Читать книгу Der Archivar der Seelen - Soern Pohl - Страница 4

1

Оглавление

„Ich weiß, die Erkenntnis schmerzt.“

„Es ist nicht meine Erkenntnis. Ich teile sie nicht.“

„Sind Sie sich sicher? Ist es nicht vielmehr so, dass Sie genau aus diesem Grund hier sind?“

Nur mit Mühe kann er sich davon abhalten, dem Mann ins Gesicht zu schlagen oder den Abzug seiner Waffe zu drücken. Wut, Angst und Verzweiflung toben in seinem Inneren, aber er muss sich zurückhalten. Er darf nicht übereilt handeln. Ansonsten wäre alles umsonst, wäre alles verloren. Doch am meisten ängstigt ihn, dass etwas tief in ihm drinnen seinem Gegenüber zustimmt. Er hat versucht, es zu verdrängen und doch sind sie nun an diesem Punkt angelangt.

Der Archivar sitzt ihm an seinem schweren Schreibtisch gegenüber, umgeben von den hohen Regalen, voll mit seinen Büchern. Er scheint unbeeindruckt davon, dass eine Waffe auf ihn gerichtet ist. Stattdessen beugt er sich weiter nach vorne, als würde er nach ihm greifen und ihn noch stärker in seine Welt hineinziehen wollen.

„Ich sehe es Ihnen an. Ihr Hadern, Ihre Zweifel. Eine intensive Erfahrung, finden Sie nicht? Sie möchten mich töten. Wozu? Wir ahnen es beide, dass mein Tod keine Veränderung herbeiführen wird. Es wäre nur eine kurze Flucht vor Ihrem Schicksal. Und diese Erkenntnis wird Sie bis an Ihr Ende begleiten. Sie können es nicht abschütteln. Weder vergessen noch verdrängen.“

„Alles hat seine Konsequenz. Und wir beide müssen damit leben.“

„Wie recht Sie haben.“

Für einen Moment herrscht Schweigen. Es besteht keine Eile.

„Haben Sie jemals darüber nachgedacht, ob Gut oder Böse existiert? Vielleicht sind es nur Umschreibungen von Dingen, für die wir keine passenden Worte finden. Verstärkt um eine moralische Prägung, die bestimmt wird durch die Regeln der jeweiligen Zeit und Gesellschaft. Was heute als verwerflich und grausam erscheint, mag in einer anderen Zeit, einer anderen Kultur als völlig normal oder sogar als gute Tat gewertet werden. Haben Sie mal darüber nachgedacht, wo wir heute wären, wenn all die Grausamkeiten, all das Böse aus der Vergangenheit nicht geschehen wäre? Weder Sie noch ich würden dann hier sitzen, geschweige denn existieren.“

Er spürt die Wahrheit der Worte, doch er versucht, sich dagegen zu wehren. Er will diese Sichtweise nicht teilen, sie nicht tiefer in sich dringen lassen. Es ist seine Angst, sich in dieser Anschauung zu verlieren, sie zu akzeptieren und damit den Schmerz noch zu verstärken.

„Es gibt Dinge, die immer falsch sind.“

Die Augen des Archivars funkeln; die Unterhaltung fasziniert ihn, trotz der widrigen Umstände.

„Falsch oder böse? Das sind zwei elementare Unterschiede. Glauben Sie an das absolute Böse?“

„Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu diskutieren. Ich bin hier, um es zu beenden.“

Mit einem müden Lächeln lehnt sich der Archivar in seinem Stuhl zurück, seine Hände ineinandergelegt, eins mit sich und seinem Handeln.

„Wenn Sie also daran glauben, existiert dann für Sie auch das absolute Gute? Und falls ja, sehen Sie sich als Teil davon? Falls nicht, was oder wer sind Sie dann?“

Seine Hand zittert. Sein Wille, es hier zu beenden, beginnt zu bröckeln. Er ringt mit sich, versucht, die Zweifel, die Fragen von sich zu drücken. Er muss nur fokussiert bleiben, nur noch wenige Momente überstehen und es zu Ende führen. Dann kann er sich zurückziehen, das alles hier hinter sich lassen und versuchen, irgendwie neu zu beginnen. Vielleicht gelingt es ihm endlich, so etwas wie ein normales Leben zu führen. Es wird nicht von heute auf Morgen gehen, dazu hatte er zu tiefe Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele und seiner selbst bekommen. Aber er kann es versuchen. In kleinen Schritten, langsam und beständig, und am Ende findet er vielleicht eine Form von Frieden.

„Ich bin derjenige, der es zu Ende bringt.“

Der Archivar hält einen Moment inne, dann lacht er leise in sich hinein.

„Entscheiden Sie und lernen Sie, mit Ihrer Entscheidung zu leben.“

Der Archivar der Seelen

Подняться наверх