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Hegels Parallaxe

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Das abschließende Moment von Hegels System, das „absolute Wissen“, konfrontiert uns mit der äußersten Gestalt dieser grundlegenden Instabilität und Spannung: Die immanente Selbstentfaltung der von allem Äußeren bereinigten, sich bloß auf sich selbst beziehenden Idee kehrt sich in ihr offensichtliches Gegenteil um – sie lässt ihren subjektiven Akteur hinter sich und verwandelt sich in „ein Denken ohne Denkenden“. Als solches fällt diese reine Aktivität mit ihrem Gegenteil zusammen, das heißt, sie muss ihrem menschlichen Träger als Akt der völligen Passivität, der bloßen Registrierung des Vorhandenen erscheinen. Kurz gesagt, überschneidet sich der ins Äußerste getriebene Idealismus mit dem, was Freud „freies Assoziieren“ nennt.

Hegel verlangt von seinen Lesern eine im eigentlichen Sinne psychoanalytische Haltung. Die absolute Methode bildet die Entsprechung zur „Grundregel“ der Analyse – der lästigen Verpflichtung, „frei“ zu sprechen –, also mitzuteilen, was einem „in den Sinn kommt“, „Einfälle“, ohne etwas auszuwählen oder wegzulassen und ohne Rücksicht auf Zusammenhang oder Reihenfolge, Anstand oder Relevanz. Wie ein Zugreisender (das ist Freuds eigene, etwas proustisch anmutende Analogie) soll man die vorüberziehenden, wechselnden geistigen Schauplätze wiedergeben, sich in „reinem Zusehen“ üben, sich eines Urteils enthalten, Verstehen und Erklären hinausschieben (oder jemand anders überlassen) und „nur aufnehmen, was vorhanden ist“.1

Ein weiterer Aspekt dieser Umkehrung ist der Umstand, dass die Entfaltung der immanenten logischen Denknotwendigkeit, welche allen äußeren empirischen Gehalt allmählich hinter sich lässt, da sie keine äußere Voraussetzung erlaubt und nur in sich selbst gründen kann, als in einem unwägbaren Akt der (willkürlichen) Entscheidung gegründet erscheinen muss:

Für die Logik als die Wissenschaft des reinen Denkens, zu dessen Begriff wir eben gelangt sind und der sich gerade wieder verliert, ist das Anfangen logisch ebenso notwendig wie unmöglich, d. h., es lässt sich weder ableiten noch analysieren. Man muss anfangen, dennoch kann man es nicht. Es gibt nur eines, an das man sich unmittelbar halten kann. „Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden.“ Am Anfang steht eine Entscheidung, eine unmittelbare Entscheidung. Doch eine Entscheidung wofür? Es ist keine Entscheidung für irgendetwas Konkretes. Folglich handelt es sich nicht nur um eine ganz unmittelbare, sondern auch um eine ganz unbestimmte Entscheidung.

Und mit dieser Entscheidung verhält es sich noch paradoxer, als es vielleicht scheinen mag. Es handelt sich nämlich um eine Entscheidung, bei der man in Wirklichkeit keine Wahl hat, die immer schon gefallen ist. Sie lässt sich nicht ungeschehen machen; man kann nicht zurückgehen und sich erneut entscheiden, denn das Sich-Entscheiden-Können setzt die Entscheidung (die Entscheidung, sich zu entscheiden) bereits voraus. Wir haben es hier mit einem weiteren Fall eines unendlichen Urteils zu tun: Die Selbstentfaltung immanenter Denknotwendigkeit fällt mit ihrem Gegenteil, einer Willkürentscheidung, zusammen. Diese Willkür, die Hegels System, dem ultimativen Systembau begrifflicher Notwendigkeit, zugrunde liegt, hinterlässt ein nicht vermutetes Mal auf seinem gesamten Schriftwerk, das sich treffend als eine Erzählung in zwei Bänden bezeichnen lässt – Hegel verfasste (nur) zwei „richtige“ Bücher, die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik, und sie haben eines gemeinsam:

Phänomenologie und Logik betreiben beide ein fortlaufendes Projekt zur Selbstreinigung: Sie sind beide mit Säuberungstätigkeiten beschäftigt – mit Schornsteinfegen und Überstreichen (wenn man auch schwer sagen kann, was was ist). Sie haben es beide mit einer Herkulesaufgabe zu tun: Sie gehen daran, den Augiasstall der Tradition auszumisten; sie müssen den angehäuften Schutt von Vorurteilen und Vorannahmen beseitigen.

Diese Zeilen sind in ihrem ganzen stalinistischen Ausmaß zu erfassen: Hegel führt eine Säuberung durch, die sich nicht einmal Stalin hätte vorstellen können, ein Opfer, das im Opfer des Opfers gipfelt. In Brechts Maßnahme heißt es bezüglich der revolutionären Gewalt, man solle danach trachten, der „letzte Schmutz“ zu werden, nach dessen Entfernung der Raum sauber sein wird. Darum ist Hegel, als er (in den Jenaer Jahren) „Hegel wurde“, durch ein langes Tief gegangen: Philosoph zu werden war nicht einfach nur eine Sache der Erkenntnis, sondern bedeutete eine tiefgreifende subjektive Wandlung. Authentische, wahre Philosophie ist daher eine Art „theoretische Psychoanalyse“: Sie ist kein Universitätsdiskurs, sondern eine existenzielle Entscheidung und die Umsetzung dessen, was Lacan als Abschluss der Analyse definierte, nämlich das Durchqueren des Phantasmas mit den Mitteln der Theorie.

Trotz dieses verbindenden Elements aber sind beide Bücher absolut disparat: Es gibt keinen gemeinsamen Raum zwischen ihnen, keine generelle Überlegung Hegels, die für beide Bereiche gelten würde; es besteht keine Möglichkeit, beide Bücher in einem großen Buch zusammenzuführen, das gleichzeitig logisch und historisch wäre – im Gegenteil: Hegels Denken definiert sich grundsätzlich durch diesen Riss zwischen seinen beiden Büchern, einen Riss, der in sich selbst unmöglich ist, weil die Bücher sich durch keine Linie eindeutig voneinander abgrenzen lassen.

Wenn sie als Paket erscheinen, dann liegt das nicht daran, dass sie sich komplementär zueinander verhalten oder eine Art mystische Einheit der Gegensätze bilden würden, und es gibt auch nichts Drittes, keine weitere Synthese, durch die sich beide im Raum eines einzigen Bandes zusammenbringen ließen. Jeder Vermittler ist verschwunden. Die beiden Texte bestehen vielmehr in einer unsicheren Supplementärbeziehung nebeneinander, in der jeder als Schattenseite des anderen funktioniert, überflüssig und unverzichtbar zugleich. Trotzdem oder gerade weil es nicht möglich ist, von einer Seite zur anderen überzugehen, ist jede Seite wie in einer Art Möbiusband bereits in die andere übergegangen. Dies manifestiert sich in der Fülle von paratextuellem Überbrückungsmaterial, welches sich in der interstitiellen Grenzzone zwischen beiden Büchern zusehends anhäufte (der seltsame Hiatus nach dem einen Buch war vorbei, noch ehe das andere richtig angefangen hatte): ein Epigramm hier, eine Titelseite da, hier ein Inhaltsverzeichnis, da eine Einführung, eine weitere dazu, ein paar allgemeine Bemerkungen zur Klassifizierung, noch ein vorbereitender Abschnitt darüber, wie der Anfang zu bewerkstelligen sei. Die Ver-bindung entbindet, was sie bindet, sie durchtrennt sämtliche Bänder zwischen dem einen und dem anderen Buch, während sie sie gleichzeitig unauflöslich miteinander verknüpft. […] Jede Seite ist bereits in die andere übergegangen, auch wenn die beiden Seiten unüberbrückbar bleiben. Zwischen Phänomenologie und Logik besteht eine Verschränkung: Es gibt keine Synthese, die sie verbindet und zusammenhält, und doch wird die Grenze, die sie trennt, kontinuierlich durchbrochen.

Diese flüchtige und daher umso beständigere Trennlinie ist das Reale bzw. Unmögliche in seiner reinsten Form, und darum stellt sie auch das perfekte Bild einer Kreuzhaube dar. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, diese trennende Linie zu überwinden und auf die andere Seite überzugehen – das tun wir ständig und manchmal wissen wir gar nicht, auf welcher Seite wir uns befinden, zum Beispiel in Bezug auf die Sexualität: Wir sind alle bisexuell usw. Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, zu dieser Trennlinie hinzugelangen, sie als solche zu bestimmen, zu fassen zu bekommen. In all dem wilden Durcheinander verschiedener Positionen wird der Grenzverlauf schwankend und oft möchte man sagen, dass diese Grenze nicht existiert, dass einer pulsierenden Mannigfaltigkeit lediglich eine sekundäre „Binärordnung“ auferlegt wird.

Das heißt natürlich keineswegs, dass wir uns nicht um eine nähere Bestimmung der Differenz zwischen Phänomenologie und Logik bemühen sollten. Der Punkt ist nur, dass diese Bestimmungen sich zwangsläufig als widersprüchlich darstellen, und dazu sind sie (gemessen an unserer herkömmlichen Vorstellung von beiden Büchern) oft auch unerwartet. So würde man etwa nicht vermuten, dass die Phänomenologie (die sich mit historischen Gegenständen befasst) ein viel statischeres Bild ihrer Gegenstände vermittelt, während die Logik (die sich mit dem göttlichen Geist vor der Erschaffung der Welt, das heißt, mit der Ewigkeit vor ihrem „Sturz“ in die Zeit befasst) in ihrem Stoff geradezu schwindelerregenden Dynamiken unterliegt: „Seltsamerweise verschreibt die Phänomenologie sich dem Beständigen, wohingegen die Logik sich einer Stillstellung verweigert: Geschichte erstarrt, wohingegen die Ewigkeit in Fluss kommt.“ Vielleicht liegt darin der Grund dafür, dass im Zuge der nachhegelianischen Spaltung in eine linke und eine rechte Schule die linke Seite sich eher mit der Logik befasste, während die rechte sich vorzugsweise mit Hegels geschichtlichen und ästhetischen Texten und Vorlesungen aufhielt: „Hegelsche Linke und hegelsche Rechte bildeten keine einheitlichen Lager, und der Graben zwischen beiden Lagern lässt sich nicht so ohne Weiteres an der Trennung zwischen Phänomenologie und Logik festmachen. Allerdings neigte die Linke (man denke hier speziell an Marx und Lenin) tatsächlich stärker der Logik zu, während es die Rechte in aller Regel eher mit Hegels Realphilosophie hielt, wie sie sich in seinen Vorlesungen dargelegt findet.“ Dieses Paradox gilt es, voll zu unterstreichen: Hegel ist in seinem revolutionärsten Element, wenn er den Geist Gottes der Erschaffung der Welt voranstellt.

Allerdings stoßen wir hier auf eine weitere Schwierigkeit: Hegel schrieb zwar nur zwei Bücher, doch mit der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und den Grundlinien der Philosophie des Rechts hat er zwei weitere, ganz anders gelagerte Bücher zusammengestellt und herausgebracht, und die Frage ist nun, was sich daraus für die Stellung des absoluten Wissens ergibt. Man könnte behaupten, dass dieses zweite Paar das erste in einem anderen diskursiven Raum wiederholt. Demnach stellt die Enzyklopädie eine Zusammenfassung des Gesamtsystems in Lehrbuchform dar, die Philosophie des Rechts hingegen eine mehr geschichtlich ausgerichtete Arbeit, die „ihre eigene Zeit in Begriffe fasst“. Diese beiden Bücher unterscheiden sich ihrer Anlage nach komplett von den beiden ersten: Zur Verwendung in der universitären Lehre verfasst, sind sie nach Paragrafen gegliedert und lesen sich als komprimierte Referate über ein bereits bestehendes Wissen – von einem existenziellen Wagnis und von der Angst, sich mit seinem Denken auf einen gefahrvollen Weg zu begeben, ist darin nichts zu spüren. Comays und Rudas Darstellung sollte hier unbedingt vollständig wiedergegeben werden:

Hegel beginnt die kürzere Logik mit einer klar umrissenen Bestimmung des anstehenden Themas. „Die Logik ist die Wissenschaft der reinen Idee, das ist der Idee im abstrakten Elemente des Denkens.“ Genau das aber hatte die „größere“ Logik für ausgeschlossen erklärt und dies damit begründet, dass man unmöglich im Voraus wissen kann, worin das Eigentümliche des thematischen Gegenstands besteht. Kaum aber haben wir uns auf das Terrain der Enzyklopädie begeben, werden wir aus dem Gebiet der eigentlichen Philosophie auch schon wieder hinausgeworfen: Gleich zu Beginn der „kleinen“ Logik nämlich werden wir daran erinnert, dass wir als Leser von der immanenten Selbstbestimmung des Begriffs ausgeschlossen sind: Wir sind Schüler, es gibt den Lehrer, und wir werden im weiteren Verlauf Schritt für Schritt angeleitet. Der Leser muss von vornherein gesagt bekommen, worum es bei dem ganzen Unterfangen geht. Auf dem Weg von der Wissenschaft der Logik zu ihrem enzyklopädischen Namensvetter verschiebt sich die Perspektive: vom subjektiven Erzeugen der Wahrheit zur Objektivierung dieser Wahrheit in Form des Wissens. Wir „treiben“ keine Logik mehr, sondern werden über die Logik als Gegenstand übertragbaren Wissens unterrichtet. Es geht nicht mehr darum, dass wir „philosophieren lernen“, wir sollen vielmehr „Philosophie lernen“ (um an Kants bekannte Unterscheidung zu erinnern): Anders gesagt, stehen wir kurz davor, auf einen vorkritischen Dogmatismus zurückzufallen. Zwischen der „großen“ und der „kleinen“ Logik besteht nicht länger Familienähnlichkeit, sondern einfach nur eine Ähnlichkeit dem Namen oder Buchtitel nach.

Es ist ein Symptom dieser Verschiebung, dass die Argumentation in der Enzyklopädie-Logik in nummerierte, für sich stehende Paragrafen zerlegt wird: Die Studenten werden vorab mit einer Karte ausgestattet, auf der alle zu durchlaufenden Stationen verzeichnet sind, wohingegen die Begriffsübergänge und Übergangsbegriffe, wie es sie in der größeren Logik gab, nahezu ganz fehlen. Jemand weiß immer schon, wo wir uns befinden, wie wir dahin gelangt sind und wohin es weitergeht.

Wenn wir jedoch nur diesen Gegensatz zur Geltung bringen, versteifen wir uns dann nicht auf den Gegensatz, der immer wieder aufgemacht wird: hier das schöpferische und existenziell beteiligte Denken, das alle Risiken einzugehen und noch seine eigenen Verfahren in Zweifel zu ziehen bereit ist, dort die Position des „gefahrlosen“ Referierens über ein vorerworbenes Wissen (auf das man sich dabei ebenso gefahrlos verlässt)? Wenn wir Hegel wirklich gerecht werden wollen, sollten wir dann nicht diese simple Zweiteilung in die „gute“ und die „schlechte“ Seite des Denkens hinter uns lassen? Sollten wir nicht unseren radikalen Zweifel in diesen Gegensatz selbst einschließen und uns auf den Standpunkt des höchsten „unendlichen Urteils“ der Philosophie stellen: Der Geist ist ein Knochen und die radikale dialektische Skepsis ist das beständige Referieren über ein erworbenes Wissen? Besteht die äußerste Leistung des Denkens nicht darin, die höchste Arbeit des Negativen in ein gefahrloses Referieren über ein vorgegebenes Wissen zu überführen? Ist der Gegensatz zwischen beiden (hier zwischen Inhalt und Form) nicht der größte „Widerspruch“ in sich?2 Nur dieses Sich-Fügen in das Universitäre, dieses Opfer des „Schöpferischen“ ist das wahre Opfer des Opfers, das Opfer gerade der Faszination in Bezug auf die eigene schöpferische Skepsis.

Sex und das verfehlte Absolute

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