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§ 3Verfassung und Verfassungsrecht

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7Der Begriff des Verfassungsrechts ist enger als der des Staatsrechts:5 Sein Anknüpfungspunkt ist nicht die bloße Existenz eines Staates, sondern die Niederlegung der für diesen geltenden staatsrechtlichen Regelungen in einer Verfassung.

8Im modernen, rechtsstaatlichen Sinne setzt eine Verfassung mehr voraus als die bloße Regelung staatsrechtlicher Fragestellungen: Eine grundlegende Norm des Staatsrechts kann auch in einem einfachen Gesetz formuliert sein, sie kann sogar Gegenstand einer nicht niedergeschriebenen bloßen Übung sein, wie die Einsetzung des Premierministers in Großbritannien oder die Einberufung eines altgermanischen Things.

Der Sinn einer Verfassung liegt darin, dass eine besondere Art der schriftlichen Niederlegung („Verfasstheit“) eine höhere Verbindlichkeit – etwa durch den Vorrang vor sonstigem „einfachen“ Recht oder erschwerte Abänderbarkeit – gewährleisten soll. Die bloße Schriftlichkeit genügt dabei nicht; es bedarf vielmehr zusätzlicher Sicherungsmechanismen.

9Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich zu Diktaturen, die auch von der Existenz staatsrechtlicher Normen ausgehen, welche teilweise sogar schriftlich fixiert sind, jedoch keine besondere Bindung der Herrschaft zum Ausdruck bringen. Sie sehen staatsrechtliche Normen vielmehr als bloße Deklaration bereits bestehender Gegebenheiten staatlicher Macht im jeweiligen System.

So betrachtete etwa der Nationalsozialismus das sog. Führerprinzip als Norm des Staatsrechts. Die Formulierung dieses Prinzips hatte jedoch nur eine beschreibende Bedeutung, die Staatsführung sollte hierdurch in keiner Weise gebunden oder beschränkt werden.

Auch Art. 1 der Verfassung der DDR von 1968 beanspruchte keine besondere Form der Geltung für sich:

Artikel 1

Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.

Der Bezeichnung der Deutschen Demokratischen Republik als sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern kam keinerlei normative Funktion zu. Ebenso wenig ergab sich eine Bindungswirkung daraus, dass die DDR nach ihrer Verfassung unter der Führung der Arbeiterklasse stand. In der Praxis war dies gerade nicht der Fall.

Bei solchen staatsrechtlichen Deklarationen ohne besondere Bindungswirkung handelt es sich um bloße Proklamationen.

10Sinn einer Verfassung im rechtsstaatlichen Sinne ist demgegenüber die Begründung, Bindung und Legitimation der Herrschaftsgewalt. Die Ausübung von Herrschaftsgewalt soll durch Normen geregelt werden, die deren jeweilige Inhaber nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres abändern können. Die Beschränkung von Herrschaftsgewalt ist insofern charakteristisch für eine Verfassung.6

Die zitierte Verfassung der DDR war somit nur der Bezeichnung, nicht aber der Bedeutung nach eine Verfassung, denn der SED verblieb die letzte Regelungszuständigkeit über ihren Inhalt und diese Regelungszuständigkeit kannte keine Beschränkung.

11Auf die Bezeichnung als Verfassung kann es daher nicht ankommen. Aus der Beschränkung der Herrschaftsgewalt als notwendige Anforderung an die Verfassung ergeben sich aber normative Konsequenzen: Ist in der Verfassung die Beschränkung der Herrschaftsgewalt formuliert, diese aber jederzeit durch den Träger der Staatsgewalt problemlos wieder abänderbar, geht auch eine solche Verfassung über bloße Proklamation nicht hinaus.

Die Beschränkung der Herrschaftsgewalt durch die Verfassungsurkunde muss also bestimmte Verfestigungen enthalten: Sie wäre wertlos, wenn die Verfassung durch denjenigen, der die Herrschaftsgewalt ausübt, ohne weiteres wieder abgeändert werden könnte. Auch darf die Ausübung von Herrschaftsgewalt gegenüber den Gewaltunterworfenen nicht beliebig sein. Vielmehr bedarf eine Verfassung der Regelung subjektiver Rechtsgewährleistungen. Wie diese im Einzelnen aussehen, ob sie formeller oder materieller Natur sind, ob sie vor dem Parlament oder vor Gerichten geltend zu machen sind, ist je nach Rechtskultur sehr unterschiedlich. Entscheidend ist, dass der Herrschaftsgewalt durch subjektive Rechtspositionen der Gewaltunterworfenen Grenzen gesetzt sein müssen.

Staatsrecht I

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