Читать книгу Der Archivar der Seelen - Soern Pohl - Страница 12

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Der Anblick lässt ihn im ersten Moment erstarren. Er versucht, die Dimensionen zu erfassen, sie zu verstehen und versagt.

Er war dem Archivar durch die dunklen Straßen gefolgt. Irgendwann hatte er die Orientierung verloren, obwohl er die Stadt in und auswendig kennt. Er war hier aufgewachsen, kennt jedes Viertel, jede kleine Straße, hatte in all den Jahren die unzähligen kleinen, versteckten Gassen entdeckt und erkundet. Doch jetzt war er sich nicht mehr sicher, wo er sich befand. Er fand keine Straßenschilder, kein Anzeichen irgendwelcher Sehenswürdigkeiten oder Bauten, die ihm seine Orientierung erleichtert hätten. Stattdessen war alles von einer schweren, undurchdringlichen Dunkelheit umgeben. Er konnte nur schemenhaft Umrisse von Häusern, parkenden Autos und einzelnen Bäumen erkennen. Und dennoch folgte er dem Mann. Er wollte nicht neben ihm gehen, keine Unterhaltung mit ihm führen. Er wollte ihn sich einprägen, seinen Gang, seine Haltung, seine Eigenheiten. So wie er es mit all den anderen Verbrechern getan hatte, die er am Ende ihrer gerechten Strafe zugeführt hatte.

Der Archivar machte sich nicht die Mühe, auf ihn zu warten oder ein Gespräch zu beginnen. Er ging einfach stumm und zielgerichtet voraus. Nach einer halben Stunde waren sie an ihrem Ziel angekommen. Ein altes, schmales, baufälliges Haus aus dem vorigen Jahrhundert. Das Haus hatte vier Stockwerke, die Mauern grau vom Dreck der Straße. Die Fenster der Wohnungen waren dunkel und verdreckt. Es wirkte, als würde hier niemand leben oder niemand Wert auf die Gesellschaft anderer legen. Der Archivar zog einen kleinen Bund mit zwei Schlüsseln aus seinem Mantel, sperrte die Haustür auf und betrat, ohne auf Jeremiah zu warten, das Haus.

Vorsichtig folgte Jeremiah dem Mann, jederzeit bereit, seine Waffe, die er in der Tasche seines Mantels stecken hatte, zu benutzen. Seine Finger schlossen sich um den Griff der Waffe, sein Zeigefinger sanft auf den Abzug ruhend. Er blieb vor der Haustür stehen und blickte in ein tiefes schwarzes Loch vor ihm. Er konnte nichts erkennen, keine Konturen, keine Hinweise, dass in dem Haus jemand lebte. Er stellte sich die Frage, wie der Archivar bei der Dunkelheit seine Orientierung behielt.

„Kommen Sie?“

Langsam schälte sich der Körper des Archivars aus der Dunkelheit heraus. Ruhig und abwartend stand er vor ihm und wartete.

„Ich warne Sie. Sollte das eine Falle sein, werde ich Sie erschießen.“

Der Archivar schien nicht beeindruckt. Stattdessen lachte er kurz in sich hinein und strich über seinen Bart.

„Das werden Sie. Aber nicht jetzt. Nicht heute. Ihre Neugier ist zu groß und wir haben noch so viel vor uns.“

„Es gibt kein wir.“

Der Archivar zögerte einen Moment, dann entschied er sich gegen eine Antwort. Stattdessen deutete er in den dunklen Gang hinter ihm.

„Würden Sie mir jetzt bitte folgen? Ich habe nicht vor, die ganze Nacht hier zu stehen.“

Jeremiahs Griff um seine Waffe wurde fester. Langsam setzte er sich in Bewegung und betrat das Haus. Leise schloss der Archivar die Tür hinter ihm und völlige Dunkelheit umgab sie.

„Es werde Licht.“

Jeremiah meinte Sarkasmus in der Stimme des Archivars herauszuhören. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, erhellte sich das Haus vor ihm und erwachte zum Leben. Kleine Lampen mit schwachen Lichtern erleuchteten nur spärlich den Hausgang, die Treppe, die nach oben in die anderen Stockwerke und nach unten in den Keller führte. Jeremiah blickte sich um. Das Haus schien nur für eine einzige Familie oder Person zu existieren, was ihn verwunderte, herrschte doch wie in allen anderen Großstädten Wohnungsnot. Das Haus musste ein Vermögen wert sein. Doch etwas störte ihn. Im ersten Moment konnte er es noch nicht in Worte fassen, doch langsam festigte sich sein Bild und es wurde ihm klar. Das Haus wirkte alt und tot, kein Funken Leben in ihm.

„Wohnen Sie allein hier?“

„Kommt darauf an, wie Sie allein definieren. Ich bin nicht allein, aber Sie werden hier niemanden außer mir vorfinden.“

„Reden Sie eigentlich immer so mysteriös? Soll Sie das geheimnisvoller wirken lassen oder sind Sie einfach nicht in der Lage, eine Frage klar zu beantworten?“

Der Archivar hielt seinem Blick stand, ein Lächeln weiterhin auf seinen Lippen.

„Sowohl als auch“, antwortete er mit einem vergnügten Unterton. „Nach meiner Erfahrung liegt nur in den seltensten Fällen eine klare Antwort vor. Je nach Betrachtungswinkel kann die Antwort auf eine Frage völlig unterschiedlich ausfallen.“

Jeremiah atmete hörbar aus. Das ganze Szenario, die Unterhaltung ging ihm auf die Nerven.

„Was wollten Sie mir zeigen?“

Für einen Moment hielt der Archivar inne, als würde er seine Entscheidung nochmals überdenken. Jeremiah machte sich bereits darauf gefasst, dass er ihn bitten würde, das Haus zu verlassen. Aber soweit würde er es nicht kommen lassen. Nicht, bevor er die Antworten auf seine Fragen erhalten hatte.

„In Ordnung. Folgen Sie mir bitte.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich der Archivar von Jeremiah ab und trat in das Zimmer, das direkt vor ihnen lag.

Der Raum ist genauso spärlich beleuchtet wie der Hausgang. Die Wände sind alle mit Bücherregalen vollgestellt. Unzählige Bücher, alle in einem Ledereinband, in unterschiedlichen Größen und Umfang befinden sich dicht zusammengedrängt darin. Jeremiah versucht zu schätzen, um wie viele Bücher es sich handeln könnte. Es müssen um die Tausend sein. Der Anblick lässt Schwindel in ihm aufkommen.

„Faszinierend, nicht wahr? So viele verschiedene, ganz unterschiedliche Schicksale vereint. Und jedes einzelne für sich so komplex und verwoben, dass man sich darin verlieren könnte.“

Jeremiahs Blick wandert über die Regale und plötzlich stutzt er. Er kann die Zimmerdecke nicht sehen. Die Lichtverhältnisse sind so schlecht, dass kein Lichtstrahl bis zur Decke reicht. Das Ende der Regale bleibt im Verborgenen und für einen kurzen Augenblick glaubt er an eine optische Täuschung, als würde sich der Raum unendlich in die Höhe erstrecken.

„Kommen Sie, es gibt noch mehr.“

Irritiert wendet er seinen Blick von der nicht sichtbaren Decke des Raumes ab und folgt dem alten Mann. Er verspürt den Drang, wahllos Bücher aus den Regalen zu ziehen, darin zu blättern, darin zu lesen und die enthaltenen Geheimnisse zu erfahren. Er war nie ein Mann, der sich groß für das Leben anderer Menschen interessierte, mit Ausnahme seiner Familie und der Verbrecher, die er jagte. Eine in sich geschlossene Welt mit ihren eigenen Regeln und der Möglichkeit, die sich darin bewegenden Eindrücke, Bilder und Emotionen zur Not zur Seite zu drängen, um sich vor deren soghaften, unkontrollierten Wirkung auf den eigenen Geist zu schützen. In dem Zimmer jedoch ist der Wunsch, das Leben anderer Menschen zu erblicken, darin zu versinken, aus sicherer Entfernung ihre Geheimnisse, ihre Wünschen und Laster zu erfahren, immens.

Nur mühsam kann er sich von den Büchern abwenden. Der alte Mann führt ihn durch weitere große Zimmer, nicht fassbar in ihren Dimensionen, sich weigernd, ihm ihre Grenzen darzubieten. In all den Räumen findet er die gleiche Situation vor. Regale vollgestellt mit den Leben anderer. Von jedem Zimmer führen drei Türen in weitere Zimmer. Jeremiahs Verstand teilt ihm mit, dass dies nicht möglich sein kann, dass die Ausmaße des Hauses nicht zu dem Anblick der Hausfassade passen. Und dennoch folgt er dem Mann immer weiter, immer tiefer in das Haus hinein und verliert mit jedem weiteren Zimmer mehr und mehr die Orientierung. Der Archivar hingegen bewegt sich völlig sicher und vertraut durch die Räume, als würde er einem bestimmten Ziel entgegengehen.

Sie kommen in einen Raum, der nur aus dem Eingang und einer gegenüberliegenden Tür besteht. Der alte Mann bleibt stehen und betrachtet die Tür. Jeremiah muss neben ihn treten, um den Ausdruck in den Augen des Archivars zu erkennen. Ein nachdenklicher, angespannter und zugleich müder Blick. Etwas scheint sich hinter der Tür zu verbergen, das anders ist, als in den restlichen Räumen.

„Warum gehen wir nicht weiter?“

Es dauert einen kurzen Augenblick, bis der Archivar auf seine Frage reagiert, noch immer in seinen Überlegungen versunken.

„Sie sind noch nicht bereit hierfür.“

„Wofür? Was ist hinter der Tür?“

Er erhält keine Antwort. Stattdessen betrachtet ihn der alte Mann mit einer Mischung aus Traurigkeit und Mitleid und Jeremiah spürt, dass das, was auch immer sich hinter der Tür verbirgt, etwas mit ihm zu tun hat.

„Zeigen Sie es mir.“

„Noch nicht. Es ist zu früh.“

„Lassen Sie mich das selbst entscheiden.“

„Nein. Noch nicht.“

Mit fester, bestimmter Stimme gibt ihm der Archivar zu verstehen, dass hier der Weg vorerst endet. Für einen kurzen Moment überlegt Jeremiah, sich das Wissen mit Gewalt zu nehmen. Seine Hand klammert sich um seine Waffe. Er ringt mit seiner Wut, seiner Neugier und seinen verletzten Gefühlen, dass ihn ein alter Mann in seine Schranken weist, wo er doch derjenige sein sollte, der Grenzen aufzeigt und Freiräume zulässt.

„Ich werde Ihnen etwas anderes zeigen. Danach werden wir sehen, ob Sie bereit sind.“

Er möchte protestieren und sich nehmen, was er will. Bevor er reagieren kann, wendet sich der Archivar ab und verlässt den Raum. Für einen Moment zögert Jeremiah, überlegt, einfach stehen zu bleiben und die Tür zu öffnen. Er wendet sich ihr zu. Sie ist einfach und schlicht gehalten. Das Holz wirkt alt und gebraucht. Diverse Kratzer durchziehen die Tür. Es scheint so einfach. Nur ein Griff und sie wäre offen. Nur ein Griff und er wüsste, was sich dahinter verbirgt.

„Tun Sie es nicht. Sie würden es bereuen.“

Und wieder hat er ihn nicht kommen gehört. Langsam dreht er sich zu dem Archivar, der abwartend am Eingang zum gegenüberliegenden Raum steht.

„Wer schreibt all diese Bücher?“

Er muss es wissen, um seine Fragen zu beantworten, um zu verstehen, was er gerade erlebt, um auszuschließen, dass er langsam, aber sicher den Verstand verliert.

„Das Leben. Mit all seinen Facetten, seinen Abzweigungen und verschlungenen Wegen. Jeden Tag werden Bücher beendet, jeden Tag neue Bücher begonnen. Ein Archiv des Lebens, der Gefühle, der menschlichen Natur.“

„Das war nicht meine Frage. Wer ist oder wer sind die Autoren?“

Statt eine Antwort zu geben, wendet sich der alte Mann von ihm ab und winkt in sanft zu sich.

„Kommen Sie. Wir sind noch nicht am Ende … vielmehr sind wir erst am Anfang.“

„Am Anfang wovon?“

„Der Erkenntnis und dem Wissen, das Schicksal von so vielen zu verändern.“

„Zum Guten oder zum Bösen?“

Der Archivar hält inne, überlegt und blickt ihn mit einem Funkeln in seinen Augen an.

„Das entscheiden allein Sie.“

In diesem Moment hat er das Feuer in Jeremiah entfacht. Nur ein kleiner Funke, um es langsam, aber stetig zum Brennen zu bringen. Jeremiah ist es noch nicht bewusst, nehmen ihn doch die Eindrücke, die auf ihn einstürmen zu sehr ein, als dass er erkennt, was mit ihm geschieht.

Der alte Mann wandert in ein nahgelegenes Zimmer, geht ganz bewusst auf ein Regal auf der rechten Seite des Raumes zu. Er lässt seinen Blick über die Bücherrücken wandern, dann zieht er eines hervor, streicht sanft mit seinen Fingern über dessen Einband und reicht es Jeremiah.

„Lesen und entscheiden Sie. Danach werden wir weitersehen.“

Vorsichtig nimmt Jeremiah das Buch entgegen. Von außen ähnelt es seinem Buch. Ledereinband, dünne Seiten, die Schrift klein und eng zusammengezogen, um den Platz möglichst umfassend zu nutzen.

Er blättert wahllos in den Seiten, liest ein paar wenige Absätze und spürt die alte Energie, die Wut und den Wunsch zu handeln in sich aufsteigen.

„Lebt er noch?“

Der alte Mann nickt ihm sanft zu. „Das Buch ist noch nicht zu Ende, aber es benötigt eines.“

„Was ist mit meinem?“

„Sie schreiben Ihr Ende selbst, so wie jeder andere auch. Nur Sie haben das Geschenk erhalten, einen Blick dahinter zu erhalten.“

„Warum? Was wollen Sie von mir?“

Der Archivar bewegt sich langsam auf die Bücherregale zu, seine Finger streichen sanft über die Bücherrücken, als wären sie am Leben und könnten seine Zärtlichkeiten spüren.

„Sie nehmen eine besondere Position in dem Schicksal einer Vielzahl von Menschen ein und mir ist wichtig, dass Sie das wissen, bevor Sie handeln.“

Leere, das ist es, was Jeremiah in diesem Moment verspürt. Eine endlose Leere. Er hört die Worte des Archivars, doch er kann sie nicht verstehen. Er ahnt, dass die Bedeutung dahinter größer ist, als er es jetzt erfassen kann oder möchte. Aber wenn das, was in dem Buch steht, der Wahrheit entspricht, nimmt er die Unwissenheit, die offenen Fragen vorerst in Kauf. Je mehr er in diese Welt dringt, desto besser wird er sie verstehen und für sich nutzen lernen.

„Gibt es noch andere?“ Er deutet auf das Buch in seinen Händen.

„Oh, ja, mehr als genug. Und Sie werden sie erhalten. Ich verspreche es Ihnen.“

Der Archivar der Seelen

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