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„Wage es zu denken!“: Die Aufklärung
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An diesem Punkt, etwa ab 1700, geschieht etwas fundamental Neues: Die Entdeckung der eigenen und einzigartigen Fähigkeit des Menschen, selbst zu denken, sich selbst auszubilden und über sich selbst hinauszuwachsen – Kants „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Mündigkeit“, die Aufklärung. Es handelt sich um eine kulturelle Leistung, um die man Deutschland mit seinen bestimmenden Dichtern und Denkern einfach nur beneiden kann, allen voran der Denker Kant und der Dichter Goethe. Sie haben gegenüber allen anderen Kulturen sich nicht dem szientistischmechanistischen Weltbild angeschlossen, das seit Descartes ganz auf die Wissenschaft gesetzt hat, den Fortschritt preist und menschliche Potenziale außer Acht lässt. Umso merkwürdiger ist es, dass man in Deutschland diese Werte als „Klassiker“ einstuft und nicht das unglaubliche Potenzial in dieser Bewegung als eine deutsche Erfindung verbucht. Aber fangen wir von vorne an.
Unter dem preußischen König Friedrich I. erlebt Preußen eine große intellektuelle Blüte. Der überragende Denker dieser Phase war der Philosoph, Mathematiker, Diplomat und politische Berater G.W. Leibniz. Leibniz‘ Auffassung vom Staat war geprägt von dem Bemühen um Humanität. Ideen zur Beförderung des menschlichen Glücks hatten Vorrang vor nationalen Anwandlungen. Der Staat bildete für ihn eine moralische Instanz, die einem allgemeinen Willen entspricht. Der Staat sollte sich der Prinzipien des Naturrechts annehmen. Die Herrschaft des Gesetzes war die wesentliche Aufgabe des Staates, neben Sauberkeit, Unterstützung der Armen und die Kultivierung der Wissenschaften und Künste. Leibniz‘ Theodizee, sein populärstes Werk, ist eine Hymne an die Freiheit unter den Bedingungen der Vernunft. Er legte damit die philosophische Grundlage für die Reformideen von Christian Wolff.
Wolff wurde zunächst des Atheismus bezichtigt, des Reiches verwiesen und später von Friedrich Wilhelm I. rehabilitiert. Der Grund dafür war sein Weltruhm als führender Philosoph in Deutschland. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und galten an den Universitäten der Welt als Pflichtlektüre. Wolffs Rationalismus fand durch Propagandisten und Parodisten eine unvergleichliche Breitenwirkung. Doch noch zu Lebzeiten kamen seine Ideen aus der Mode, als neue französische und englische Denker Aufmerksamkeit erregten. Trotzdem war die so genannte Leibniz-Wolff-Schule im deutschen Kulturkreis derart fest institutionalisiert, dass Wolff als „Schulmeister der Deutschen“ galt, die mit seinem strengen und disziplinierten Denken einherging. „Sapere aude!“ – „Wage es, zu denken!“ war Wolffs Leitspruch, den später Immanuel Kant als Grundgedanken der Aufklärung zitierte. Nach seiner Auffassung hatte die Vernunft keine Grenzen. Als Philosoph versuchte Wolff, Leibniz‘ Ideen zu einem System zu verschmelzen, das Rationalismus und Empirismus zugunsten eines Determinismus ablöste: Sein vorgegriffener Utilitarismus besagte, dass die Gründung einer Gesellschaft notwendig sei, damit jeder einzelne seinen Pflichten nachgehen könne, sich zu einem perfekten Menschen zu machen.
Wolff sprach zum ersten Mal nicht von „Staat“ oder „Gesellschaft“, sondern von Gemeinwohl oder Gemeinschaft. Diese wurde von ihm als eine Art große Familie verstanden. Je mehr Menschen zusammenkommen, um ihrem Glück nachzugehen, umso höher das allgemeine Glück und der Wohlstand einer Nation. Bei Christian Wolff vollzieht sich zum ersten Mal eine scharfe Trennung von Staat und Gesellschaft. Aber selbstverständlich gilt der Mensch als gehorsamspflichtiger Untertan, der dem Staat dienlich ist. Hier ist zudem die dem deutschen Denken so charakteristische Trennung von Staat und Gesellschaft bereits angelegt, die gewöhnlich erst für das 19. Jahrhundert – seit Hegel – angenommen wird. Doch zwischen Wolff und Hegel liegt die Aufklärung Immanuel Kants. Es war die Zeit der großen Ideen in Deutschland. Damit war die Zeit reif, in der Deutschland seine größte Blüte erlebt und seine größte historische Chance auf eine Selbstbesinnung verspielt – ausgerechnet durch die Nachfolger der Aufklärung, die deutschen Idealisten und die Romantiker. Auf einmalige und erstaunliche Weise gelingt es den Deutschen gerade bei jeder evolutionären und revolutionären Veränderung der Denkgeschichte, dafür zu sorgen, dass sich alles verändert, damit alles bleibt, wie es ist: Staat auf der einen, Gesellschaft auf der anderen Seite. Mit der Aufklärung tritt das „Individuum“ hinzu. Und hier kommt ein Mann, den man schon zu Lebzeiten den „Alleszermalmer“ nannte, weil er mit nahezu jedem bestehenden Denkmodell bricht und eine vollkommen neuartige philosophische Konzeption vorlegte, die auch das Denken in Deutschland fundamental verändert. Die Rede ist von Immanuel Kant.