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„Haben Sie so etwas schon mal gesehen?“

Jeremiah hat bereits viel in seinem Leben gesehen. Er fühlt sich müde und ausgelaugt. Seine Kraftreserven füllen sich nicht mehr so schnell und vollständig auf wie früher. Nicht, dass ihn all die Grausamkeit und Brutalität der menschlichen Natur in den Jahren zuvor unberührt gelassen hätte. Aber über die Jahre stellte sich bei ihm ein gewisser Sättigungseffekt ein. Und das, obwohl er den Eindruck hat, dass sich die Gewalt, die angewandte Brutalität und Abnormität in letzter Zeit verstärkt hatte. Als würde sich die Spirale der Kriminalität immer schneller drehen, immer weiter außer Kontrolle geraten und er macht sich Sorgen, wie es wohl enden wird. Insbesondere wenn er nicht mehr aktiv dabei sein kann, um dagegen vorzugehen. Es sind nur noch wenige Monate bis zu seiner Rente.

„Ich hätte vorher nichts essen sollen. Schade um das Sandwich.“

Irritiert betrachtet er seinen Kollegen, der neben ihm steht und mit bleichem Gesicht auf die Leiche vor ihnen blickt. Manchmal stellt er sich die Frage, was jeden Einzelnen von ihnen dazu bewegt, diesen Job auszuüben. Er selbst verspürt weiterhin, wenn auch schwächer als in seinen jungen Jahren, den Drang, gegen die Bösartigkeit dieser Welt vorzugehen, sie aufzuhalten und ihr ihre gerechten Strafe zuzufügen. Es ist eine Art Feuer, das in ihm brennt. Der Drang, einen Ausgleich zu schaffen. Egal mit welchen Mitteln.

Sie blicken auf die Nachahmung einer Kreuzigung. Der Mann ist nackt mit Ausnahme eines weißen Tuches, das um seine Hüften gebunden ist und sein Glied verdeckt. Mit teilnahmsloser Miene betrachtet Jeremiah das Werk. Die Dornenkrone, die fest auf den Kopf des Mannes sitzt und tiefe Blutspuren hinterlassen hatte. Die Arme und Beine mit Nägeln an das provisorische, aus Holzbrettern geformte Kreuz festgeschlagen.

Genauso ungewöhnlich wie die Todesart des Opfers ist der Tatort. Sie stehen auf einer Berganhöhe umgeben von dichtem Wald, nur eine einzige Stelle ermöglicht den Blick hinab ins Tal. Ein malerischer Anblick. Ausschließlich Wälder, Berge und ein kleiner schmaler Fluss, der sanft durch die Schlucht fließt. Trotz der grausamen Umstände umgibt die Szenerie eine fast friedliche, trostvolle Stimmung.

Ein Wanderer, der neue Wege durch das Tal erkunden wollte und dabei vom Weg abgekommen war, stieß zufällig auf die Leiche. Sie würden später von der Gerichtsmedizin erfahren, dass die Leiche bereits seit Wochen hier hing. Der Körper war an mehreren Stellen durch Tiere verstümmelt worden. Sie würden sich später schwer mit der Identifizierung tun.

„Inspektor?“

Ein junger Polizist, bleich im Gesicht und noch immer unter Schock stehend, reicht ihm einen dreckigen, leicht zerrissenen Umschlag.

„Das war über dem Kopf des Mannes an dem Kreuz angebracht. Ich denke, es wird Sie interessieren.“

Er nimmt dem Mann den Umschlag aus der Hand. Jeremiah ist ein wortkarger Mann. Hart in seinen Ansichten, konsequent in seinem Handeln und ohne nach außen getragene Emotionen. Er hat seine Prinzipien, sein Wertesystem, das es ihm ermöglicht, fest mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Es ist seine Form von Berufskleidung. Über die Jahre wurde für ihn seine Haltung, seine Abgebrühtheit, so selbstverständlich, dass er mitleidig auf seine jungen Kollegen blickt. Seine Erinnerungen an seine ersten Jahre, an die Bilder, die Momente, die sich tief in seine Seele gruben und Narben hinterließen, verfälschten sich über die Zeit. Er weiß um ihre damalige Wirkung, aber er hat ein Bild von sich geschaffen, das ihn härter, bodenständiger und kälter zeigt, als er es damals tatsächlich war.

Emotionslos betrachtet er den braunen, durch das Wetter in Mitleidenschaft gezogenen Umschlag. Er ist mit Heftklammern verschlossen, um sicherzustellen, dass sein Inhalt nicht verloren geht. Kein Absender, kein Empfänger ist auf ihm angegeben und dennoch scheint die Botschaft darin an die Entdecker der Leiche gerichtet zu sein. Jeremiah reißt den Umschlag auf. Er denkt nicht über eine Spurensicherung oder andere Methoden nach, durch die sie Hinweise über dessen Ersteller erhalten könnten. Es spielt keine Rolle.

Er greift in den Umschlag und zieht ein kleines Notizbuch hervor. Er blättert darin. Es ist bis zur letzten Seite vollgeschrieben. Im schnellen Sichten der Notizen springen ihm Wörter wie „Bestechung“, „Drogen“ und „Sex“ entgegen. Es wirkt wie eine Ansammlung von Verbrechen und sie scheinen alle im Zusammenhang mit dem toten Mann am Kreuz zu stehen. Wortlos reicht er das Notizbuch seinem Kollegen, der es vorsichtig entgegennimmt und in einen eilig aus seiner Manteltasche gezogenen Plastikbeutel legt. Jeremiah wendet sich von ihm ab und nähert sich der Leiche. Er stellt sich direkt vor sie und fixiert sie mit einem angewiderten Blick. Nein, der Mann hat keine Vergebung für seine Sünden verdient.

Er empfindet kein Mitleid, nur Verachtung.

Der Archivar der Seelen

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