Ironie besteht darin, dass er denjenigen, die im heutigen China die sozialistische Alternative zum globalen Kapitalismus sehen, viel zu „eurozentrisch“ ist, während ihn die Alt-Right-Verteidiger der christlichen Tradition des Westens für die gefährlichste Waffe halten, wenn es darum geht, die westliche Tradition weiter zu untergraben. Was also macht den westlichen Marxismus zu einem solch einzigartigen Phänomen? Philosophisch gesehen besteht das Neue daran in seiner Rehabilitierung der transzendentalen Dimension – die vielleicht treffendste Bezeichnung für ihn wäre „transzendentaler Marxismus“, wobei der Totalität gesellschaftlicher Praktiken die Rolle des unerreichbaren Horizonts unserer Wahrnehmungserfahrung zukommt.
Der westliche Marxismus nahm seinen Anfang mit zwei bahnbrechenden Werken: Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein15 und Karl Korschs Marxismus und Philosophie16. Er begann als hegelianisch inspirierte Reaktion auf den fortschreitenden Neukantianismus, der (mehr oder weniger) die offizielle Philosophie der reformorientierten Zweiten Internationalen der Sozialdemokratie darstellte. Die Neukantianer bestanden auf der Kluft zwischen objektiver gesellschaftlicher Wirklichkeit und dem normativen Bereich selbstständiger ethischer Zwecke, die sich nicht aus der Wirklichkeit ableiten ließen (diese Möglichkeit lehnten sie als einen unzulässigen Determinismus ab, der das Sollen auf die positive Seinsordnung reduziert); aus diesem Grund bezeichneten sie ihre politische Grundhaltung als „ethischen Sozialismus“. Lukács (wie auch Korsch) wies den neukantianischen Dualismus zurück und forderte stattdessen die Einheit von Theorie und Praxis, positiver Seinsordnung und ethischer Pflicht; für Lukács ist die Revolutionstheorie an sich eine Form der Praxis, sie spiegelt die Wirklichkeit nicht einfach nur wider, sondern bestimmt sich als ein immanentes Moment des gesellschaftlichen Ganzen. Der historische Materialismus ist keine objektive Theorie des sozialen Lebens, die der Ergänzung durch marxistische, zur Mobilisierung der Massen bestimmter Lehren bedarf: Marxistische Geschichtserkenntnis ist in sich selbst praktisch, sie verwandelt ihren Gegenstand (die Arbeiterklasse) in ein revolutionäres Subjekt. Als solches ist der historische Materialismus nicht „unparteiisch“: Die Wahrheit über unsere Gesellschaft ist nur von einem engagierten „parteiischen“ Standpunkt aus zu erkennen.
Doch obwohl der revolutionäre Marxismus nach der Überwindung sämtlicher metaphysischer Dualitäten strebt, zieht sich die Kluft zwischen Realismus und Transzendentalismus durch seine Geschichte. Während der dialektische Materialismus sowjetischer Prägung eine neue Version der naiv-realistischen Ontologie vorschlägt (eine Sicht der Gesamtwirklichkeit mit der menschlichen Geschichte als Schwerpunktbereich und Gegenstand des historischen Materialismus), bringt der sogenannte westliche Marxismus die gemeinsame menschliche Praxis als letzten, transzendentalen Horizont unseres philosophischen Verständnisses ein: Wie es bei Lukács heißt, ist die Natur selbst eine gesellschaftliche Kategorie, das heißt, der Begriff, den wir von ihr haben, ist immer schon durch die Totalität unserer sozialen Bezüge (über-) determiniert. Natürlich behauptet Lukács nicht, die gesellschaftliche Subjektivität stünde am Ursprung der Natur und würde diese auf der ontischen Realitätsebene kausal hervorbringen. Er behauptet, dass unsere Vorstellung von der Natur und unser Zugang zu ihr immer durch das soziale Ganze vermittelt werden, auch wenn wir als Menschheit aus der Selbstentwicklung der Natur hervorgegangen sind. Im 18. Jahrhundert erschien die Natur als ein geordnetes, hierarchisches System und darin als unverkennbares Abbild der absolutistischen Monarchie (einen solchen Naturbegriff entfaltet Carl von Linné); im 19. Jahrhundert erschien die Natur als das weite Feld der evolutionären Entwicklung, auf dem genauso ein Kampf ums Überleben tobte wie im ungezügelten Marktkapitalismus (Darwin selbst übernahm die Idee des Überlebenskampfs von dem britischen Nationalökonomen Malthus); in unserem Informationszeitalter wiederum erscheint die Natur als riesiges Netzwerk des Informationsaustauschs und der Gen-Reproduktion, und so geht es weiter. Für Lukács wäre klar gewesen, dass man von einer solchen sozialen Vermittlung nicht absehen und sich der Realität nähern kann, wie sie „an sich wirklich“ ist, unabhängig von dieser Vermittlung. Die Lücke, welche die ontisch aufgefasste Realität von der gesellschaftlichen Praxis in ihrer transzendentalen Funktion trennt, ist unüberwindlich, das heißt, die Herausbildung sozialer Praxis lässt sich nicht unter ontischen Gesichtspunkten erklären.
Aus dieser Sicht wird jede Form der Beziehung von Subjekt und Objekt, die sich gegen die Auffassung ihrer vollständigen Vermittlung sperrt, als verdinglichte Ideologie abgewiesen: Arbeit (im Sinne der instrumentellen Ausnutzung objektiver Naturgesetze – beim Arbeiten verwende ich Werkzeuge, um auf natürliche Objekte so einzuwirken, dass sie sich für meine Zwecke eignen, die ihrer Existenz äußerlich sind) wird „verdinglicht“, weil sie gegenüber der Realität in der Position äußerlicher Einwirkung verbleibt und diese dadurch als unabhängigen Gegenstandsbereich behandelt; die Naturwissenschaften werden gleichfalls „verdinglicht“, weil sie sich selbst als Erkenntnis der Realität, wie sie an sich ist, außerhalb ihrer Vermittlung mit der Subjektivität, verstehen. In politischer Hinsicht hatte diese von Fichte und Hegel inspirierte Auffassung des Proletariats als Subjekt-Objekt der Geschichte nicht minder radikale Folgen: Bis in die späten 1920er-Jahre hinein betrachtete sich Lukács als den Philosophen des Leninismus, der Lenins realpolitische Revolutionspraktiken zur offiziellen Philosophie der revolutionären Vorhut-Partei ausgestaltete (einschließlich der Befürwortung des roten Terrors) – kein Wunder also, dass er nach Geschichte und Klassenbewusstsein als Nächstes ein Buch über Lenin schrieb. Die linkspolitischen Implikationen von Lukács’ Position zeigen sich ganz deutlich in seiner polemischen Reaktion auf jene, die nach der Niederwerfung der Béla-Kun-Regierung in Ungarn widrige Umstände ins Feld führten, die objektiv bestanden hätten. Wie Lukács erwiderte, kann man sich nicht unmittelbar auf objektive gesellschaftliche Umstände berufen, weil solche Umstände selbst wiederum durch das subjektive Versagen revolutionärer Kräfte bedingt seien. Kurz gesagt ist jeder objektive Stand der Dinge bereits durch die Subjektivität vermittelt, und das auch dann, wenn diese Vermittlung negativ bleibt, das heißt, selbst wenn sie bloß im Mangel an subjektivem Einsatz besteht.
Was also ist in den später 1920er-Jahren passiert? Hat Lukács sich einfach in die Wirklichkeit des Stalinismus ergeben, der die kommunistische Bewegung damals beherrschte? Sicher ist, dass er von den 1930er-Jahren an Lippenbekenntnisse zugunsten der offiziellen stalinistischen Lehrmeinung abgab (ohne dass er sich mit dem dialektischen Materialismus stalinistischer Prägung eingehend befasst hätte – dazu kannte er sich bei Hegel zu gut aus); dennoch gibt es ein rätselhaftes und oft übersehenes Zwischenstadium: Nachdem die Revolutionswelle der frühen 1920er-Jahre abgeebbt war, veröffentlichte Lukács 1928 die sogenannten Blum-Thesen.17 Darin mahnte er eine Strategie an, wie sie ironischerweise dann später mit den Volksfronten – der breiten Koalition aller demokratisch gesinnten antifaschistischen Kräfte, die sich in den 1930er-Jahren zur Bekämpfung der überall in Europa aufkommenden autoritären Strömungen zusammenschlossen – nahezu genauso verwirklicht werden sollte. Damals aber hat man seine Thesen verworfen: Lukács kam mit seiner Forderung schlichtweg zu früh, das heißt, bevor die Volksfront zur offiziellen Linie kommunistischer Politik avancierte. Als Reaktion auf die ablehnende Haltung ihm gegenüber zog er sich in die Literaturtheorie zurück.
Die Abkehr von der Position, die Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein vertreten hatte, war aber auch nicht einfach ein philosophischer Rückschritt. Denn seine Anpassung an die marxistische Lehrmeinung (er fasste die gesellschaftliche Praxis des kollektiven Geschichtssubjekts nicht länger als endgültigen Horizont des Denkens auf, sondern befürwortete eine allgemeine, den Menschen bloß mitumfassende Ontologie) hat sein bisher vernachlässigtes Gegenstück in der zustimmenden Einsicht in die tragische Dimension des revolutionären Subjekts, die er entwickelte.18 Lukács bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den Gedanken von Marx, dass die heroische Phase der Französischen Revolution den notwendigen begeisterten Durchbruch darstellte und von der unheroischen Phase der Marktbeziehungen gefolgt wurde. Die eigentliche soziale Funktion der Revolution bestand nach Lukács darin, die Bedingungen für die nüchterne Herrschaft der bürgerlichen Ökonomie zu schaffen, und wahrer Heroismus äußert sich ihm zufolge nicht im blinden Festhalten an der frühen Revolutionsbegeisterung, sondern darin, „die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen“, wie Hegel gerne Luther paraphrasierte; es gehe also darum, die Position der schönen Seele aufzugeben und die Gegenwart als den einzig möglichen Bereich wirklicher Freiheit vollständig anzunehmen. Dieser „Kompromiss“ mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit habe Hegels entscheidenden philosophischen Fortschritt möglich gemacht: die Überwindung der protofaschistischen Vorstellung einer „organischen“ Gemeinschaft in seiner Schrift System der Sittlichkeit und den Eintritt in die dialektische Analyse der Antagonismen der bürgerlichen Zivilgesellschaft. Es ist offensichtlich, dass Lukács’ Text sinnbildlich zu nehmen ist: Er entstand einige Monate, nachdem Trotzki seine These vom Stalinismus als Thermidor der Oktoberrevolution in Umlauf gesetzt hatte, und muss daher als Antwort auf Trotzki gelesen werden. Lukács akzeptiert Trotzkis Charakterisierung von Stalins Regime als „thermidorianisch“, wendet sie jedoch zugleich ins Positive. Statt den Verlust utopischer Energie zu beklagen, gelte es, die Folgen daraus als den einzig wirklichen Raum gesellschaftlichen Fortschritts heroisch-resignativ zu akzeptieren … Für Marx freilich ist die auf den Rausch folgende Ernüchterung am „Tag danach“ ein Zeichen der ursprünglichen Beschränktheit des Projekts der „bürgerlichen“ Revolution und lässt erkennen, wie falsch dessen Verheißung universeller Freiheit ist: Die „Wahrheit“ der allgemeinen Menschenrechte liegt in den Rechten auf Kommerz und Privateigentum. Liest man Lukács’ Befürwortung des stalinistischen Thermidors, so offenbart sie (wohl ungewollt) eine pessimistische und mit dem Marxismus schwer vereinbare Sicht. Danach ist auch die proletarische Revolution selbst durch eine Diskrepanz zwischen der illusionären Behauptung universeller Freiheit und dem anschließenden Erwachen in den neuen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen gekennzeichnet, was nichts anderes heißt, als dass das kommunistische Projekt zur Realisierung „wirklicher Freiheit“ im ersten Anlauf zwangsläufig scheitern muss und es sich nur durch seine Wiederholung retten lässt. Doch was ist, wenn es im Rückblick auf das 20. Jahrhundert von heute aus gerade bei Lukács’ pessimistischer Wende zu bleiben gilt?
Lukács selbst hat diese „pessimistische“ Schärfe später in seinem eigenen Beitrag zu dem Revival, das der humanistisch-marxistische Diskurs in den 1960er-Jahren erlebte, abgemildert und sein letztes Lebensjahrzehnt der Ausarbeitung einer neuen „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ gewidmet.19 Diese Spätontologie steht vollkommen konträr zu dem Aufschwung der marxistischen Praxisphilosophie in den 1960er-Jahren: Letztere bleibt innerhalb des transzendentalen Raums (ihr Zentralbegriff der Praxis bildet den unhintergehbaren Horizont, der sich in keiner allgemeinen Ontologie verankern lässt), während Lukács eine gesellschaftliche Ontologie als spezielles Gebiet einer allgemeinen Ontologie zu entfalten sucht. Der zentrale Begriff ist dabei der Begriff der menschlichen Arbeit als Grundform der Teleologie: In der menschlichen Arbeit überwindet die Natur sich selbst, ihren Determinismus, weil die Naturprozesse zu Momenten im Prozess der materiellen Umsetzung menschlicher Ziele und Zwecke werden. Gegen den aristotelischen oder hegelianischen Idealismus, der das Ganze der Natur einem geistigen Telos unterordnet, betrachtet Lukács als Materialist die gesellschaftliche Arbeit als vorrangige Domäne der Teleologie: einen Bereich, der ein kleiner Teil der Natur bleibt und spontan aus biologischen Prozessen entspringt. Die besondere Ironie dabei besteht darin, dass Lukács sich in seiner gesellschaftlichen Ontologie der Arbeit auf den jungen Marx bezieht, auf dessen sogenannte Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844 (zuerst veröffentlicht in den frühen 1930er-Jahren), die der heilige Text des humanistischen Marxismus waren. Während humanistische Marxisten die Manuskripte im transzendentalen Sinne lesen und ihr Hauptaugenmerk auf den Begriff der Entfremdung richten, verwendet Lukács sie, um die Abkehr von dem großen hegelianischen Leitmotiv von Geschichte und Klassenbewusstsein, der vollkommenen Vermittlung von Subjekt und Objekt im Proletariat als dem Subjekt-Objekt der Geschichte, zu rechtfertigen. Seiner späteren Selbstkritik zufolge bleibt bei der hegelianischen spekulativen Identität von Subjekt und Objekt vollkommen unberücksichtigt, dass zwischen Objektivierung (des Subjekts in der Arbeit) und Verdinglichung (unter den Bedingungen der Entfremdung) ein Unterschied besteht; für den jungen Lukács ist jede Objektivierung eine Verdinglichung, während er nun einräumt, dass es sich bei der Objektivierung subjektiver Wesenskräfte in Gegenständen, die Ausdruck subjektiver Kreativität sind, nicht zwangsläufig um Verdinglichung handelt – darum handelt es sich nur dann, wenn die Arbeit unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Entfremdung ausgeübt wird. Kurz gesagt: Für den jungen Lukács ist die Arbeit (als tätige Umsetzung von Zielen in der Wirklichkeit durch das umgestaltende Einwirken auf materielle Gegenstände) als solches entfremdet, und wir überwinden die Entfremdung nur durch die vollkommene Vermittlung von Subjekt und Objekt.
Auch wenn sich diese „Ontologie gesellschaftlicher Arbeit“ nicht auf eine Version des dialektischen Materialismus stalinistischer Prägung verkürzen lässt, so reiht sie sich doch ein in die Serie großer entwicklungsgeschichtlicher Entwürfe vom Kosmos als Hierarchie ontologischer Ebenen (Materie, Pflanzen, tierisches Leben und menschlicher Geist als höchste uns bekannte Ebene) und steht damit in allzu großer Nähe zu der Ontologie Nicolai Hartmanns (und Lukács bezieht sich auch positiv auf Hartmann). (Interessanterweise geht selbst Meillassoux in diese Falle und zahlt einen hohen Preis dafür, dass er die transzendentale Dimension außer Kraft setzt – er fällt zurück auf eine naiv-realistische Ontologie von Sphären oder Ebenen im hartmannschen Stil: materielle Realität, Leben, Denken.) Ein solcher naiver Realismus ist im Grunde vormodern; er signalisiert die Rückkehr zum Denken der Renaissance, das der Geburt der modernen Wissenschaft vorausliegt.
Andere westliche Marxisten versuchten aus dem transzendentalen Zirkel auszubrechen und den Rückfall auf eine realistische Ontologie dabei zu vermeiden. Klammert man Walter Benjamin einmal aus, der eine gesonderte Behandlung verdient, so sollten wir doch zumindest auf Ernst Bloch eingehen, der einen riesigen Entwurf eines unfertigen Universums entwickelte, das auf den utopischen Endpunkt absoluter Vollkommenheit zustrebt. In seinem Meisterwerk Das Prinzip Hoffnung entwirft er ein enzyklopädisches Bild der Ausrichtung von Mensch und Natur auf eine gesellschaftliche und technologisch verbesserte Zukunft.20 Für Bloch waren Marx’ Bemerkungen über die „Vermenschlichung der Natur“ (wiederum aus dessen frühen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten) von entscheidender Wichtigkeit: Ein richtiges, ein wahres Utopia muss das ganze Universum umschließen, auch die Natur, das heißt Utopien, die auf die Gesellschaftsorganisation beschränkt sind und die Natur außer Acht lassen, sind lediglich Abstraktionen. Im Unterschied zum späten Lukács schlägt Bloch eine vollständige, auf die Zukunft hin orientierte Kosmologie vor und schreibt die Teleologie in die Natur selbst ein (während wir den Nachdruck dagegen auf die Nichtorientierbarkeit legen). Auf diese Weise tritt er zwar aus dem transzendentalen Zirkel heraus, doch der Preis dafür ist hoch – er bedeutet ein Zurück zur vormodernen utopischen Kosmologie.
Das radikale Gegenstück zu Blochs progressiver Kosmologie lieferte Ewald Iljenkow mit seinem frühen Manuskript über „Die Kosmologie des Geistes“,21 die insofern eine Provokation darstellte, als sie auf das „rote Tuch“ für westliche Marxisten aufbaute: Friedrich Engels‘ posthum veröffentlichte Manuskriptsammlung Dialektik der Natur sowie die sowjetische Tradition des dialektischen Materialismus. Beides verknüpft Iljenkow mit der zeitgenössischen Kosmologie und dabei bringt er die dialektisch-materialistische Idee der schrittweisen Weiterentwicklung der Realität von elementaren Formen der Materie über andere Lebensformen zum (menschlichen) Denken zu ihrem nietzscheanischen Schluss. Wenn die Realität keinen (räumlichen und zeitlichen) Grenzen unterliegt, dann gibt es insgesamt, mit Blick auf ihre Totalität, keinen Fortschritt; alles, was sich ereignen könnte, hat sich immer schon ereignet: Obwohl es in seinen Teilen voller Dynamik steckt, ist das Universum als Ganzes eine spinozische, in sich beständige Substanz. Das heißt, dass – anders als bei Bloch – jede Entwicklung zirkulär verläuft und jede Aufwärtsbewegung mit einer Abwärtsbewegung, jeder Fortschritt mit einem Rückschritt einhergehen muss. Bewegung ist „die zyklische Bewegung von den niedersten Formen der Materie zu den höchsten (,dem denkenden Hirn‘) und zurück zu ihrem Zerfall in die niedersten Formen der Materie (biologische, chemische und physikalische)“. Iljenkow ergänzt diese Auffassung des Universums durch zwei weitere Hypothesen. Ersterer zufolge ist die Bewegung im Kosmos abwärts und aufwärts begrenzt; sie findet zwischen der niedersten Ebene (chaotische Materie) und der höchsten Ebene (Denken) statt, wobei nichts Höheres vorstellbar sei als das Denken. Nach der zweiten Hypothese stellt das Denken nicht einfach nur eine kontingente Lokalerscheinung in der Entwicklung der Materie dar, sondern bildet eine eigene Wirklichkeit mit eigener Wirksamkeit, einen notwendigen Teil (einen Höhepunkt) der Entwicklung der Gesamtrealität. Und hier nun kommt Iljenkows gewagteste kosmologische Spekulation: „Die zyklische Entwicklung des Universums geht durch eine Phase völliger Zerstörung der Materie – ein ,Feuer‘ von galaktischen Ausmaßen.“ Dieser Durchgang der Nullebene, durch den die kosmische Entwicklung von Neuem in Gang gesetzt wird, passiert nicht von allein. Dazu „benötigt es ein spezielles Eingreifen, um die Energie, die während der zyklischen Entwicklung der Materie ausgestrahlt wurde, in ein neues ,globales Feuer‘ zu lenken. Der Frage, was (oder wer) das Universum in Brand setzt, kommt entscheidende Bedeutung zu.“ Iljenkow zufolge „ist es die kosmologische Funktion des Denkens, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das durch den Hitzetod zusammenfallende Universum ,wieder in Gang kommt‘. Es ist die menschliche Intelligenz, die, zur höchsten Wirksamkeit gelangt, den Urknall anstoßen muss. Darin erweist sich das Denken in der Wirklichkeit als notwendiges Attribut der Materie.“
Zur Verdeutlichung dieses spekulativen Schlüsselmoments hier eine Passage aus Iljenkows Text:
Konkret kann man sich das so vorstellen: Auf irgendeinem Höhepunkt der Entwicklung führt der Mensch, in Erfüllung seiner kosmologischen Pflicht und durch Selbstopferung, eine bewusste kosmische Katastrophe herbei – indem er einen gegenläufigen Prozess, ein „Hitzesterben“ der kosmischen Materie auslöst. Das heißt, er stößt einen Prozess an, der vergehende Welten mittels einer kosmischen Wolke aus hell glühendem Gas und Dampf wiedererstehen lässt. Einfach gesagt, entpuppt sich das Denken als unerlässliches Bindeglied, dem allein es sich verdankt, dass die „Glutverjüngung“ der universalen Materie möglich wird; es erweist sich als jene unmittelbare „Wirkursache“, die zur sofortigen Aktivierung unendlicher Reserven von Bewegungskaskaden führt.
Als Nächstes folgt Iljenkows verrückteste ethisch-politische Spekulation: die Vorstellung, dass dem Kommunismus eine (nicht nur gesellschaftlich, sondern auch) kosmologisch notwendige Rolle zukommt – für Iljenkow kann solch ein radikales Selbstopfer nur von einer hoch entwickelten kommunistischen Gesellschaft erbracht werden:
Millionen Jahre werden vergehen, Tausende Generationen geboren und zu Grabe getragen werden, auf der Erde wird man ein wirklich menschliches System errichten, in dem die Voraussetzungen zum Tätigwerden gegeben sind – eine klassenlose Gesellschaft wird ihren Glanz über die Welt verbreiten, eine geistige und materielle Kultur, mit der und durch die der Mensch seiner großen Aufgabe nachkommen und das erforderliche Opfer bringen kann … Für uns, für die Menschen, die am Beginn der Blütezeit leben, wird der Kampf für diese Zukunft der einzig wahre Dienst an den höchsten Zielen des denkenden Geistes sein.
Die endgültige Rechtfertigung des Kommunismus besteht demnach darin, dass er, indem er eine nicht länger von egoistischen Trieben bestimmte solidarische Gesellschaft hervorbringt, über genügend ethische Stärke verfügen wird, um das höchste Selbstopfer zu bringen, das nicht nur die Selbstzerstörung des Menschen, sondern zugleich auch die Zerstörung des ganzen Kosmos umfasst: „Wenn die Menschheit unfähig ist, zum Kommunismus zu gelangen, wird auch die kollektive menschliche Intelligenz nicht auf die höchste Stufe ihrer Macht gelangen, da sie vom kapitalistischen System, das so weit weg ist von der Selbstaufopferung und anderen hehren Motiven, wie man nur sein kann, geschwächt und ausgehöhlt werden wird.“
Iljenkow war sich des spekulativen Charakters dieser Kosmologie sehr wohl bewusst (er selbst bezeichnete sie als seine „Erscheinung“ oder seinen „Traum“), und daher wundert es nicht, dass man sie später grob historistisch beziehungsweise sogar vor dem Hintergrund seines persönlichen Schicksals gedeutet hat: als Extrapolation des Zerfalls der Sowjetunion ins Kosmische oder gar als Weissagung seines Selbstmords im Jahre 1979. Unter theoretischen Gesichtspunkten wiederum drängt sich unmittelbar der Verdacht auf, dass Iljenkows Kosmologie „archaische, vormoderne Motive zum Ausdruck bringt, verpackt in die Sprache der klassischen Philosophie, der Wissenschaft und des dialektischen Materialismus. Das Mythische tritt vor allem im Motiv der heroischen Selbstopferung und des ,weltumspannenden Feuers‘ hervor.“ Boris Groys deutet Iljenkows Kosmologie in diesem Sinne als Rückkehr zum Paganismus und erkennt darin „eine Wiederbelebung der aztekischen Religion von Quetzalcoatl, der sich selbst in Brand setzte, um den entropischen Prozess umzukehren“. Obwohl dieser Einschätzung im Prinzip zuzustimmen ist, sollte man nicht vergessen, dass mit der Ankunft in der Moderne – das heißt nach Descartes’ und Kants Durchbruch – keine unmittelbare Rückkehr zur paganen Kosmologie mehr möglich ist. Jeder Versuch in diese Richtung muss als Symptom der Unfähigkeit gedeutet werden, sich der im innersten Kern moderner Subjektivität wirkenden radikalen Negativität zu stellen.22 Gleiches gilt schon mit Blick auf die erste systematische Entfaltung der Idee vollkommener Vernichtung in der langen philosophischen Abhandlung, die Papst Pius VI. in Buch V von de Sades Juliette jener zukommen lässt:
An Vergewaltigung, Folter, Mord und so weiter ist nichts falsch, denn sie entsprechen nur der Gewalt, die den Lauf des Universums bestimmt. Im Einklang mit der Natur handelt, wer sich an ihrer Vernichtungsorgie aktiv beteiligt. Das Problem ist, dass der Mensch nur begrenzt zum Verbrecher taugt; seine Untaten, seien sie noch so verkommen, lassen die Natur kalt. Für einen Freigeist ist das ein bedrückender Gedanke. Der Mensch ist mitsamt dem ganzen organischen Leben und sogar der anorganischen Materie in einem endlosen Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt, Werden und Vergehen gefangen, und darum „gibt es keinen Tod“, nur eine ständige Umwandlung und Wiederverwertung der Materie nach den Gesetzen „der drei Reiche“: dem der Tiere, dem der Pflanzen und dem der Mineralien. Die Vernichtung kann diesen Prozess beschleunigen, sie kann ihn aber unmöglich aufhalten. Das wahre Verbrechen wäre eines, das nicht mehr innerhalb der drei Reiche verübt wird, sondern das sie insgesamt auslöscht, dem ewigen Kreislauf aus Werden und Vergehen ein Ende setzt und der Natur dadurch ihr absolutes Vorrecht auf die kontingente Schöpfung zurückgibt – ihr uneingeschränktes Privileg, die Würfel neu zu werfen.23
Was stimmt daher – rein theoretisch betrachtet – nicht an diesem Traum vom „zweiten Tod“ als radikaler, reiner Negation, die dem Kreislauf des Lebens selbst ein Ende setzt? In einer großartigen Demonstration seines Genies liefert Lacan hierauf eine einfache Antwort: „Es ist einfach so, dass ich, da ich Psychoanalytiker bin, sehen kann, dass der zweite Tod vor dem ersten kommt und nicht danach, wie es de Sade träumt.“ (Das einzig Problematische an dieser Aussage ist die einschränkende Bedingung „da ich Psychoanalytiker bin“ – ein hegelianischer Philosoph kann dies ebenfalls sehr klar erkennen.) In welchem Sinn genau wäre es also zu verstehen, dass der zweite Tod – die radikale Auslöschung des gesamten Lebenszyklus aus Werden und Vergehen – dem ersten vorausgeht, der ein Moment dieses Kreislaufs bleibt? Aaron Schuster zeigt den Weg auf: „De Sade glaubt, dass es eine gefestigte zweite Natur gibt, die nach immanenten Gesetzen operiert. Gegen diesen ontologisch konsistenten Bereich bleibt ihm bloß der Traum von einem absoluten Verbrechen, das die drei Reiche beseitigen und zur reinen Unordnung der ersten Natur gelangen würde.“ Kurz gesagt, sieht de Sade nicht, dass es keinen großen Anderen, keine Natur als ontologisch konsistenten Bereich gibt – die Natur ist bereits in sich inkonsistent, aus dem Gleichgewicht gebracht, durch Antagonismen destabilisiert. Die völlige Negation, die sich de Sade vorstellt, kommt daher nie am Ende – als endliche Drohung oder Erwartung radikaler Vernichtung –, sie steht am Anfang, hat sich immer schon ereignet, sie bezeichnet die Nullebene, die Ausgangsbasis, aus der heraus die fragile bzw. inkonsistente Realität in Erscheinung tritt. Anders gesagt: Was der Vorstellung von der Natur als ein durch feststehende Gesetze regulierter Körper fehlt, ist schlicht und einfach das Subjekt selbst. Hegelianisch gesprochen, bleibt die Natur de Sades eine Substanz. De Sade fasst die Natur weiter als Substanz auf und nicht auch als Subjekt, wobei „Subjekt“ keine andere, von der Substanz unterschiedene Ebene bezeichnet, sondern die immanente Unvollständigkeit/Inkonsistenz/ antagonistische Verfasstheit der Substanz selbst. Und insofern die freudsche Bezeichnung für diese radikale Negativität „Todestrieb“ ist, stellt Schuster zu Recht heraus, dass de Sade bei seiner Feier des endgültigen, alles Leben radikal vernichtenden Verbrechens gerade den Todestrieb verfehlt:
Trotz aller Lüsternheit und bei all seinen Verheerungen basiert der sadistische Auslöschungswille auf einer fetischistischen Leugnung des Todestriebs. Der Sadist macht sich zum Diener der universellen Auslöschung, um die Sackgasse der Subjektivität, die „virtuelle Auslöschung“, die das Leben des Subjekts von innen her spaltet, zu vermeiden. Der sadistische Libertin verbannt diese Negativität aus sich selbst, um sich ihr sklavisch verschreiben zu können; die apokalyptische Vision eines absoluten Verbrechens dient demnach als Schutz und Abschirmung gegen eine schwerer zu bewältigende interne Spaltung. Die blühende Fantasie des Sadisten verdeckt die Tatsache, dass der Andere gebarrt, inkonsistent, lückenhaft ist, dass man ihm deshalb nicht dienen kann, weil er kein Gesetz präsentiert, das man befolgen kann, nicht einmal das wilde Gesetz von seiner sich beschleunigenden Selbstvernichtung. Es gibt keine Natur, an die man sich halten, mit der man wetteifern oder die man übertreffen kann, und es ist diese Leere oder dieser Mangel, das Nichtsein des Anderen, das ungleich gewaltsamer ist als selbst das zerstörerischste Phantasma des Todestriebs. Oder es ist, wie Lacan argumentiert, und de Sade hat recht, sofern man sein böses Denken einfach umkehrt: Die Subjektivität ist die Katastrophe, über die sie fantasiert, der Tod jenseits des Todes, der „zweite Tod“. Während der Sadist von einer gewaltsam herbeigeführten Katastrophe träumt, die reinen Tisch macht, will er nichts davon wissen, dass sich dieses beispiellose Unheil bereits ereignet hat. Jedes Subjekt ist das Ende der Welt oder vielmehr das unmögliche, explosive Ende, das zugleich auch ein „Neustart“ ist: die unaufhebbare Chance des Würfelwurfs.24
Schon Kant charakterisierte eine freie und selbstbestimmte Handlung als eine Tat, die sich nicht durch die natürliche Kausalität von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen erklären lässt: Eine freie Handlung hat ihren Grund in sich selbst, sie begründet von sich als Nullpunkt aus eine neue Kausalkette. Wenn der zweite Tod die Unterbrechung des Lebenszyklus aus Werden und Vergehen ist, braucht es dafür keine radikale Auslöschung der gesamten Naturordnung – eine eigenständige, freie Handlung hebt die natürliche Kausalität bereits auf, und das Subjekt als S/ ist bereits dieser Einschnitt in den Naturkreislauf, die Selbstsabotage natürlicher Zwecke. Die mystische Bezeichnung für dieses Weltenende ist „Nacht der Welt“, in philosophischen Begriffen ist es die radikale Negativität als Kern der Subjektivität. Außerdem, um Mallarmé zu zitieren, schafft ein Würfelwurf niemals den Zufall ab, das heißt, der Abgrund der Negativität wird immer den unaufhebbaren Hintergrund subjektiver Schöpferkraft bilden. Wir können hier vielleicht sogar eine ironische Fassung von Gandhis berühmter Devise „Sei selbst der Wandel, den du in der Welt sehen willst“, wagen: Das Subjekt ist selbst die Katastrophe, die es fürchtet und zu vermeiden sucht.
Wenn wir wieder auf Iljenkow zurückkommen, gilt dasselbe für seine Vorstellung von der radikalen Selbstzerstörung der Wirklichkeit: Obwohl sie zweifellos seiner Fantasie entsprungen ist, sollte sie dennoch nicht leichtgenommen werden, ist sie doch ein Symptom jenes verhängnisvollen Fehlers, der das ganze Projekt des westlichen Marxismus kennzeichnet. Weil er darauf beschränkt bleibt, der gesellschaftlichen Praxis die transzendentale Rolle als letzter Horizont unserer Erfahrung zuzuschreiben, fehlt dem westlichen Marxismus ein angemessener Begriff der radikalen Negativität als Riss im Realen, der die Erhebung der Subjektivität möglich macht; diese durch das Denken in transzendentalen Kategorien aufgekündigte Dimension kehrt dann als phantasmatische Vorstellung von der völligen Vernichtung der Welt im Realen wieder. Wie im Falle von de Sade liegt der Fehler auch bei Iljenkow im Ausgangspunkt selbst: in dem naiven Realismus, mit dem er die Realität als ein Ganzes voraussetzt, das durch die Notwendigkeit des Fortschritts und seines Gegenteils bestimmt wird. Innerhalb dieses vormodernen Raums eines vollständigen und sich selbst regulierenden Kosmos kann die radikale Negativität nur als absolute Selbstvernichtung erscheinen. Der Ausweg aus dieser Sackgasse besteht darin, den Ausgangspunkt aufzugeben und einzuräumen, dass es keine Realität als sich selbst regulierendes Ganzes gibt, dass die Realität in sich gerissen, unvollständig, nichtganz, von einem radikalen Antagonismus durchzogen ist.
Den Gegenpol zu Bloch und Iljenkow bildet Louis Althussers struktureller Marxismus, der im Grunde die Anwendung von Lévi-Strauss’ Transzendentalismus – ohne (kantisches) Subjekt – auf den Marxismus darstellt. Natürlich ist diese Auflistung von Positionen keineswegs vollständig, dennoch gilt es festzuhalten, dass es unter den großen westlichen Marxisten Adorno war, der mit seinem wachen Gespür für die Dialektik der Aufklärung den, in seinen Worten, „Pessismismus“ von Lukács übernommen und konsequent durchgedacht hat. Die Gräuel des 20. Jahrhunderts, so sein Schluss, haben ihre Wurzeln im Projekt der Aufklärung selbst. Das Interessante für uns ist, dass Adorno bereit war, die philosophischen Konsequenzen aus seiner Erkenntnis zu ziehen: Er behandelte mit seinem Begriff vom „Vorrang des Objektiven“ die Frage, wie man der transzendentalen Sichtweise entkommen kann, ohne auf einen naiven Realismus zurückzufallen. Doch obwohl zwischen Adornos „Vorrang des Objektiven“ und dem lacanschen Realen eine gewisse Ähnlichkeit besteht, macht diese Ähnlichkeit den trennenden Abstand zwischen ihnen nur umso deutlicher. Adorno geht es im Grundsatz darum, den materialistischen „Vorrang des Objektiven“ mit dem idealistischen Erbe der subjektiven Vermittlung aller objektiven Realität zu versöhnen: Alles, was wir als unmittelbar Gegebenes erfahren, ist bereits das Resultat einer Vermittlung, einer Setzung durch ein Netzwerk von Differenzen; jede Theorie, die behauptet, wir hätten Zugang zur unmittelbar seienden Wirklichkeit – sei es die phänomenologische Wesensschau oder die empiristische Erkenntnislehre – ist falsch. Andererseits weist Adorno aber auch die idealistische Auffassung zurück, wonach aller objektive Inhalt durch das Subjekt gesetzt bzw. hervorgebracht wird; eine solche Position fetischisiere noch die Subjektivität selbst zu einer unmittelbaren Gegebenheit. Aus diesem Grund steht Adorno dem kantischen Apriori der transzendentalen Kategorien, die unseren Zugang zur Realität vermitteln (und so konstituieren, was wir als Realität erfahren), ablehnend gegenüber. Für ihn verabsolutiert das transzendentale Apriori Kants nicht einfach nur die subjektive Vermittlung, sondern es verdeckt vielmehr seine eigene geschichtliche Vermittlung. Die Liste von Kants transzendentalen Kategorien ist kein vorgeschichtliches „reines“ Apriori, sondern ein geschichtlich vermitteltes Begriffsgeflecht, ein Netzwerk, das in eine bestimmte Geschichtskonstellation hineingehört und aus ihr hervorgegangen ist. Wie also lassen sich die grundlegende Vermittlung alles Objektiven und der materialistische „Vorrang des Objekts“ zusammendenken? Die Lösung besteht darin, dass dieser Vorrang das eigentliche Ergebnis der zu Ende geführten Vermittlung ist, der Widerstandskern, den wir nicht unmittelbar erfahren können, sondern nur in Form des abwesenden Bezugspunkts, aufgrund dessen letztlich jede Vermittlung scheitert.
Gegen Adornos „negative Dialektik“ wird standardmäßig der Vorwurf erhoben, es mangele ihr an innerer Konsistenz. Adornos Entgegnung hierauf ist völlig zutreffend: Wenn man sie zur endgültigen Lehre erklärt, ist die negative Dialektik im Ergebnis tatsächlich „inkonsistent“. Zu ihrem richtigen Verständnis muss man sie als Beschreibung eines Denkprozesses auffassen (oder, lacanianisch ausgedrückt, die mit ihr verbundene Position des Aussagens einbeziehen). Die negative Dialektik bezeichnet eine Position, die ihr eigenes Scheitern einrechnet, das heißt, die ihren Wahrheitseffekt gerade durch ihr Scheitern erzeugt. Kurz gesagt: Man sucht den Denkgegenstand begrifflich zu (er-)fassen, scheitert jedoch damit und verfehlt ihn, und gerade durch dieses Scheitern wird der Ort des anvisierten Gegenstands eingekreist, und dieser selbst gibt sich in seinen Umrissen zu erkennen. Man ist versucht, hier die lacansche Vorstellung des „ausgestrichenen“ Subjekts (S/) und des Objekts als reales bzw. unmögliches ins Spiel zu bringen. Die adornosche Unterscheidung zwischen der unmittelbar zugänglichen „positiven“ Objektivität und der im „Vorrang des Objektiven“ anvisierten Objektivität entspricht genau der lacanschen Unterscheidung zwischen (symbolisch vermittelter) Realität und unmöglichem Realen. Und verweist die von Adorno vertretene Auffassung, dass das Subjekt seine Subjektivität nur insofern bewahrt, als es „nicht vollständig“ Subjekt ist, nur insoweit, als sich irgendein Objektivitätskern seinem Zugriff widersetzt, nicht auf das Subjekt als konstitutiv „ausgestrichenes“? Darum entgegnete Adorno auf die Behauptung der protestierenden Studenten, das kritische Denken müsse sich den Standpunkt der Unterdrückten zu eigen machen, der negativen Dialektik ginge es um eine Absage an das Standpunktdenken.
In seiner Kritik an Hegel ist Adorno sich überraschend (oder vielleicht auch nicht so überraschend) einig mit seinem Widersacher Karl Popper, für den vom philosophischen Totalitätsbegriff ein gerader Weg zum politischen Totalitarismus führt, wie er in seiner Verteidigung der „offenen Gesellschaft“ ausführt. Adorno verwirft in seiner negativen Dialektik, was er als Hegels positive Dialektik (miss-)versteht, nämlich die Auflösung sämtlicher Antagonismen, die in einem dialektischen Prozess aufbrechen, in einer abschließenden Versöhnung, die eine neue positive Ordnung begründet. Hegel erkenne nicht, dass seine Versöhnung unehrlich und falsch sei, eine „erpreßte Versöhnung“ (so heißt es im Titel von Adornos Abhandlung über Lukács), welche die Tatsache verschleiere, dass die Antagonismen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ununterbrochen weiterbestehen. Gérard Lebrun hatte eine perfekte Antwort auf diese Kritik parat: „Das Herrliche an diesem Porträt des Dialektikers, den seine Blindheit unehrlich macht, ist die Annahme, er hätte ehrlich sein können.“25 Anders gesagt: Statt die falsche hegelsche Versöhnung zurückzuweisen, gilt es, die dialektische Versöhnung selbst als illusionär zurückweisen, das heißt, man sollte die Forderung nach „wahrer“ Versöhnung aufgeben. Hegel war sich vollkommen darüber im Klaren, dass eine Versöhnung nichts gegen die realen Leiden und Antagonismen auszurichten vermag – wie er in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts formuliert, gelte es, „die Rose im Kreuz der Gegenwart zu erkennen“. Oder, um mit Marx zu sprechen: Bei einer Versöhnung wird nicht die äußere Realität verändert, um sie einer Idee anzupassen; vielmehr wird diese Idee als die innere „Wahrheit“ jener elenden Realität selbst erkannt. Der marxistische Vorwurf, Hegel liefere lediglich eine neue Interpretation der Welt, statt sie zu verändern, verfehlt daher gewissermaßen den Punkt – damit rennt man offene Türen ein, denn um von der Entfremdung zur Versöhnung zu gelangen, bedarf es nach Hegel keiner Veränderung der Realität, sondern dazu müssen wir die Art, wie wir sie wahrnehmen und mit ihr in Beziehung stehen, verändern. Gleiches gilt auch für die Kritik an Hegels System als Rückkehr zur in sich geschlossenen Identität, welche die weiter bestehenden Antagonismen verschleiere – auch mit ihr rennt man offene Türen ein, denn die hegelsche Versöhnung ist die Versöhnung mit den Antagonismen.
Es gibt zwei Wege aus der Sackgasse, in der Adorno mit seiner negativen Dialektik endet: den von Habermas und den Lacans. Habermas, dem das Inkonsistente und Selbstdestruktive von Adornos Kritik der Vernunft, die sich keinen Aufschluss über sich selbst zu geben vermag, durchaus nicht entging, schlug das pragmatische Apriori kommunikativer Normativität als Lösung vor, eine Art regulatives Ideal à la Kant, das bei jedem intersubjektiven Austausch vorausgesetzt wird.26 Mit Habermas schließt sich der Kreis hegelianischer Marxisten und die kantische Kluft kehrt in Gestalt der Differenz zwischen kommunikativer und instrumenteller Vernunft mit Macht zurück. Wir sind also wieder auf transzendentalem Boden angelangt: Habermas’ Diskursethik ist ein transzendentales Apriori, das sich nicht von seiner objektiven Entstehung her erklären lässt, weil es von jedem entsprechenden Versuch immer schon vorausgesetzt wird. Auf die direkte Frage eines Journalisten, ob er an Gott glaube, sagte Habermas, er sei Agnostiker, und zwar genau in dem an Kant anschließenden Sinne, dass er die Realität ihrer letzten Natur nach als unzugänglich betrachtet. Der Fixpunkt, hinter den wir Menschen nicht zurückkönnten, sei das Apriori der Kommunikation.
Habermas muss vor dem Hintergrund der Tatsache gelesen werden, dass der Fortschritt der heutigen Wissenschaft unseren alltagsweltlichen Realitätsbegriff in seinen grundlegenden Voraussetzungen zerstört. Die Machteliten wollen alles auf einmal haben. Sie brauchen die Wissenschaft als Grundlage der wirtschaftlichen Produktivität, gleichzeitig aber wollen sie die ethisch-politischen Grundlagen der Gesellschaft von der Wissenschaft rein halten. Die jüngste, von der Biogenetik ausgelöste ethische „Krise“ weckte das Bedürfnis nach einer Philosophie, die man mit Fug und Recht als „Staatsphilosophie“ bezeichnen könne: Einerseits ließe sie Wissenschaft und Technik gewähren, während sie diese andererseits in ihrem Einfluss eindämmen würde und so verhindern, dass sie eine Bedrohung für die bestehende theologisch-ethische Ordnung darstellen. Kein Wunder, dass es die Neukantianer unter den Philosophen sind, die die entsprechenden Anforderungen am ehesten erfüllen. Kant selbst trieb die Frage um, wie sich bei voller Berücksichtigung der newtonschen Wissenschaft ein Bereich ethischer Verantwortung absichern ließe, der sich der Reichweite der Wissenschaft entzieht – wie es bei ihm selbst heißt, habe er die Erkenntnis in ihrer Reichweite eingeschränkt, um Raum für den Glauben und die Moral zu schaffen. Sehen sich die heutigen Staatsphilosophen nicht der gleichen Aufgabe gegenüber? Werden sie nicht von der Frage umgetrieben, wie sich die Wissenschaft durch unterschiedlich gelagerte transzendentale Überlegungen auf ihren vorbestimmten Bedeutungshorizont beschränken lässt und wie dadurch ihre Konsequenzen für den ethisch-religiösen Bereich als „unzulässig“ verurteilt werden können?
Es ist festzuhalten, dass die von uns behandelten Positionen gegenüber der Ontologie sich mit politischen Grundhaltungen verbinden: der Neukantianismus begründet den sozialdemokratischen Reformismus; der Hegelianismus des frühen Lukács liegt seinem radikalen leninistischen Engagement (gegen die philosophischen Positionen von Lenin selbst) zugrunde; die Ontologie des dialektischen Materialismus begründet die stalinistische Politik; Lukács’ Spätontologie des gesellschaftlichen Seins begründet die (utopischen) Hoffnungen auf eine humanistische Umgestaltung der bestehenden sozialistischen Systeme; die negative Dialektik ist ein Echo auf die politischen Rückschläge, das Fehlen jeder Aussicht auf eine grundlegende Emanzipation in den entwickelten Ländern des Westens … Wenn wir über Wege zum Ausbruch aus dem transzendentalen Zirkel sprechen, dann sprechen wir (auch) über politische Grundausrichtungen. Worin besteht nun die Lösung? Sie besteht in einer Rückkehr zu Hegel, einem Hegel allerdings, den es anders zu lesen und zu verstehen gilt – nicht im Sinne der vollständigen Vermittlung des Objektiven durch das Subjekt, wie sie vom jungen Lukács vertreten wurde.
Wenn Hegel sagt, das Subjekt müsse sich in seiner Andersheit erkennen, so bleibt das uneindeutig: Es kann (und wird in der Regel) als vollständige Aneignung allen objektiven Inhalts durch das Subjekt verstanden. Doch man kann es auch in dem Sinne verstehen, dass das Subjekt sich als ein Moment seiner Andersheit erkennen soll, in dem, was ihm als entfremdete Objektivität erscheint. Heißt das aber wiederum, dass wir wieder bei einem naiv-objektiven Realismus sind, bei dem das Subjekt bloß ein Moment in irgendeiner objektiven Ordnung der Substanz darstellt? Wie bereits angedeutet, gibt es eine dritte (und echt hegelianische) Möglichkeit, über diese Alternative von Fichteanismus und Spinozismus hinauszugehen: Ja, das Subjekt erkennt, dass es in seiner Andersheit inbegriffen ist, jedoch nicht im Sinne eines Rädchens in irgendeiner kosmischen Substanzordnung (oder ihres Gipfels). Das Subjekt erkennt, dass seine eigene Schwachstelle (Mangelhaftigkeit, Scheitern, Begrenztheit) in der Schwachstelle (Mangelhaftigkeit, Scheitern, Begrenztheit – oder vielmehr dem Ungleichgewichtigkeit) begründet liegt, die zu dieser kosmischen Ordnung selbst gehört. Dass das Subjekt sich nicht vollständig zu objektivieren vermag, heißt nicht, dass es irgendwo außerhalb der objektiven (Natur-)Ordnung steht; es heißt vielmehr, dass diese Ordnung in sich selbst unvollständig, von einer Unmöglichkeit durchdrungen ist. Weit davon entfernt, eine Versöhnung mit dem Scheitern anzuzeigen, eröffnet eine solche Position neue Möglichkeiten und Perspektiven für ein radikales, in der Verdopplung des Mangels gründendes Handeln.