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C.Das Grundgesetz und seine Geltung § 12Überblick: Aufbau und Inhalt des Grundgesetzes

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45Den Intentionen des Parlamentarischen Rates folgend stellt sich das Grundgesetz als bewusste Auseinandersetzung mit den Schwächen der Weimarer Reichsverfassung und ihrer Perversion in der Zeit des Nationalsozialismus dar. Dies zeigt sich bereits in der Präambel (Vorspruch) des Grundgesetzes, die auf das Bewusstsein des Deutschen Volkes von „seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ Bezug nimmt. Nachdem die vor 1990 in der Präambel als Zielsetzung ausgegebene Wiedervereinigung erreicht wurde, nennt diese nunmehr ausschließlich den Willen, als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

46An den Anfang des Verfassungstextes stellt das Grundgesetz bewusst „Die Grundrechte“ (1. Abschnitt) und dort an die Spitze die unantastbare, von der staatlichen Gewalt zu achtende und zu schützende Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Insgesamt sind die Grundrechte knapper gefasst als in der Weimarer Reichsverfassung; sie werden jedoch nicht, was für manche (nicht für alle) Grundrechte der Weimarer Verfassung galt, als bloße Programmsätze verstanden, sondern – wie Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich klarstellt – als alle drei staatliche Gewalten bindendes unmittelbar geltendes Recht. Diese subjektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte hat die 1969 auch ins Grundgesetz eingefügte Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) verstärkt, mit der die Verletzung von Grundrechten vor dem BVerfG geltend gemacht werden kann. Bereits in seiner frühen Rechtsprechung hat das BVerfG festgestellt, dass den Grundrechten darüber hinaus eine objektiv-rechtliche Dimension zukommt, kraft derer sie in den gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Bereich ausstrahlen und eine objektive Wertordnung erzeugen43. Das weite Verständnis der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht44 führt dazu, dass beinahe jedes menschliche Verhalten in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt und staatliche Eingriffe damit stets einer Rechtfertigung bedürfen. Besondere Bedeutung kommt vor dem Hintergrund der Erzeugung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung den Kommunikationsgrundrechten des Art. 5 GG und der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG zu, die eine umfassende Teilhabe am politischen Meinungskampf ermöglichen sollen.

47Abschnitt 2 („Der Bund und die Länder“) regelt grundlegende Fragestellungen des föderalen Staatsaufbaus. Dabei trifft Art. 20 GG eine zentrale Entscheidung zugunsten der Staatsstrukturprinzipien des Bundesstaates, der Republik, der Demokratie, des Sozialstaates sowie des Rechtsstaates. Die darin zum Ausdruck kommenden Grundsätze, die in Teil II untersucht werden, sind ebenso wie die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG, die Gliederung des Bundes in Länder und die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung gem. Art. 79 Abs. 3 GG der Verfassungsänderung entzogen. Die Verfassungsänderung, die im 7. Abschnitt („Die Gesetzgebung“) geregelt ist, ist im Grundgesetz auch durch formale Hürden erschwert. Zum einen bedarf es einer ausdrücklichen Textänderung der Verfassung, zum anderen sind besondere Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erforderlich.

48Art. 21 GG nennt ausdrücklich die Aufgabe der politischen Parteien, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ermöglicht jedoch auch ein Verbot oder einen Ausschluss von der staatlichen Finanzierung zulasten von Parteien, die auf eine Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgehen oder darauf ausgerichtet sind. Diese Möglichkeiten der staatlichen Sanktionierung von Parteien, die in Art. 18 GG vorgesehene Verwirkung von Grundrechten und das in Art. 20 Abs. 4 GG enthaltene Widerstandsrecht gestalten die Verfassungsordnung des Grundgesetzes als „wehrhafte Demokratie“ aus.

Von besonderer Bedeutung im 2. Abschnitt sind darüber hinaus Art. 23 GG, der die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland am Europäischen Einigungsprozess ermöglicht und ausgestaltet, Art. 28 GG, der eine grundsätzliche Homogenität von Bund und Ländern anordnet und mit dem Schutz der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) einen Staatsaufbau „von unten nach oben“ etabliert.

49Die Abschnitte 3–6 regeln die Rechtsstellung und Organisation der wichtigsten Verfassungsorgane. Diese werden in Teil III dieses Buches ausführlich dargestellt. Das Grundgesetz etabliert ein parlamentarisches Regierungssystem, in dem der Bundeskanzler als Regierungschef vom Bundestag als Parlament gewählt wird (Art. 63 Abs. 1 GG). Darüber hinaus stattet es den Bundesrat als Länderkammer mit besonderen Befugnissen aus, insbesondere im Gesetzgebungsverfahren. Ein wesentlicher Unterschied im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung besteht hinsichtlich der Kompetenzen des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt, die gegenüber denen des Reichspräsidenten deutlich zurückgenommen sind. Auch sieht Art. 67 GG kein destruktives, sondern nurmehr ein konstruktives Misstrauens­votum vor: Will der Bundestag dem Bundeskanzler sein Misstrauen aussprechen, muss er zugleich einen neuen Bundeskanzler bestimmen.

50Die Abschnitte 7–9 regeln die Staatsaufgaben der Gesetzgebung, der Ausführung von Bundesgesetzen und der Rechtsprechung. Dieses Lehrbuch folgt der Aufteilung des Grundgesetzes, wonach zunächst die Staatsorgane einzeln und sodann ihr Zusammenwirken im Rahmen der Wahrnehmung der einzelnen Staatsfunktionen dargestellt werden, und behandelt die Staatsaufgaben in Teil IV. Abschnitt 10 regelt die Finanzierung der Staatsaufgaben. Abschnitt 10a behandelt den hier nur kurz im Zusammenhang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für Einsätze der Bundeswehr zu erörternden Verteidigungsfall.

51Abschnitt 11 enthält Übergangs- und Schlussbestimmungen. Dort von besonderer Bedeutung ist der religionsrechtliche Art. 140 GG, der die Art. 136–139 sowie 141 WRV in das Grundgesetz inkorporiert. Diese enthalten die maßgeblichen Bestimmungen zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften (sog. Staatskirchenrecht) in Deutschland45. Als letzter Artikel des Grundgesetzes stellt Art. 146 ausdrücklich klar, dass dieses nach der vollzogenen Wiedervereinigung des Jahres 1990 für das gesamte deutsche Volk gilt. Seinen ursprünglich vorgesehenen Charakter als Provisorium hat das Grundgesetz damit verloren. Art. 23 GG, der in seiner ursprünglichen Fassung („Dieses Grundgesetz gilt zunächst…“) diesen provisorischen Charakter zum Ausdruck gebracht hatte, wurde am 3.10.1990 aufgehoben und 1992 als „Europa-Artikel“, der die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an einer Europäischen Union regelt, neu konzipiert. Darüber hinaus verweist Art. 146 GG auf die stets bestehende Möglichkeit des deutschen Volkes, als Inhaber der verfassunggebenden Gewalt das Grundgesetz durch eine neue Verfassung zu ersetzen.

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