Читать книгу Der Archivar der Seelen - Soern Pohl - Страница 10

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Schlaflos. Sein Körper und sein Geist sind in Aufruhr. Immer wieder liest er einzelne Passagen, blättert vor und zurück, sucht gewisse Stellen, liest sie immer und immer wieder und kann es nicht fassen.

Sein Leben, seine Taten und Handlungen sind detailliert und chronologisch beschrieben. Von seiner Geburt an bis zu dem Punkt, als er an der Bushaltestelle sitzt, wartet und über seinen Zustand sinniert. Der Autor beschreibt keine Gefühle, interpretiert keine seiner Handlungen oder setzt sie in Bezug zu Jeremiahs emotionalem Zustand. Nüchtern und emotionslos werden die Stationen seines Lebens abgearbeitet. Es ist keine Geschichte, keine Handlung dahinter erkennbar, sondern rein die Darstellung seines Lebens.

Nicht jeder Tag, nicht jede Regung wird beschrieben. Viel mehr sind es die großen und die kleinen Ereignisse, die in irgendeiner Form Einfluss auf die Entwicklung seines Charakters, seiner Meinungen, seiner Ansichten und seiner Gefühle genommen haben. Sei es das erste Mal, als ihn auf einem Spielplatz ein größerer Junge schlug, weil er ihm nicht seine Spielsachen geben wollte, oder der erste Kuss, den er von einem Mädchen mit dreizehn Jahren erhielt, als sie sich vor anderen Jungs versteckten, die sie zuvor durch die Straßen gehetzt hatten. Alles wird beschrieben, aufgeführt und festgehalten. Große emotionale Momente wie die Hochzeit und später die Trennung von seiner Frau, die Geburt seines Sohnes oder seiner Enkel, der Tod seiner Eltern, der Verlust von Freuden und seiner Unschuld in jeglicher Form.

Unter all den persönlichen Angaben findet sich auch seine dunkle Seite wieder. Der Tag, an dem er entschied, sich nichts mehr gefallen zu lassen. Er lauerte einem der Jungen aus der Schule auf, der ihn immer wieder mit seinen Freunden drangsalierte. Er hatte sich tagelang auf diesen Moment vorbereitet, alles bis ins kleinste Detail geplant. Er wartete, bis sich der Junge abends von seinen Freunden verabschiedete und auf den Weg nach Hause machte. Jeremiah kannte jeden Winkel der Strecke, hatte sie immer und immer wieder im Geiste durchlaufen und sich den idealen Punkt für seine Tat ausgesucht. Er wartete mit einer Mischung aus Aufregung und zugleich kaltblütiger Ruhe. Er hatte genug von den Schlägen und den Denunzierungen auf dem Schulhof. Genug von dem Gefühl der Angst und dem permanenten Druck im Hinterkopf, sich gejagt zu fühlen. Und so wartete er geduldig auf den Anführer der Gruppe. Ihm war instinktiv klar, dass er den Kopf der Bande schwächen musste, um die Gruppe massiv zu stören und sie davon zu überzeugen, ihm in Zukunft besser aus dem Weg zu gehen. Während er wartete, gingen ihm all die Bilder und Emotionen der Quälereien der Gruppe durch den Kopf. Sie hatten ihn geschlagen, ihn mit einem Seil gefesselt und durch den Schulgang gezogen, laut über ihn gelacht und ihn immer weiter gequält, bis er wie ein verwundetes, ängstliches Tier durch die Schulgänge schlich, immer auf der Hut und zugleich auf der Flucht. Die Erinnerungen an all das Geschehene drängte seine Furcht immer weiter in den Hintergrund und gab den Platz frei für eine unbändige, tief brodelnde Wut. In diesem Moment bog der Anführer der Gruppe um die Ecke und Jeremiah kannte kein Zurück mehr. Seine aufgestaute Wut, der Schmerz der Denunzierungen übernahm die Kontrolle und er fiel über den Jungen her. Dieser hatte keine Chance und ging überrascht von der Wucht des Angriffs sofort zu Boden. Jeremiah prügelte gnadenlos auf ihn ein, brach ihm die Nase, schlug ihm einen Zahn aus, riss an seinen Haaren und ließ seinem tiefsitzenden Wunsch nach Vergeltung freien Lauf. Er richtete sich auf, sein Opfer lag weinend am Boden, seine Arme schützend vor sein Gesicht haltend. Und statt es genug sein zu lassen, sich mit dem Exempel seiner Wehrhaftigkeit zufrieden zu geben, ließ Jeremiah seiner Wut, dem Gefühl der Rache und der Genugtuung freien Lauf. Immer wieder trat er mit lautem Gebrüll auf den Jungen ein. Er achtete nicht darauf, wohin er schlug, unkontrolliert prügelte er weiter auf den Jungen ein, bis dieser nur noch leise wimmernd und Blut spuckend vor ihm lag. Erst da kam er zur Ruhe, doch nicht, ohne es final zu beenden. Brutal packte er den Jungen an seinen Haaren und zwang ihn, in seine Augen zu blicken. Es bedurfte keiner weiteren Worte, die Grenzen waren neu gezogen. Jeremiah wandte sich ab und ließ den Jungen in seiner Lache aus Blut und Urin liegen.

Auch sein erster Akt der selbstgewählten Gerechtigkeit kann er in dem Buch nachlesen. Alles wird darin beschrieben. Seine akribische Verfolgung des Mörders, die Vorbereitungen, die er traf, um ihn zu stellen und der Moment, als er ihn in seine Wohnung zerrte und über das Wochenende all das spüren ließ, was er meinte, dass seine Opfer erdulden mussten. Das Buch verzichtet dabei auf Interpretationen, Verurteilungen oder sonstige Formen von Kommentierungen seiner Taten. Nüchtern, kalt und völlig emotionslos werden seine Taten dargestellt, als wäre einfach nur eine Kamera auf sein Handeln gehalten worden.

Es folgen all die weiteren selbst getroffenen Verurteilungen und Vollstreckungen. Und auch hier beschreibt das Buch nicht nur den eigentlichen Vollzug, sondern jede Phase seiner Vorbereitungen, bis hin zu den Details, wie er Beweise vernichtete, manipulierte oder gänzlich neue „Beweise“ erschuf, um seine Version der Geschichte zu stützen und seine Gräueltaten zu verdecken.

Neben all den großen und kleinen Ereignissen seiner persönlichen Entwicklung und seines Berufslebens werden auch die vielen Szenen aus seinem Leben als Ehemann und Vater beschrieben. Momente, in denen er glücklich war, genauso wie Momente, in denen seine Trauer, seine Verzweiflung einen so großen Umfang einnahmen, dass er nicht anders konnte, als sich so tief in sich zurückzuziehen, dass er nicht mal mehr für sich selbst erreichbar war. Die Welt und die Menschen, die ihm nahestanden, schloss er von sich aus, stieß sie emotional und körperlich von sich. Er ließ keine Nähe, keine Zärtlichkeiten zu, aus Angst, daran zu zerbrechen, aus Furcht, seinen Schutzpanzer zu verlieren, der ihm die Stabilität und Sicherheit gab, die Welt um ihn herum zu ertragen.

Er sucht nach dem Impressum, irgendeiner Angabe des Autors oder Verlages, aber er findet nichts dergleichen. Anfangs glaubt er an einen schlechten, faszinierenden und zugleich erschreckenden Scherz. Als er dann Passagen, ganze Kapitel findet, die Situationen in seinem Leben behandeln, die nur er allein kennen kann, für die es keine Zeugen gab, wandelt sich die Faszination in Schrecken und einer langsam aufkommenden Panik. Nur mit größter Mühe kann er an sich halten, um nicht panisch durch seine Wohnung zu laufen.

Er legt das Buch vorsichtig zur Seite und betrachtet es, als wäre es lebendig. Als könnte es ihn ansprechen, ihn für sein Leben zur Rechenschaft ziehen und ihn richten.

Woher hat der Mann das Buch? Wer ist er und was will er von ihm?

Angst vermengt sich mit Unsicherheit, dem Wunsch, etwas zu unternehmen, und der Furcht, keinen Ausweg zu wissen. Er muss den Mann wiederfinden, ihn zur Rede stellen, herausfinden, was er noch alles über ihn weiß, obwohl es mit diesem Buch keine Geheimnisse mehr zu bewahren gibt. Und wenn er ihn dann gefunden und alles erfahren hat, was er wissen muss, dann wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als diesen Mann und sein Buch aus dem Weg zu räumen. Das Risiko ist zu groß. Nicht nur für ihn. Viel mehr für Michael. Wenn die Öffentlichkeit erfährt, welches Monstrum der Vater des künftigen Präsidenten ist, zerstören sie nicht nur sein Leben, sondern auch das seines Sohns und dessen Familie. Nichts davon darf geschehen. Er wird es zu verhindern wissen, egal zu welchem Preis.

Entschlossen nimmt er das Buch an sich, geht in sein Schlafzimmer, öffnet seinen großen, schweren Umkleideschrank, zieht die Anzüge zur Seite und entfernt das Verdeck der Rückwand. Hastig tippt er den Code des Zahlenschlosses des Safes dahinter ein. Leise springt er auf und schnell, als könnte er sich an dem Buch verbrennen, legt er es hinein und schließt den Safe.

Es ist Zeit, auf die Jagd zu gehen. Zeit, seine Familie zu schützen.

Der Archivar der Seelen

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