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Es sind diese Momente, in denen er zur Ruhe kommt. Nachts allein, seine Gedanken einfach dahin gleiten zu lassen. Jeremiah sitzt an der Bushaltestelle und wartet. Es dauert noch fast zehn Minuten, bis sein Bus kommt, aber es stört ihn nicht. Die Luft ist klar, ein leichter Regen benetzt die Straßen und er sitzt in dem kleinen, hell erleuchteten Häuschen der Haltestelle und blickt in die dunkle Welt vor ihm. Er fühlt die Müdigkeit, das Schwinden seiner Kraft, wie so oft in letzter Zeit. Der Wandel kam anfangs schleichend. Er machte sich nur an Kleinigkeiten bemerkbar. Kleine Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite. Nichts Großartiges, aber dennoch eine Veränderung, die ihn beschäftigt. Anfangs schob er es auf mangelnden Schlaf oder Stress. Doch dann musste er feststellen, dass sein Geist langsam begann abzubauen. Ein natürlicher Vorgang, der mit zunehmendem Alter fortschritt, doch für Jeremiah war es eine schmerzhafte Erfahrung, musste er sich doch eingestehen, dass er nicht mehr so leistungsfähig, nicht mehr so körperlich und geistig beweglich war wie einst.

Noch immer kämpft er gegen die Veränderung an, aber nicht mehr so vehement wie zu Beginn. Eine leichte Resignation begleitet ihn. Stück für Stück beginnt er, sich seinem Schicksal zu fügen, sieht er doch keinen Weg, um aus seiner Lage herauszukommen. Immer öfter führt er nun den leisen Dialog mit sich selbst. Er versucht sich klarzumachen, dass er lernen muss, mit der Veränderung zu leben, dass er seinen Alltag, seine Ansprüche an sich selbst neu definieren muss. Doch am stärksten beschäftigt ihn die Tatsache, dass sein Kampf für die Gerechtigkeit langsam zu Ende geht. Er spürt die Müdigkeit und Erschöpfung, die ihn, bedingt durch den jahrelangen Kraftakt seines Weges, langsam, aber unumkehrbar in ihre Arme nimmt und sich um ihn schließt. In seinen schwachen Momenten möchte er nur die Augen zumachen und sich der dunklen Stille hingeben.

„Sie wirken müde.“

Er blickt auf, in seinem Gedankenfluss unterbrochen. Neben ihm, am anderen Ende der Sitzbank, blickt ihn ein älterer Mann an. Seine weißen Haare reichen ihm bis zur Schulter, elegant zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf seinen Lippen, umrahmt von einem dichten Vollbart, liegt ein sanftes Lächeln, während ihn seine hellwachen Augen hinter einer leichten Metallbrille interessiert betrachten.

„Es tut mir leid, wenn ich Sie aus Ihren Gedanken gerissen habe.“

Vorsichtig betrachtet Jeremiah den Mann. Irgendetwas tief in ihm drinnen springt an und seine über die Jahre trainierte Vorsicht schaltet sich ein. Er kann es nicht in Worte fassen, aber der Mann erscheint ihm gefährlich. Er antwortet nicht, geht nicht auf den Mann ein und wendet sich wieder der Straße zu.

Für einen Moment herrscht Stille und Jeremiah ist sich fast sicher, dass damit die Begegnung ein schnelles Ende gefunden hat.

„Interessant, wie Sie die Geschichte verändert haben. Sie haben wirklich ein Talent dafür.“

Plötzlich verkrampft sein ganzer Körper. Langsam wendet er sich dem Mann wieder zu. Sein Blick verengt sich und er mustert sein Gegenüber genauer. Er schätzt den Mann auf Mitte siebzig. Der Anzug sitzt maßgeschneidert und wirkt zeitlos. Auf der Straße wäre ihm der Mann niemals aufgefallen.

„Wie bitte?“

Er hat eine Vermutung, doch es kann nicht sein. Niemand außer ihm weiß etwas davon und dennoch fühlt er sich ertappt.

„Ich meine diese Wendung, dass der Mann sich für seine Sünden selbst bestrafen lässt. Und dann noch in Form einer Kreuzigung. Ein wenig arg theatralisch, finden Sie nicht?“

Der Mann hat seine ganze Aufmerksamkeit. Es ist unmöglich, dass er davon wissen kann. Langsam greift er in seine Manteltasche.

„Ich bitte Sie. Sie werden doch nicht ernsthaft darüber nachdenken, einen alten Mann mitten auf der Straße zu ermorden.“

Völlig ruhig sitzt ihm der Mann gegenüber. Er scheint weder aufgeregt noch nervös zu sein. Ganz im Gegenteil. Er wirkt völlig ruhig, völlig Herr der Situation.

Die Gedanken rasen durch Jeremiahs Kopf. Er geht die letzten Wochen im Schnelldurchlauf durch, doch kein einziges Mal bringt er damit den Mann, der vor ihm sitzt, in Verbindung.

„Glauben Sie mir bitte. Ich habe nicht vor, Ihre Interpretation von Gerechtigkeit zu stören. Ganz im Gegenteil. Ich möchte Ihnen ermöglichen, sie weiter auszuleben.“

Die Augen des Mannes blitzen für einen Moment auf und Jeremiah ist sich nicht sicher, ob er darin Freude, Neugier oder Bösartigkeit erkennt.

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

Er wendet sich nicht ab, fixiert weiterhin sein Gegenüber und wartet. Ihm ist klar, dass die Unterhaltung noch nicht zu Ende ist.

„Nun, dann lassen Sie mich Ihnen helfen.“

Der Mann greift hinter sich und Jeremiah zückt im Bruchteil einer Sekunde seine Waffe, sein Körper durchflutet von Adrenalin. Beschwichtigend hebt der Mann seine Arme und hält inne.

„Ich möchte Ihnen nur etwas geben. Glauben Sie mir, danach wird sich unsere Unterhaltung leichter gestalten.“

Für einen Augenblick herrscht zwischen ihnen Schweigen und ein angespanntes Abwarten. Dann greift der alte Mann langsam hinter sich, sein Blick fest auf Jeremiah gerichtet, weiterhin ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Vorsichtig zieht er hinter seinem Rücken ein kleines Buch in einem dicken Ledereinband hervor und reicht es Jeremiah.

„Ich glaube, das gehört Ihnen.“

Er blickt das Buch mit einer Mischung aus Vorsicht und Neugier an. Er wagt es nicht, es anzurühren. Er spürt, dass der Inhalt des Buches gefährlich für ihn ist, ohne dass er den Grund hierfür benennen kann.

Der Blick des alten Mannes ruht auf ihm. Seine Selbstsicherheit, seine innere Ruhe strahlt so deutlich aus ihm heraus, dass ihm Jeremiah am liebsten ins Gesicht schlagen würde. Der Mann macht ihn nervös und zugleich spürt er eine Wut und Energie in sich aufsteigen wie schon lange nicht mehr.

„Ich werde das Buch einfach hier hinlegen und jetzt gehen.“

Sanft legt der Mann das Buch vor ihn auf die Bank. Er streicht kurz mit seinen Fingerkuppen darüber, als würde er sich von einem alten Freund verabschieden, dann richtet er sich langsam auf, zieht sein Jackett zurecht und macht sich daran zu gehen. Kurz hält er inne, scheint zu überlegen und wendet sich nochmals Jeremiah zu.

„Wir werden uns wiedersehen.“

„Das werden wir nicht.“

Jeremiahs Stimme klingt bei weitem nicht so gefestigt und selbstsicher, wie er es erhofft hat. Das schmale Lächeln des Mannes verschwindet für einen kurzen Moment, dann nickt er Jeremiah zu und geht. Jeremiah blickt ihm hinterher, doch es dauert nur einen Augenblick und der Mann ist mit der Dunkelheit verschmolzen.

Irritiert betrachtet er das Buch neben sich. Es ist nur ein Buch, teilt ihm seine innere Stimme mit, doch parallel dazu warnt ihn eine andere leise Stimme. Er sollte einfach gehen, das Buch liegen lassen und den ganzen Vorfall vergessen. Im Grunde war es nur ein alter, verwirrter Mann, der seine Worte an den nächstbesten Menschen richtete, um eine Ansprache zu erhalten. Er kann einem nur leidtun.

Gereizt blickt er auf seine Uhr. Der Bus sollte schon längst da sein. Nochmals blickt er um sich, doch die Straßen wirken leer und verlassen. Er nimmt kein Geräusch, kein Zeichen von Leben wahr. Alle Fenster der Häuser um ihn herum sind dunkel. Nur das Licht der Straßenlaternen und der Haltestelle erhellen ein wenig die Nacht.

Sein Blick fällt wieder auf das Buch. Der Drang, es an sich zu nehmen, darin zu blättern, ihm seine Geheimnisse zu entreißen wird größer und die Stimme der Vorsicht, die Stimme der Angst wird immer leiser. Plötzlich gibt er sich einen inneren Ruck. Er hat ganz andere Situationen gemeistert. Wovor soll er Angst haben? Vor ein paar Buchstaben, die Wörter und Sätze formen? Sätze, die niemanden interessieren, keine Wirkung zeigen und am Ende nur tote Worte in einem alten, zerfallenen Buch darstellen?

Bestimmt greift er nach dem Buch und zieht es zu sich. Er kann keinen Titel, keine Angabe eines Autors auf dem Buchdeckel oder dessen Einband entdecken. Das Leder wirkt alt und an manchen Stellen beschädigt, langsam in Auflösung begriffen. Für einen Moment hält er inne, die letzte Gelegenheit, zu gehen, seinem Schicksal auszuweichen und einen anderen Weg einzuschlagen. Doch seine Neugier, sein Stolz sind stärker und er schlägt das Buch auf.

Er liest den Titel und für einen Moment durchzieht ihn Kälte und Hitze zugleich. Er spürt, wie sein Herz stärker schlägt, sein Puls beginnt zu rasen. Dabei ist es nur ein Titel und doch ändert sich in diesem Moment alles.

In klarer Schrift liest er den Titel immer und immer wieder.

„Jeremiah Brecht – 1956–2021.“

Der Archivar der Seelen

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