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Langsam schließt er das Notizbuch. Die Büroräumlichkeiten sind alle leer. Es ist spät am Abend und niemand ist mehr da. Entweder seine Kollegen sind nach Hause gegangen und verbringen die Abende mit ihren Familien, Freunden oder mit sich selbst oder sie sind draußen auf den Straßen, um etwas gegen die zunehmende Gewalt und Rücksichtslosigkeit zu unternehmen.

Er konnte es seinem Kollegen nicht sagen, aber die Inhalte des Buches hatten ihn zutiefst verstört. Jeremiah tat sich schwer, seinen Schutzpanzer auch gegenüber seinen Kollegen zu öffnen. Er nutzte ihn, um sich von der gesamten Welt abzuschotten. Er hatte ihn nicht bewusst aufgebaut. Stattdessen wuchs er über die Jahre und verfestigte sich immer mehr, bis er nicht mehr ohne ihn auskam und sie eine stille Symbiose eingingen.

Auf über 100 Seiten werden in dem kleinen Buch Verbrechen jeglicher Art aufgeführt. Kindesmissbrauch ist nur eines davon. Es reicht von Betrug, Bestechung, Drogenkonsum bis hin zur Vergewaltigung und Gewaltanwendungen verschiedenster Art. Die letzten Seiten des Buches erklärten den ganzen Sinn der Aufzählungen. Laut den Zeilen des Verfassers waren dies all die Taten, die der Mann auf dem Kreuz über die Jahre begangen hatte. Nicht weil er als Verbrecher agieren wollte, sondern weil er seinen Bedürfnissen, seiner Neugier und seiner Faszination für das Verbotene und Böse nachging. Er hatte alles ausprobiert, jede rote Linie überschritten. Doch dann geschah etwas und das Buch gibt hierzu keinen Hinweis, welches Ereignis den Wandel auslöste. Einzig die Tonart der Erzählungen verändert sich, wird einsichtiger und offener. An der ein oder anderen Stelle scheint der Verfasser so emotional ergriffen, dass sich das Schriftbild sogar ein wenig ändert. Die Buchstaben stehen enger, alles wirkt gehetzter und unter mehr Druck verfasst.

Der Mann hielt inne, blickte zurück und betrachtete seine Handlungen, seine brutale Schneise, die er durch sein eigenes Leben und das vieler anderer gezogen hatte. Was er sah, entsetzte ihn, ließ ihn tief erschüttert zurück und Angst erfasste ihn. Angst, dass er am Ende für all seine Taten zu zahlen hatte. Nicht der Preis auf dieser Welt ängstigte ihn. Stattdessen fürchtete er, was immer nach dem Tod kam. Und so entschloss er sich, für seine Sünden zu büßen. Und wie in all seinen Handlungen zuvor, überzog er maßlos. Aus einer religiösen Wahnvorstellung heraus kam er zu dem Schluss, dass er sich wie Jesus mit seiner Kreuzigung wieder rein von seinen Sünden waschen könne. Auf den letzten drei Seiten beschreibt der Autor, wie er über das Internet Menschen fand, die gegen Bezahlung seine Kreuzigung vollzogen. Das Werk des Grauens endet mit den Worten: „Herr, verzeih mir.“

Jeremiah greift, wie so oft an diesem Tag, in seine Schublade, in der die Packung Kekse liegt. Nur noch einer ist übrig. Jeremiah atmet tief durch, versucht, die Inhalte des Buches zu verdrängen. Es gelingt ihm nicht und missmutig isst er seinen letzten Keks. In seinem Kopf formen sich Bilder, entstanden durch die Schilderungen in dem Buch. Bilder, die ihn verstören, ihn erschrecken und permanent auf seinen Schutzpanzer schlagen und tiefe Furchen darin hinterlassen. Wie so oft stellt er sich die Frage, was die Ursache für all die Bösartigkeit der Menschheit ist. Neid? Missgunst? In diesem Fall scheint es nicht so. Der Täter, Jeremiah kann den Mann an dem Kreuz nicht als Opfer ansehen, arbeitete als Investment-Broker und hatte genügend Geld, vielleicht sogar zu viel Geld zur Verfügung.

Wenn der Neid oder ein mangelndes Selbstwertgefühl nicht in Frage kommt, was bleibt dann übrig? Was ist der Kern dieses Antriebes? Die Grenzen auszuloten, den niederen Trieben freien Lauf zu lassen und andere dabei zum eigenen Vergnügen leiden zu lassen? Rein der Wunsch, Macht zu verspüren oder sie zu erhalten? Oder liegt der Grund tiefer? Eine Quelle des Bösen, das sich windet, sich durch die negativen Prägungen eines Jeden zieht und danach giert, alles für sich zu vereinnahmen?

Jeremiah konnte die Frage bisher nicht für sich beantworten. Er glaubt nicht an eine übernatürliche Kraft, die alles umgibt. Die Schlussfolgerung wäre, dass es beide Seiten geben müsste, als ausgleichendes Element des jeweils anderen. Doch in seinem bisherigen Lebensverlauf hat er mehr dunkle, verdorbene Seiten gesehen als die guten, befreienden. Ihm ist bewusst, dass seine Perspektive aufgrund seines Berufes verschoben ist. Er selbst sieht sich als atomares Teilchen in einem Gesamtapparat, dessen Aufgabe es ist, unermüdlich daran zu arbeiten, dass die Welt nicht völlig in der Dunkelheit vergeht und dass ein Ausgleich zu all der Kriminalität geschaffen wird. Er sieht darin nichts Romantisches, nichts Verklärtes. Sein Blick auf die Welt ist verbittert, von Skepsis und Misstrauen durchzogen. Eine Sicht, die ihn über all die Jahre am Leben gehalten hat.

Müde blickt er sich um, lauscht in die Stille. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Dort wird niemand auf ihn warten. Er wird sich ein, zwei Brote schmieren, stumm dasitzen, die Nachrichten im Fernsehen verfolgen und dann ins Bett gehen, das Licht löschen, die Augen schließen und versuchen, die Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen.

Er steht auf, zieht seinen Mantel an und steckt seine Dienstwaffe ein. In all den Jahren hat er die Waffe mehrfach benutzt. Manchmal versagt die Justiz, schafft es nicht, den Umfang des Verbrechens in seiner Gänze zu erfassen und die Tragweite davon in einer Gefängnisstrafe auszudrücken. Manchmal war das Verhältnis zwischen Straftat und Strafe in so einem großen Ungleichgewicht, dass Jeremiah nicht anders konnte, als in seinen Augen das Gleichgewicht wiederherzustellen. Die Täter, die er verfolgte, überlebten seine Jagd nicht. Er handelte dabei stets allein, zog nie einen Kollegen mit in seine moralische Entscheidung hinein. Stattdessen bewertete er jeden Fall für sich, wog die Schwere der Tat mit dem möglichen Strafmaß ab und traf eine Entscheidung. Jede dieser Exekutionen drang sowohl durch seinen Schutzpanzer und verstärkte zugleich seine Schicht. Er verspürt keine Reue, keine Gewissensbisse. In seinen Augen traf er immer die richtige Entscheidung.

Das erste Mal, dass er einen Mann ermordete, lag bereits dreißig Jahre zurück. Der Mann hatte drei Familien getötet. Er hatte sie nachts in ihren Häusern aufgesucht, zuerst die Kinder vor den Augen der Eltern ermordet, dann die Frau und am Ende den Ehemann. Dabei erschoss er sie nicht oder erlöste sie in einer schnellen Form von ihrem Leid, sondern er ließ sich die ganze Nacht Zeit und zog den Tod jedes einzelnen von ihnen auf unerträgliche Weise heraus. Nach vier Monaten der Ermittlung hatte Jeremiah ihn aufgespürt. Es war ein äußerlich unscheinbar wirkender Mann. Alleinstehend, Mitte dreißig, arbeitete als Kreditsachbearbeiter in einer Bank. Jeremiah war klar, dass der Mann als geistig unzurechnungsfähig eingestuft und maximal in eine Sicherheitsverwahrung für den Rest seines Lebens gesteckt würde. Freie Kost und Unterbringung auf Kosten des Staates, ein geordnetes Leben, einzig begrenzt durch einen Freiheitsentzug, den, nach Einschätzung von Jeremiah, der Mann sowieso nicht empfinden würde, war doch seine Wahrnehmung der Realität eine ganz andere.

Es war die Kaltblütigkeit verbunden mit der rücksichtslosen Gewalt, die etwas tief in Jeremiah auslöste. Die Verbrechen fanden zudem in einer Zeit statt, in der er emotional zutiefst verunsichert war. Etwas verfestigte sich in seinem Kopf. Der Wunsch, für Gerechtigkeit zu sorgen, einen Ausgleich für das zu schaffen, was zuvor den Kindern und ihren Eltern angetan worden war. Anfangs schob er den Wunsch, den Drang zur Seite, erschrocken über die Wucht, die ihn mitriss. Eine nicht in Worte zu fassender Wut, die besänftigt werden wollte. Den einzigen Ausweg, den er hierfür sah, war der Tod des Täters.

Er verfolgte ihn über mehrere Wochen, lernte seinen Tagesablauf, seine Gewohnheiten, seine Rituale. Und mit jedem Tag, den er ihn begleitete, mit jeder normalen Handlung, jedem alltäglichen Wesenszug, wuchs seine Wut und sein Hass auf den Mann, hatte er doch all das den anderen genommen.

Als er sich seiner Gefühle sicher war, schlug er zu. Er überwältigte den Mann, als er von der Arbeit an einem Freitagabend nach Hause kam. Er hatte das ganze Wochenende, niemand würde auf den Mann warten, niemand würde ihn vermissen. Der Mann hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Jeremiah kam über ihn mit flammender Wut. Er schlug ihn brutal nieder, immer und immer wieder hieben seine Fäuste auf das Gesicht des Mannes ein, bis dieser bewusstlos vor ihm lag. Dann fesselte Jeremiah ihn an sein Bett und wartete.

Langsam kam der Mann zu Bewusstsein und hoffte, schnell sterben zu können. Doch Jeremiah ließ ihn leiden. Er gab ihm all die Schmerzen, die er seinen Opfern zugefügt hatte, und ließ ihn wissen, dass er für all seine Taten bezahlte. Er handelte wie im Rausch, ließ all seine unterdrückte Wut an ihm aus. Immer wieder verlor der Mann sein Bewusstsein und Jeremiah holte ihn zurück. Er schenkte ihm keine Gnade. Nach mehreren Stunden beendete Jeremiah es schließlich mit einem Kopfschuss.

Es war sein erster, aber nicht sein letzter Mord. In seiner Welt schuf er Gerechtigkeit und lebte mit der Last, die diese Entscheidung mit sich brachte. Er konnte es nicht einfach wegstecken, sondern vergrub es tief in seinem Inneren und über die Jahre wuchs in ihm ein verzerrter Klumpen bestehend aus Wut, Hass und Gewalt. Mit jedem Mord verschaffte er sich ein Ventil, um die aufgestauten Emotionen, den Druck für einen Augenblick loszulassen, nur um anschließend diesen durch die Tat noch weiter zu erhöhen. Es war ein Kreislauf, aus dem er nicht mehr ausbrechen konnte und irgendwann auch nicht mehr wollte.

So ging er die Jahre über auf die Jagd. Er stellte keine Kriterien auf, nach denen er entschied, wer von den Tätern durch seine Hand sterben würde. Seine Auswahl war rein durch seine Intuition begründet. Ähnlich verhielt es sich mit der Art der Mordwerkzeuge. Nur in einem war er der festen Überzeugung. Es durfte kein leichter, kein schneller Tod sein, hatten doch diese Menschen in seinen Augen jegliches Recht auf Gnade verwirkt. In all den Jahren unterlief ihm nur selten ein Fehler und deshalb wurde die Situation für ihn nie gefährlich. Er entwickelte eine Art Routine, wie er unbemerkt die Menschen zur Rechenschaft zog. Als Leiter der Ermittlungen hatte er genügend Möglichkeiten, um die Realität so zu verändern, dass am Ende der Täter selbst ein Opfer wurde. Ihm war klar, dass niemand ein großes Interesse hatte, den Grund für den Tod des Täters zu erfahren. Die meisten waren im Grunde froh, dass sie sich mit solch einem Monstrum nicht weiter zu beschäftigen hatten, ohne zu ahnen, dass eben solch ein Monstrum ihnen gegenübersaß und ihnen die Botschaft über den Tod des Verdächtigen mitteilte.

Je länger er seinen Kreuzzug gegen die habgierigen, neidischen und grausamen Seiten der Menschheit vollzog, desto abgehärteter wurde er. Es kam der Moment, in dem ihm die Hinrichtung nicht mehr den kurzen Seelenfrieden, die Bestätigung brachte, wie er es anfangs empfand. Er konnte es sich nicht erklären, hatte er doch nie gelernt, sich selbst zu reflektieren oder sich kritisch zu hinterfragen. In seiner Welt war er grundsätzlich im Recht, stand er doch auf der guten Seite. Er erhöhte den Grad der Gewalt, die er anwandte. Doch auch wenn ihm der Anblick des Entsetzens, des Leidens und der Verlust des Verstandes seiner Opfer eine grimmige Befriedigung verschaffte, war diese nur von kurzer Dauer. Stur setzte er sein Werk fort, vollzog es mit eiserner Disziplin und doch wurde in den letzten Jahren seine Auswahl kleiner. Vielleicht hatte er zu viel gesehen, vielleicht konnte ihn nicht mehr viel berühren. Vielleicht wurde er aber auch des Ganzen müde und spürte langsam das Alter. In stillen Momenten, wenn er im Dunkeln seiner Wohnung saß, aus dem Fenster starrte und keinen Schlaf fand, verspürte er die Sehnsucht nach der früher in ihm stark lodernden Wut, der Kraft, die mit ihr kam und die durch seine Adern floss, das Gefühl, in das Gleichgewicht der Welt einzugreifen.

Er blickt auf die Uhr, löscht das Licht seiner Schreibtischlampe und macht sich auf den Weg nach Hause. Er will noch den letzten Bus erwischen, ansonsten muss er den ganzen Weg zu Fuß gehen und dazu fehlt ihm der Antrieb, die notwendige Energie. Er verflucht sein Alter, seinen langsam in sich zusammenfallenden Körper, der ihn immer wieder mit kleinen Schmerzen an allen möglichen Stellen quält.

Was gäbe er dafür, die alte Stärke wieder zu verspüren.

Der Archivar der Seelen

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