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Hegels Wende – Das Ende der grossen Freiheit
ОглавлениеHEGELS WENDE – DAS ENDE DER GROSSEN FREIHEIT
Wenn dieses Systemprogramm der drei Idealisten abgearbeitet ist, „herrscht ewige Einheit unter uns. (...) Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des einzelnen sowohl als aller Individuen. (...) Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.“ 1806 steigt dieses vermeintlich höhere Wesen in Jena zur Begeisterung des Autoren Hegel direkt vor ihm vom Pferd: Napoleon Bonaparte. Er denkt, dass der Mann auf dem Pferd sein höheres Wesen ist, das die Signale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit vor sich herträgt. Seine Ansprüche, die im Systemprogramm formuliert sind, verwirklicht er nicht. Im Gegenteil: Speziell seine geistige Entwicklung kann man als grandiose Dialektik, als Abkehr dieses Programms in ihr Gegenteil sehen – nämlich dadurch, dass er mit diesen Ideen wiederum Staat macht.
Hegel selbst aber reitet bald schon – als Berliner Professor im Auftrag des preußischen Fürsten unterwegs – auf seinen Prinzipien der Dialektik herum, die alles erklären können, durch die Institutionen. Der Diplomat und Beamte Wilhelm von Humboldt gründet 1809 die neue Universität Berlin und legt damit den Grundstein für eine neue, liberale Entfaltungsmöglichkeit des am Boden liegenden preußischen Staates durch universelle Bildung und die Schaffung eines „Rechtsstaates“ und eine Wirtschaft. Sein Ziel: Die intellektuelle, politische und wirtschaftliche Führerschaft über Frankreich. Sein Mittel: Die neue, frei gesetzte Energie der Aufklärung in der deutschen Bevölkerung. Sein Vertreter an der Universität: Hegel. Und Hegel sagt: „Alles, was wirklich ist, ist vernünftig, und alles, was vernünftig ist, ist wirklich“. Das ist ein Killersatz. Die Anbetung der Vernunft wird zum Dreh- und Angelpunkt seiner Konzeption, „der Mensch“ als höhergeleitetes Vernunftwesen das Maß aller Dinge – im Gegensatz zu „den Menschen“. Friedrich Schillers Konzeption von einem „ästhetischen Staat“, das Hegel früher für ein „Meisterstück“ hielt, findet er jetzt „nicht tragisch, sondern entsetzlich“. Durch die Ironie dieses Schicksals wird der gleiche Mann, der früher den Staat abschaffen wollte, später offiziell Preußens erster Staatsphilosoph und interpretiert den Staat als „Verwirklichung göttlicher Ideen". Der einstige Schiller- und Napoleon-Fan Hegel konvertiert zum Ideologen, der seiner eigenen Erfindung, der Dialektik, erliegt. Wie es sich für den genialen Dialektiker gehört, verwandelt er seinen „Staat“ in die bereits verwirklichte Form jener Ideen, die ihm früher mal vorschwebten. Vielleicht ist dies die fatalste Entwicklung der deutschen Kultur: die Tatsache, dass der deutsche „Rechtsstaat“ heutiger Prägung wiederum von einem Idealisten begründet wird.
Eines muss man Hegel lassen: Er sieht in der Schlacht von Jena, die er 1806 selbst erlebt hatte, das Ende der Weltgeschichte, weil hier die Werte der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – den nationalstaatlichen Armen Napoleons entrissen wurden. Denn nun ist es seiner Meinung nach nur noch eine Frage der Zeit, wann Vernunft und Freiheit in einem Staat zusammenkommen.
Sein „Rechtsstaat“ beansprucht, „die Allgemeinheit der Rechtsqualität aller zu sein“ – ohne die Mitglieder der Nation konkret zu fragen. So sind in der deutschen Kultur auch nach der Blüte von Aufklärung, Idealismus und Romantik die alleinig bestimmenden Instanzen: Herrschaft und Bürokratie. Hier ist er wieder, nach den glorreichen Ideen von Freiheit und der Entdeckung des Menschen wie Phoenix aus der Asche: der alles dominierende deutsche Staat.
Hegel bezeichnete seinen Staat als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (Grundlinien §257). „Die Rechtsphilosophie – darin liegt das Geheimnis ihrer gedanklichen Provokationen und ein Schlüssel zu ihrer wechselvollen Wirkungsgeschichte – ist philosophisches Lehrbuch und politische Publizistik, gelehrter Traktat und aktuelle Kampfschrift in einem.“ (Riedel 1975:11f.) „Trotz aller Polemik gegen den Fichteschen Polizeistaat, in welchem „Alles nach der Schnur geht“, ist der Hegelsche Freiheitsstaat viel schlimmer als jener – eine rechtfertigende Konstruktion der faktisch in Preußen waltenden Polizeigelüste.“ (Haym in Riedel 1975:389) Es tritt also das Gegenteil von dem ein, was in der revolutionären Freiheitsschrift des Systemprogramms – vom gleichen Autor, Hegel! – die Rede war: Eine Welt für die Menschen zu schaffen. Anders gesprochen: Für das Politische, also die Entfaltung der Freiheit in Gemeinschaft, bleibt keine eigene Authentizität außer der Absorption durch den Staat als Rechtsordnungssubjekt übrig. Damit ist der Typus des politischen Denkens in diesem Kulturkreis (Deutschland) entwickelt. In Hegels Rechtsphilosophie sammeln sich die Ströme, die das deutsche politische Denken der Neuzeit geprägt haben: Die „Politica“ – Staatswissenschaft, das Naturrecht, die Polizeiwissenschaft, der „Transzendentalismus“ (Ernst Vollrath 1987:122). Aber was die deutsche Mentalität angeht, ist der Deutsche Idealismus und daraus resultierende, verklärende Romantizismus um 1800 bis heute „the real German Weltanschauung“ (Friedrich Hertz) geblieben. Und es ist schon erstaunlich, dass Peter F. Drucker noch 1985 betonen muss: „Alle haben erkannt, dass Staatspolitik und Staatsbehörden nicht göttlichen, sondern menschlichen Ursprungs sind. (...) Dennoch geht die Politik immer noch von der Jahrtausende alten Prämisse aus, was auch immer der Staat tue, sei in der Natur der menschlichen Gesellschaft verwurzelt und sei daher „für ewig“. Die Folge ist, dass es bis heute keinen Mechanismus gibt, mit dessen Hilfe ein Staatswesen Altes, Ausgedientes und nicht mehr Produktives abstreifen kann.“ (Drucker 1985:364) Das trifft in bedeutender Weise auf Deutschland zu. Das Problem: Die Vereinigung aller guten Ideen der Aufklärung und des deutschen Idealismus führt in Deutschland nicht zu einer Umkehrung der Verhältnisse zwischen Staat, Gesellschaft und Mensch, sondern offenbar zwangsweise zu einer Neu-Verfassung des Staatsgebildes. Etwas anderes als „der Staat“ scheint gar nicht denkbar. Die Realität Deutschlands ist bis heute der „Staat“ in der Vorprägung Hegels.
Nur, wo „Staat“ ist, ist Macht – auch nach der deutschen Revolution und der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848. „Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gärenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird, der sich bisher selbst nicht erkannt hat. Denn es ist nicht bloß die Freiheit, die der Deutsche meint, es ist zur größeren Hälfte die Macht, die ihm bisher versagte, nach der es ihm gelüstet“, sagt allen Ernstes der Verfassungs-Entwickler Friedrich Christoph Dahlmann in seiner Rede in der Nationalversammlung am 22. Januar 1849 (in Bleek 2001:149). „Die Macht ist das Prinzip des Staates“, sagt Treitschke in „Bundesstaat und Einheitsstaat“ (1864, zitiert in Bleek 2001:153), und zwar, „dass das Wesen des Staates zum Ersten Macht, zum Zweiten Macht und zum Dritten Macht ist“. Für den Historiker Friedrich Meinecke ist dies der klassische Beleg für die Wende von der Priorität des Freiheitsideals zum Vorrang des Machtgedankens (vgl. Bleek 2001:149).