Читать книгу Der Archivar der Seelen - Soern Pohl - Страница 14

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Er fühlt sich fremd und fehl am Platz.

Trotz seiner Familie um ihn herum, seiner Schwiegertochter und seiner beiden Enkel. Einzig die Anwesenheit seines Sohnes gibt ihm ein vertrautes Gefühl von Zugehörigkeit. Jeremiah blickt um sich, verfolgt die Unterhaltung am Tisch, ohne wirklich die Inhalte zur Kenntnis zu nehmen. Als würde die ganze Szenerie wie ein lautloser Film an ihm vorbeiziehen.

Die Treffen verlaufen immer gleich. Ein gemeinsames Mittagessen, die Kinder erzählen von ihrer Schule, seine Schwiegertochter Kathrin sorgt dafür, dass alles seinen geordneten Lauf nimmt, während Michael mit wohlwollendem und zugleich strengem Blick die Geschehnisse verfolgt und darauf achtet, dass sich alle benehmen und es seinem Vater an nichts mangelt. Jeremiah findet an der Rollenverteilung nichts Falsches. Im Gegenteil, es spiegelt seine Idealvorstellung einer Familie wider. Ein starker Mann, eine treusorgende Frau und anständige Kinder.

Und dennoch passt er hier nicht hinein.

Seine Rolle des fürsorglichen Großvaters, der geduldig und aufgrund seiner Lebenserfahrung nachsichtig die Familie begleitet, ist nicht die seine. Ihn interessieren nicht die Spiele, die Filme oder welche Themen sonst aktuell seine Enkel beschäftigen. Er konnte noch nie gut mit Kindern umgehen. Er fand keinen Bezug zu ihnen, keine Grundlage für einen Austausch. Somit ging er den meisten Kindern aus dem Weg. Doch hier hat er nicht die Möglichkeit dazu. Er verfolgt die Bewegungen von Kathrin, wenn sie ihre Hand sanft auf den Arm ihres Sohnes legt, um seinen Enthusiasmus und seine an Lautstärke gewinnende Stimme zu beruhigen. Ihr sanftes, verständnisvolles Lächeln, wenn ihre Tochter ein Erlebnis aus der Schule erzählt und ihr zurückhaltender Blick, wenn Michael spricht. Genauso sieht er ihren Blick, wenn sie sich für einen Moment unbeobachtet fühlt, ihre Fassade für einen Moment verschwindet und ihr Blick ins Leere geht, während sie ihr Essen vor sich betrachtet. Er sieht ihre Müdigkeit, ihre Traurigkeit und es berührt ihn nicht. Sie kann froh sein, einen Mann wie Michael zu haben. Welche Frau wäre das nicht.

Wenn Michael spricht, herrscht Stille. Er führt aus, erläutert und stellt fest. Seine Ausführungen sind kein Dialog, sondern Feststellungen, Regeln und Vorgaben, die es zu beachten und nicht anzuzweifeln gilt. Immer wieder ertappt sich Jeremiah dabei, wie er seinen Sohn dafür bewundert. Er ist der geborene Führer. Im Privat- sowie im Berufsleben. Und er ist sein Sohn. Jeremiah verspürt Stolz. Sowohl für seinen Sohn als auch für sich selbst, ist er es doch, der seinen Sohn geformt, der seinen Sohn zu dem Mann gemacht hat, der heute vor ihm sitzt.

„Wie lange wirst du noch arbeiten?“

Jeremiah spürt ihre erwartungsvollen Blicke. Langsam zieht sich der Mantel der Lautlosigkeit und Distanz zurück und plötzlich ist er mitten im Geschehen. Er schneidet sich ein Stück von seinem Fleisch ab, gewinnt Zeit, um seine Antwort zu formulieren. Ein Thema, das er lieber vermeiden möchte. Alle schweigen, warten höflich darauf, dass er antwortet. Er lässt sich Zeit. Nicht, weil er nach einer Antwort sucht, sondern weil er nicht antworten möchte.

Michael erkennt, dass er die falsche Frage gestellt hat. Das Schweigen wird mit jeder Sekunde belastender und er sucht einen Ausweg.

„Das Essen ist heute wieder ausgezeichnet. Ich hoffe, es schmeckt dir.“

Ein holpriger Versuch, die Situation zu retten, aber alle spielen mit, selbst Jeremiah.

„Ja, danke. Es könnte nicht besser sein.“

Sein Blick ist weiterhin auf seinen Teller gerichtet und stumm isst er weiter. Er spürt die Erwartung, das Warten auf seine Beteiligung an der Gemeinschaft, aber etwas tief in ihm drinnen sträubt sich. Er will kein Teil sein, er will in seiner Welt verbleiben und einfach nur in Ruhe gelassen werden.

„Möchtest du noch einen kleinen Nachschlag?“

Ein schüchterner Versuch seiner Schwiegertochter, sich in das Gespräch einzubringen. Kurz blickt sie zu ihrem Mann, sucht die Bestätigung für ihr Handeln. Michael gibt ihr mit einem regungslosen Gesichtsausdruck sein Einverständnis. Er ist der Herr der Zusammenkunft, des gemeinsamen Essens … ihres Lebens.

Jeremiah kaut weiter, nimmt einen Schluck von seinem Wasser und schüttelt leicht den Kopf. Er will das Essen nur hinter sich bringen und wieder nach Hause gehen. Aber er weiß, er kann nicht einfach aufbrechen, ohne sich ein wenig an einer Konversation zu beteiligen. Er macht dies Michael zuliebe. Er will ihn nicht enttäuschen.

„Wie läuft es bei dir?“

Ein kleines Lächeln zieht über Michaels Lippen. Er genießt es, aus seinem Berufsleben zu erzählen, sich darzustellen, mit Stolz davon zu berichten, welchen Einfluss er auf die Welt nimmt. Es gibt Tage, wenn er alleine in seinem Büro sitzt, kein Telefon klingelt, keine Mails auf ihn einströmen, da kann er es kaum glauben. Ein Junge aus einfachsten Verhältnissen entwickelte sich über die Jahre zu einem der einflussreichsten und mächtigsten Männer des Landes. Und er hat nicht vor, seinen Aufstieg zu beenden. Im Gegenteil, jetzt beginnt erst seine eigentliche Erfolgsgeschichte.

„Ich kann nicht klagen. Alles verläuft wie geplant.“

Er gibt sich bescheiden, dankbar und demütig. Eine Fassade, die er über die Jahre aufgebaut hat, um nach oben zu steigen. Tief in ihm drinnen lodert der Ehrgeiz, die Gier nach Einfluss, Kontrolle und Macht. Und seine Gier ist noch lange nicht gestillt. Sein Stolz auf seine Leistungen ist so groß, dass es ihm manchmal schwerfällt, die Fassade am Leben zu halten. Aber er weiß, als Staatsmann, insbesondere in Wahlkampfzeiten, hat er auf jede Regung, jede Äußerung, jedes Verhalten zu achten. Alles wird interpretiert, für oder gegen ihn verwendet. Und so spielt er selbst in seiner Familie seine Rolle perfekt.

„Deine Umfragewerte sind gut. Du kannst stolz sein.“

Jeremiah verfolgt in Wahrheit die Umfragen nur unregelmäßig. Politik interessiert ihn nicht, die einzige Ausnahme ist das Schicksal seines Sohns. Für ihn sind alle Parteien gleich, die Aussagen sind verwaschen und wenig konkret, ihre Haltbarkeit äußerst begrenzt. Er kann noch nicht mal sagen, was die Inhalte von Michaels Programm sind.

„Ja, es geht stetig bergauf. Aber noch ist das Rennen nicht gewonnen. Es stehen noch ein paar intensive Wochen bevor.“

„Du packst das. So wie du immer alles gepackt hast.“

Nur Vater und Sohn unterhalten sich. Alle anderen Teilnehmer sind nur Beiwerk, um das Bild eines erfüllten Familienlebens zu zeichnen. Jedem am Tisch ist es bewusst und jeder verarbeitet es auf seine eigene Art. Während Kathrin sich in sich selbst zurückzieht und versucht, ihre Rolle zur Zufriedenheit, sowohl ihres Mannes als auch ihres Schwiegervaters, zu spielen, versuchen die Kinder, ihre Grenzen auszuloten, Aufmerksamkeit zu bekommen und sich ihre Position in dem nicht ausgesprochenen und doch existenten Machtgefüge zu erarbeiten. Doch Michael gibt ihnen nur begrenzten Spielraum. Sobald er den Eindruck gewinnt, dass die Fassade zu bröckeln beginnt, er die Kontrolle darüber verlieren könnte, handelt er mit starker, unnachgiebiger Hand. Sein Tonfall, sein Blick, seine gesamte Körperhaltung ändert sich schlagartig und es ist fast körperlich spürbar, wie stark und bestimmend seine Präsenz den gesamten Raum einnimmt. Seine Kinder beginnen langsam die Muster zu erkennen, die Situationen und die darin befindlichen Freiheitsgrade besser zu deuten und sich dahingehend anzupassen. Und auch wenn sie in diesem Moment spüren, dass ihr Vater gelöst und entspannt wirkt und sie somit etwas mehr aus sich herausgehen dürfen als sonst üblich, agieren sie, wie ihre Mutter, vorsichtig. Ihnen ist wohl bewusst, dass die Stimmung, die gönnerhafte Haltung ihres Vaters nur für einen kurzen Moment halten kann. Die kleinste falsche Äußerung oder Bewegung kann das fragile Gefüge von einem Moment auf den anderen verändern und für sie alle zur Belastung werden lassen, die sie am Ende teuer bezahlen. Verstärkt wird ihre Vorsicht durch die Anwesenheit ihres Großvaters. Denn vor ihm möchte ihr Vater glänzen, ihn stolz machen und ihm stetig beweisen, zu welchen außergewöhnlichen Leistungen er fähig ist. Und dies in allen Rollen seines Lebens. Sei es als Politiker, Ehemann oder Vater.

Sie verhalten sich alle still und sprechen nur dann, wenn sie dazu aufgefordert werden. Ein einstudiertes Ritual, mit Stichwörtern, die als Signal dienen, wer nun in der Konversation seinen Beitrag leisten darf. Kathrin erzählt über die Schulleistungen der Kinder, ihre Alltagssorgen und über ihre Eltern, die Jeremiah kaum kennt und auch nicht weiter kennenlernen möchte. Es liegt nicht daran, dass sie ihm unsympathisch sind, aber genauso wenig, wie er einen Zugang zu der Familie seines Sohnes findet, hat er eine Verbindung zu seinem entfernteren Verwandten- und Bekanntenkreis.

Die Kinder erhalten kleine Momente, in denen sie über Ereignisse in der Schule oder mit Freunden erzählen können. Keine Fragen, keine langen Ausführungen. Kurze Einwürfe, die einzig zur Erheiterung dienen. Die ernsthaften Themen, sofern der Bedarf hierfür besteht, werden ausschließlich zwischen Vater und Sohn beim anschließenden Kaffee auf der Terrasse besprochen. Jeremiah und Michael bilden eine über die Jahre eng verschweißte Einheit, zu der niemand einen Zugang erhält.

„Du wirst gewinnen.“

Das Essen ist beendet. Jeremiah und Michael stehen auf der Terrasse und blicken auf den großen Garten und den daran angrenzenden See.

„Ich hoffe es. Ich habe so viel investiert. So viel Arbeit und Zeit dafür verwendet. Ich muss gewinnen. Und dann beginnen die großen Veränderungen.“

Jeremiah ist sich nicht sicher, ob Michael zu ihm oder zu sich selbst spricht. Ihre Unterhaltungen sind meist knapp und auf das Nötigste reduziert. Sie kennen es nicht anders und verspüren auch keinen Wunsch, es zu ändern. Jeremiah geht nicht weiter auf die Äußerung von Michael ein. Er kann und er will sich nicht über dessen politische Ziele unterhalten. Er vertraut ihm und damit ist das Thema für ihn beendet.

„Geht es dir gut? Du wirkst müde.“

Michael blickt seinen Vater an und hofft, dass er nicht zu tief mit seiner Frage in ihn dringt. Aber er macht sich Sorgen. Sein Vater ist in den letzten zwei Jahren deutlich gealtert. Es ist nicht das graue Haar oder die faltige Haut, die ihm Sorgen bereiten. Es ist die Müdigkeit, die er in den Blicken, in der Haltung seines Vaters erkennt.

Jeremiah blickt weiter stur auf den See und nimmt einen Schluck Kaffee.

„Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. Es war nur ein wenig anstrengend die letzten Wochen. Aber es wird wieder.“

Jeremiah denkt an das kleine Buch, das bei ihm zu Hause auf dem Nachttisch liegt. Es ist der Grund, warum er sich besser fühlt. Er hat wieder eine Aufgabe, ein Ziel, das es zu erreichen gilt. Und wenn er den Archivar richtig verstanden hat, wird es bei diesem einen Ziel nicht bleiben.

Michael geht nicht weiter darauf ein. Er weiß, dass sein Vater es hasst, wenn jemand versucht, in sein Innerstes vorzustoßen.

„Ich bin die nächsten Wochen ziemlich eingespannt mit dem Wahlkampf. Es wird daher schwer, dass wir uns treffen.“

„Das ist in Ordnung. Ich bin auch ziemlich beschäftigt. Wir holen das nach, wenn der Wahlkampf vorbei ist.“

Michael nickt zustimmend, ohne seinen Blick von seinem Garten abzuwenden. Alles ist gesagt, jeder von ihnen kann sich nun vollends auf seine Ziele konzentrieren.

Der Archivar der Seelen

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