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Er wartet.

Jede Nacht sitzt er an der Bushaltestelle und wartet. Wartet darauf, dass der Mann wieder vor ihm steht, ihn mit seinem undurchschaubaren Lächeln mustert und sich dann neben ihn setzt. Und dann wird er ihn sich greifen, all sein Wissen, all seine Informationen aus ihm herausholen und sei es mit Gewalt.

Mittlerweile hat sich seine Aufregung, seine Panik in eine ruhige, lauernde Stille gewandelt. Er weiß, was er tun muss und das gibt ihm Sicherheit. Nichts ist schlimmer für ihn, als keinen Ausweg zu kennen, sich nicht entscheiden zu können, welchen Weg er gehen soll. Er kann mit solchen Situationen nicht umgehen und darum hat er sich bereits früh in seiner Karriere beigebracht, Entscheidungen zu treffen und mit den Konsequenzen zu leben. Dabei folgt er immer seine Intuition. Unterstützt von den Fakten, die ihm vorliegen, aber am Ende verlässt er sich auf sein Bauchgefühl.

„Ich sagte doch, wir werden uns wiedersehen.“

Und wieder hat er ihn überrascht. Wieder hat er nicht wahrgenommen, wie sich der Mann neben ihn setzte. Er war viel zu versunken in seinen Gedanken, seinen Vorstellungen, was alles geschehen wird, dass er den Blick in die Realität für einen Augenblick verloren hat.

Für einen Moment betrachten sich die beiden stumm, doch jeder mit einer anderen Ausstrahlung. Während der alte Mann in sich ruhend und wissend wirkt, strahlt Jeremiah durch jede seiner Poren seine Anspannung, seine unterdrückte Wut und Ungeduld aus.

„Was würden Sie jetzt am liebsten tun?“

Ein Lächeln huscht erneut über die Lippen des Mannes, kennt er doch die Antwort bereits. Das Ganze dient nur dazu, ihren Dialog zu beginnen. Jeremiah geht nicht auf die Frage ein, spielt keine Spielchen, sondern spricht sofort das eigentliche Thema an.

„Woher haben Sie das Buch?“

Keine Reaktion, kein Zucken, kein Innehalten. Der Mann sitzt weiterhin völlig ruhig vor ihm, sein Blick fest auf ihn gerichtet.

„Aus dem Archiv, das mir anvertraut wurde. Ihres und eine Vielzahl weiterer Bücher.“

Jeremiah hat keine Ahnung, wovon der Mann spricht. Er hat keine andere Wahl. Vorerst muss er sich auf die Unterhaltung einlassen.

„Wer ist der Autor? Sie?“

„Oh, nein, ich bin nicht gut im Schreiben. Das Lesen hat mich schon immer fasziniert, aber ich habe keine Begabung, Dinge niederzuschreiben. Meine Aufgabe ist es, das Archiv zu pflegen.“

„Welches Archiv? Wollen Sie mir sagen, es gibt noch mehr solcher Bücher?“

Vor seinem inneren Auge sieht er dutzende Bücher, aufeinandergestapelt, voll mit den Geheimnissen der Menschen, die sie beschreiben. Der Gedanke entfacht in ihm Neugier und Wut zugleich, während ihm der Mann sanft zunickt.

„Natürlich gibt es mehr davon, sonst wäre es kein Archiv. Und es wächst ständig weiter.“

Es muss eine Gruppe von Menschen sein, nicht nur ein Einzelner. Wie sonst sollte das Archiv beständig wachsen? Die Gedanken rasen durch seinen Kopf und er stellt sich die Frage, wer oder was diese Gruppe darstellt, welche Ansichten sie vertritt und was sie ausgerechnet von ihm wollen.

„Ich glaube, Sie verstehen es besser, wenn Sie es mit eigenen Augen sehen.“

Jeremiahs Körper spannt sich an. Er hatte nicht mit dieser Offenheit, nicht mit solch einem Angebot gerechnet. Es könnte eine Falle sein, doch was hat er zu verlieren? Sollte das Buch an die Öffentlichkeit kommen, wäre sein Leben zu Ende. Er selbst würde dem ein Ende setzen. Allein schon um den Schaden für das Leben seines Sohnes und seiner Familie so gering wie nur irgend möglich zu halten.

„Sagen Sie mir erst, wie Sie heißen.“

Der Mann lächelt kurz in sich hinein, schließt für einen Augenblick die Augen und plötzlich wirkt er um Jahre gealtert, müde und erschöpft.

„Ich bin ein Archivar. Mein Name spielt schon lange keine Rolle mehr und ich kann mich ehrlich gesagt nur noch dunkel daran erinnern.“

Es ist die Körperhaltung, die Reaktion auf die Frage, die Art, wie der Mann für einen kurzen Moment innehält, die Jeremiah verwirrt, scheint er doch die Wahrheit zu sagen. Welcher Mensch kann sich nicht an seinen Namen erinnern?

„Wollen wir?“

Der Archivar steht auf, wartet kurz, um dann in die Dunkelheit zu treten.

Der Archivar der Seelen

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