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„Hängt dir das nicht irgendwann zum Hals hinaus?“

Jeremiah grummelt in sich hinein, während er mechanisch seine Rühreier mit Speck und Toast zum Frühstück isst. Jeder Morgen verläuft gleich. Zwei Tassen Kaffee, zwei Rühreier, Speck und Toast mit gesalzener Butter. Dieses Ritual benötigt er für den Start in den Tag. Es gibt ihm Stabilität und Halt für die Dinge, die er jeden Tag in seinem Beruf erblickt.

Doch alle zwei Wochen wird sein Frühstück aufgewertet. Dann verbringt er die Zeit mit seinem Sohn Michael. Es sind die Momente, in denen Jeremiah eine tiefe Ruhe in sich spürt. Die wenige Zeit, die sie mittlerweile miteinander teilen, bedingt durch seinen wie auch Michaels Beruf, ist für Jeremiah wertvoll. Auch wenn er es nie in Worte fassen kann oder konnte, er möchte diese kurzen Augenblicke nicht missen. Sie begannen die Treffen vor knapp fünfzehn Jahren. Michael studierte und war dabei, seine Karriere in der Politik aufzubauen. Er lebte bereits mit seiner späteren Frau Kathrin zusammen und sie begannen damit, Stück für Stück ihr gemeinsames Leben zu gestalten. Wie in allen anderen Familien auch, blieb daher wenig gemeinsame Zeit für die Eltern. Nicht, dass Jeremiah sich beschwerte. Ihm war bewusst, dass es der natürliche Lauf der Dinge war, dass sich das Kind von seiner Familie löste. Aber ihre Familie war zu klein, zu fest miteinander verwoben, als dass er Michael einfach ziehen lassen konnte oder wollte. Seit Michael fünf Jahre alt war, lebten nur er und Michael zusammen. Er hatte ihn großgezogen, ihn zu dem Mann gemacht, der jetzt vor ihm sitzt. Und Jeremiah ist stolz auf ihn, so stolz, wie man als Vater nur sein kann.

Sein Sohn hatte einen Lebensweg eingeschlagen, den Jeremiah nie erwartetet hätte. Bereits in seinen späten Teenager-Jahren entwickelte Michael ein starkes Interesse an den Geschehnissen in der Welt und insbesondere an der Politik. Ihn faszinierten die Möglichkeiten, weitreichende Veränderungen vorzunehmen, die Zukunft zu beeinflussen und zu gestalten. Nach dem Abschluss seiner schulischen Ausbildung traf er die Entscheidung, aktiv daran mitzuwirken. Er trat der damaligen Regierungspartei, der demokratischen Bündnis Partei, kurz DBP, bei. Sie war politisch in der konservativen Mitte angesiedelt, setzte auf Werte wie Familie, Loyalität und Stolz, sah die Wirtschaft als einen wesentlichen Erfolgsfaktor für das Wohlergehen der Gesellschaft an und war den Traditionen des Landes stark verbunden. Für viele bildete die Partei einen Anker in Zeiten, in denen täglich verstörende Nachrichten aus der ganzen Welt auf die Menschen einprasselten. Aufstände, Hungersnöte und Kriege. Terroranschläge und Wirtschaftskrisen. Regierungen, die unfähig erschienen, zu handeln, zu sehr miteinander verwoben und überfordert von der zunehmenden Komplexität der Welt. Michaels Partei hingegen beantwortete die Sorgen, Nöte und Ängste der Bevölkerung mit einfachen, plakativen Aussagen. Sie suggerierte klare Standpunkte mit einfachen Lösungen, verbunden mit einer Skepsis gegenüber den alten, etablierten Parteien, die nach ihrer Ansicht die Welt erst in dieses Chaos geführt hatten. Die Partei, der Michael beitrat, wuchs innerhalb kürzester Zeit von einer Protestbewegung zu einer Stimme des Volkes. Anfangs von den alten Parteien belächelt, mit zunehmendem Erfolg kritisiert und mit noch größerem Erfolg immer weiter akzeptiert. Nicht, weil man die gleichen Ideologien verfolgte, sondern allein aus dem Willen heraus, weiter an dem Machtgefüge teilzuhaben. Auch wenn hierzu eigene Ideale, eigene Werte in Teilen einem Kompromiss zum Opfer fielen.

Michael war fasziniert von der Aufbruchsstimmung, der Energie und der dadurch entstehenden Kraft der Bewegung. Früh schloss er sich der Partei an, lernte, formte und gestaltete den Erfolgsweg aktiv mit. Er investierte all seine Zeit, all seine Energie und stieg innerhalb kürzester Zeit auf. Natürlich gab es Veteranen aus dem politischen Leben, die als Gründer der Partei dienten, doch schnell war klar, dass es junge, enthusiastische Vertreter benötigte, um die Massen zu bewegen und zu begeistern. Und Michael gehörte zu ihnen. Er strahlte Jungendlichkeit, Engagement und zugleich Autorität aus und schuf damit Vertrauen. Auch wenn er noch kein klares Programm, keine große Vision, sondern nur Bruchstücke, nur Fragmente von Lösungen anbieten konnte, machte er doch all das mit seinem Charme, seiner Unerschrockenheit und seinem Engagement wett.

Fünfzehn Jahre später ist Michael im innersten Zirkel der Macht angekommen. Seit vier Jahren bildet seine Partei die Regierung und er spielt als Innenminister und Vize-Präsident eine entscheidende Rolle. Er formt, er gestaltet und er lenkt das Land in einem Ausmaß, wie es seine Vorgänger nie getan hatten. Er nimmt für sich in Anspruch, ein wesentlicher Meinungsbildner zu sein. Seine Partei, sein Präsident lassen ihn gewähren und ebnen ihm den Weg, ist ihnen doch bewusst, dass die Amtszeit des jetzigen Präsidenten zu Ende geht und ein Nachfolger benötigt wird.

Jeremiah hingegen ist politisch weder aktiv noch groß daran interessiert. Für ihn ist die Welt in schwarz und weiß aufgeteilt. Er hält nichts von dem diplomatischen Geschwätz, das aus seiner Sicht immer nur dazu führt, die eigentlichen Probleme und Themen nie direkt anzusprechen, sondern sie zu umschiffen, niemandem wirklich wehzutun und alle das Gesicht wahren zu lassen. In seiner Welt gibt es keine Kompromisse. Es gibt die Guten und die Bösen und alles dazwischen macht die Situation nur unnötig kompliziert. Ihm ist klar, dass Politik und Diplomatie die Welt beherrschen, aber solange er es aus seinem Alltag heraushalten kann, ist er zufrieden. Sollen sich Andere damit beschäftigen und ihn in Ruhe seine Arbeit erledigen lassen. Dass ausgerechnet sein Sohn in diese Welt einstieg, sich dort mühelos bewegte und eine außergewöhnliche Karriere vollzog, war für ihn sowohl erstaunlich als auch bewundernswert. Dennoch erfüllt es ihn mit unglaublichem Stolz, trotz seiner skeptischen Sicht auf die Politik.

Ihre Welten sind so unterschiedlich, so völlig fremd in ihren Anforderungen und Herausforderungen und zugleich extrem vereinnahmend. Sie arbeiten beide hart und mit vollem Engagement. Somit blieb nur wenig gemeinsame Zeit. Irgendwann hatten sie dann damit begonnen, sich feste Termine zu setzen, an denen sie sich trafen, um die Nähe zu dem Anderen wiederaufzufrischen. Sich ungezwungen und ohne Erwartungshaltung miteinander zu unterhalten und damit einen Ausgleich zu ihrem Alltagsleben zu finden.

„Es schmeckt mir einfach.“

Ihre Treffen und Gespräche folgen dabei einem festen Ritual. Während Jeremiah jedes Mal das gleiche Frühstück bestellt, probiert sich Michael immer wieder an anderen Kombinationen. Allein schon, um seinen Vater zu ermuntern, es ihm gleich zu tun, nur um mit seiner Sturheit konfrontiert zu werden, auf die er sich insgeheim freut, repräsentiert sie doch Stabilität in einer Welt, die permanent und immer schneller von einem Wandel durchzogen wird.

Sie unterhalten sich nie groß über ihre Arbeit. Beide haben genügend Themen, die einer gewissen Diskretion, wenn nicht sogar Geheimhaltung unterliegen und sie wollen sich gegenseitig damit nicht belasten. Sie konzentrieren sich daher auf Erzählungen über die Enkelkinder, Erlebnisse aus dem privaten Umfeld, wobei Michael hier mehr beiträgt als Jeremiah, der eher ein zurückgezogenes Leben führt.

„Hast du mal wieder etwas von deiner Mutter gehört?“

Nur selten streifen sie das Thema und jedes Mal wird es von Jeremiah ins Spiel gebracht. Die Reaktion von Michael ist immer dieselbe. Seine Gesichtszüge verhärten sich, sein Blick wird kalt und ihre gesamte Unterhaltung gerät ins Stocken.

„Nein. Du weißt, wir haben kaum Kontakt.“

Jeremiah ist das bewusst. Er kann es sich selbst nicht erklären, warum er die Frage immer wieder stellt. Ist es Neugier? Das Bedürfnis, etwas über seine Ex-Frau zu erfahren? Er geht der Frage nie zu lange nach, will er doch den damit verbundenen Emotionen aus dem Weg gehen.

Für einen Moment herrscht Stille, beide widmen sich ihrem Frühstück, dann greifen sie schnell ein anderes Thema auf, um die Gedanken, die Gefühle und die plötzliche Stille zu verscheuchen.

„Kommst du am Sonntag zum Essen? Die Kinder und Kathrin würden sich freuen.“

„Mal schauen.“

„Ein neuer Fall?“

Jeremiah beschränkt seine Antwort auf ein Nicken, während er einen großen Schluck Kaffee nimmt. Natürlich kann er am Sonntag kommen, aber er fühlt sich bei solchen Familientreffen nie wirklich wohl. Als wäre er ein Fremdkörper. Sobald er von seinen Enkelkindern, seiner Schwiegertochter und seinem Sohn umgeben ist, fühlt er sich eingeengt und in eine Rolle gepresst, die er nicht für sich sieht. Er ist kein weiser, gütiger alter Großvater oder der sanfte Schwiegervater, der seiner Schwiegertochter mit klugen, bedachten Worten zur Seite steht und ihr die für sie manchmal nicht nachvollziehbaren Handlungen ihres Mannes erklärt. Stattdessen ist er der sture, noch immer kämpferische alte Mann, der seine Ansichten selbstbewusst in den Raum stellt und kaum andere Meinungen zulässt. Die einzige Meinung, die er abwägt, betrachtet und manchmal stumm teilt, ist die seines Sohnes, aufgrund ihrer gemeinsamen Zeit und des Respektes, den Michael sich bei Jeremiah durch seine Karriere erarbeitet hat.

Nach einer Stunde des gemeinsamen Essens, des Austausches von Nichtigkeiten und des Schweigens gehen sie beide wieder ihrer eigenen Wege. Erfüllt von einer zufriedenen Ruhe. Sie benötigen nicht viel voneinander. Allein das Wissen um die Anwesenheit des Anderen reicht ihnen beiden aus, um ihre Verbundenheit zueinander am Leben zu halten.

Sie trennen sich ohne Umarmung. Sie heben beide jeweils die Hand zum Abschied und gehen. Sie tauschen nur selten Berührungen aus. Jeremiah war nie in der Lage, so viel spürbare Nähe zu geben. Es fühlt sich seltsam an. Nicht, weil er seinen Sohn nicht liebt, sondern weil er nie gelernt hat, Emotionen über Berührungen auszudrücken. Und weil er es selbst nie erlernte oder weitergab, ist es auch Michael nur schwer möglich. Es stört sie beide nicht, kennen sie es doch nicht anders.

„Hab’ noch eine gute Woche.“

„Du auch.“

Ein letztes Nicken und ihr Alltag hat sie jeweils wieder.

Der Archivar der Seelen

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