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§ 9Die Weimarer Reichsverfassung

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29Zu einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Neubestimmung kam es nach der Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg. Die Forderung des amerikanischen Präsidenten Wilson nach einer Abdankung der „Beherrscher der deutschen Politik“ und die erfolgreiche Novemberrevolution der Soldaten und Arbeiter führten zur Abdankung Kaiser Wilhelms II., die Reichskanzler Max von Baden am 9.11.1918 bekanntgab: „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen.“ Am selben Tag proklamierten sowohl der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann als auch das Mitglied des „Spartakusbundes“ und der USPD Karl Liebknecht eine „deutsche Republik“. Die kurzzeitige Zusammenarbeit zwischen SPD und USPD im „Rat der Volksbeauftragten“ als provisorischer Regierung war durch den Streit um die zukünftige Ausgestaltung dieser Republik geprägt: Auf dem Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 20.12.1918 konnten sich schließlich die Delegierten der SPD mit ihrer Forderung, Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung abzuhalten, gegen den Antrag der USPD auf Schaffung einer sozialistischen Räterepublik durchsetzen. Bei der Wahl am 19.1.1919 waren erstmals in der deutschen Geschichte auch Frauen wahlberechtigt. Die Wahl wurde nach dem Verhältniswahlrecht durchgeführt. Aus ihr ging nach dem Austritt der USPD aus dem Rat der Volksbeauftragten und der Niederschlagung des sog. „Spartakusaufstands“ die SPD als stärkste Kraft hervor. Nach dem Zusammentritt der verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar, das einerseits von den revolutionären Unruhen verschont geblieben war und andererseits Assoziationen zur deutschen Klassik hervorrief, bildete die SPD zusammen mit Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei die sog. „Weimarer Koalition“. Friedrich Ebert wurde erster Reichspräsident, Philipp Scheidemann erster Ministerpräsident des Reiches. Die vom Berliner Staatsrechtslehrer Hugo Preuß vorbereitete und von der Nationalversammlung am 31.7.1919 angenommene Verfassung wurde vom Reichspräsidenten am 11.8.1919 ausgefertigt. Diese Verfassung, die nach ihrem Entstehungsort als „Weimarer Reichsverfassung“ bezeichnet wird10, ist die erste republikanische Verfassung Deutschlands (vgl. Art. 1 Satz 1 WRV): Alle Staatsgewalt hatte jetzt vom Volke auszugehen (Art. 1 Satz 2 WRV).

30Diese Merkmale der Volkssouveränität und der Demokratie wurden durch plebiszitäre Strukturen verstärkt. Die Verfassung sah sowohl Volksbegehren als auch Volksentscheid vor. Weitere Strukturprinzipien der Weimarer Reichsverfassung waren die parlamentarische Demokratie und der Föderalismus. Der Staat bestand aus dem Reich und den Ländern, wobei sich in den starken Kompetenzen des Reichs in den Bereichen Gesetzgebung und Verwaltung eine deutliche Tendenz zur Zentralisierung und Unitarisierung zeigte. Das Prinzip der Verfassungshomogenität (Art. 17 WRV) sollte eine zu starke Autonomie der Einzelstaaten, wie sie die Verfassung des Kaiserreichs noch ermöglicht hatte, ausschließen. Dieses Homogenitätsgebot findet sich heute in Art. 28 Abs. 1 GG.

31Zentrale Fragen der Verfassunggebung waren neben dieser Neubestimmung des Föderalismus die Ausgestaltung des Regierungssystems und die Aufnahme von Grundrechten in die Reichsverfassung. Das Staatsorganisationsrecht der Weimarer Reichsverfassung sah als zentrale Organe den Reichspräsidenten, den Reichstag, die Reichsregierung, den Reichsrat und den Reichswirtschaftsrat vor. Eine besonders starke Stellung („Ersatzkaiser“) kam dem Reichspräsidenten zu, der unmittelbar vom Volk für sieben Jahre gewählt wurde, wobei eine Wiederwahl ohne Einschränkung zulässig war (Art. 41 WRV). Über die gewöhnlichen Aufgaben des Staatsoberhaupts, die völkerrechtliche Vertretung, den Gesetzesvollzug und das Begnadigungsrecht, hinaus besaß der Reichspräsident das Recht zur Herbeiführung eines Volksentscheides über vom Reichstag beschlossene Gesetze (Art. 73 Abs. 1 WRV) und den (delegierbaren) Oberbefehl über die Wehrmacht (Art. 47 WRV) sowie einige starke politische Rechte, die der Rechtsstellung des Kaisers in der Reichsverfassung von 1871 ähnelten. Eine Einschränkung erfuhren seine Rechte dadurch, dass alle Anordnungen und Verfügungen der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler bedurften (Art. 50 WRV).

32Der Reichspräsident ernannte den Reichskanzler und die Reichsminister ohne Beteiligung des Reichstags (Art. 53 WRV), dem lediglich die Möglichkeit eines Misstrauensvotums verblieb: Dieses verpflichtete die Regierung zum Rücktritt, ohne dass es einer vorherigen Neuwahl bedurft hätte (Art. 54 WRV). Ein besonders großer Instabilitätsfaktor des Regierungssystems war dieses „destruktive Misstrauensvotum“, von dem sich die heutige Regelung des Art. 67 GG bewusst abgrenzt (sog. „konstruktives Misstrauensvotum“), jedoch nicht: durch ein Misstrauensvotum endeten lediglich drei Regierungen11.

Wesentlich größere Probleme bereitete das in der Verfassung für die Wahl des Reichstags vorgeschriebene System der reinen Verhältniswahl, das zu einer gravierenden Zersplitterung des Parlaments und damit Instabilität aller Regierungen führte. Zwar war der Reichspräsident bei der Ernennung des Reichskanzlers grundsätzlich nicht an die Zusammensetzung des Parlaments gebunden, in der Praxis wurde jedoch versucht, eine Führungspersönlichkeit zum Reichskanzler zu ernennen, die das Vertrauen der Mehrheit des Parlaments genoss, um den Beschluss der von der Regierung initiierten Gesetze durch das Parlament sicherzustellen. Ob die Berücksichtigung des Vertrauens des Reichstags eine rechtliche oder nur eine politische Voraussetzung der Regierungsernennung benannte, war in der Weimarer Staatsrechtslehre umstritten12.

Weiterhin konnte der Reichspräsident den Reichstag auflösen (Art. 25 WRV). Voraussetzungen dieser Auflösung nannte die Weimarer Reichsverfassung nicht; die einzige Beschränkung des Ermessens des Reichspräsidenten bestand darin, dass er den Reichstag aus dem gleichen Grund nur einmal auflösen durfte, was in der Praxis keine ernsthafte Hürde darstellte13. Insgesamt wurde der Reichstag achtmal vom Reichspräsidenten aufgelöst14.

33Besondere Bedeutung im Weimarer System kam dem Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Maßgabe von Art. 48 Abs. 2 WRV zu.

Die Norm lautet:

Artikel 48Weimarer Reichsverfassung

[…]

(2) Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.

(3) Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen.

[…]

(5) Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.

Auf Basis dieser Norm – ein konkretisierendes Reichsgesetz wurde nie erlassen und auch nicht für nötig erachtet – konnte der Reichspräsident unter Mitwirkung des Reichskanzlers weitgehend autonom tätig werden und dabei auch wesentliche Grundrechte außer Kraft setzen. Besonders weitreichende Bedeutung kam Art. 48 Abs. 2 WRV deshalb zu, weil unter „Maßnahmen“ auch, was nach dem Wortlaut alles andere als zwingend war, der Erlass von Rechtsnormen verstanden wurde. Wann immer der Reichstag seinen Rechtsetzungsaufgaben nicht nachkam, was wegen der Parteienzersplitterung häufig der Fall war, konnte der Reichspräsident sog. „Notverordnungen“ erlassen. Dies sowie das praktisch unkontrollierte Auflösungsrecht des Reichspräsidenten bezüglich des Reichstags und seine freie Ernennungsbefugnis hinsichtlich der Reichsregierung machten Art. 48 Abs. 2 WRV zu einem kaum kontrollierbaren Element präsidentieller Macht. Von ihm wurde insbesondere in der Zeit zwischen 1919 und 1925 durch Reichspräsident Ebert (mehr als 100 Notverordnungen, vor allem zu wirtschaftlichen Fragestellungen) sowie zwischen 1930 und 1932 durch Reichspräsident Hindenburg reger Gebrauch gemacht.

34Vom Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten streng zu unterscheiden sind die sog. Ermächtigungsgesetze15. Das Notverordnungsrecht stützte sich auf eine verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage und ermöglichte ausschließlich dem Reichspräsidenten, nicht etwa der Reichsregierung, den Erlass gesetzesvertretender Verordnungen, die auf Verlangen des Reichstags wieder außer Kraft zu setzen waren.

Ermächtigungsgesetze dagegen stellten vom Reichstag erteilte (ursprünglich befristete) Ermächtigungen an die Reichsregierung dar, Rechtsakte ohne Zusammentritt des Reichstags in Kraft zu setzen, delegierten also faktisch die Gesetzgebungszuständigkeit vom Reichstag auf die Regierung. Ohne dass dies in der Verfassung vorgesehen gewesen wäre, waren solche Gesetze von Anfang an üblich: zwischen 1920 und 1923 gab es insgesamt fünf Ermächtigungsgesetze16. Obwohl diese Gesetze zumindest mit der Begründung neuer Gesetzgebungszuständigkeiten verfassungsändernden Charakter hatten, erließ der Reichstag keines im Wege der formellen Verfassungsänderung. Da jedoch die verfassungsändernde Mehrheit jeweils gegeben war und es lediglich an der Textänderung fehlte, wurden die Ermächtigungsgesetze von der Weimarer Staatsrechtslehre als zulässige verfassungsdurchbrechende Gesetze angesehen17. Diese Möglichkeit der stillschweigenden Verfassungsänderung durch Gesetz wurde generell akzeptiert. Sofern die erforderliche Mehrheit gegeben war, sollte es zu deren Wirksamkeit nicht einmal darauf ankommen, ob sich der Gesetzgeber der Verfassungsänderung überhaupt bewusst war18. Im Ergebnis stellte dies den Inhalt der Weimarer Reichsverfassung zur Disposition des Gesetzgebers.

35Zwar etablierte die Weimarer Reichsverfassung einen Staatsgerichtshof, aber auch diesem kam keine Möglichkeit zu, Verfassungsänderungen und die Gesetzgebung zu kontrollieren. Er war gem. Art. 15, 18 und 19 WRV auf die Entscheidung in Rechtsstreitigkeiten zwischen Reich und Land, zwischen Ländern und Anklageverfahren gegen Regierungsmitglieder wegen vorsätzlicher Verfassungsverletzungen beschränkt. Verfahren der Normenkontrolle oder des Organstreits19 gab es ebenso wenig wie die Möglichkeit einer auf die Verletzung subjektiver Rechte gestützten Verfassungsbeschwerde. Insgesamt waren die im zweiten Teil der Weimarer Reichsverfassung enthaltenen Grundrechte ein schwaches Instrument: ihre Bindungswirkung war nicht ausdrücklich geregelt, häufig wurden sie als bloße Programmsätze verstanden. Die Zulässigkeit der materiellen Verfassungsänderung durch einfaches Gesetz (Verfassungsdurchbrechung) und die mangelnde verfassungsgerichtliche Kontrolle stellen somit weitere Defizite der Weimarer Reichsverfassung dar.

36Die Zersplitterung des Parlaments, die eine Gesetzgebung im ordnungsgemäßen Verfahren schwierig machte, führte zu häufigen Regierungswechseln: insgesamt hatte die Weimarer Republik zwischen 1919 und 1933 18 Regierungen, wobei das am längsten tätige Kabinett unter Hermann Müller zwischen 1928 und 1930 auf 22 Monate Regierungstätigkeit kam20. Dies zeigt deutlich die Instabilität des Regierungssystems der Weimarer Reichsverfassung.

37Insgesamt traf die konsequent demokratische rechtsstaatliche Weimarer Reichsverfassung auf eine Gesellschaft, die – in Klassen- und Interessengegensätzen zerrissen – für sie nicht reif war. Sie bot nicht ausreichend Schutz davor, Objekt politischer Opportunität zu werden. Zusammenfassend können folgende „Konstruktionsfehler“ der Weimarer Verfassung festgehalten werden, die für den Untergang der Weimarer Republik mitursächlich gemacht werden:

– Das Verhältniswahlsystem und die damit verbundene Zersplitterung des Parlaments.

– Die Instabilität der Regierungen infolge der parlamentarischen Zersplitterung.

– Die Möglichkeit eines destruktiven Misstrauensvotums.

– Das jederzeitige Auflösungsrecht des Reichspräsidenten zu Lasten des Reichstags.

– Das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten einschließlich der Außerkraftsetzung von Grundrechten.

– Die Möglichkeit einer Verfassungsänderung durch einfaches Gesetz (Verfassungsdurchbrechung) und die hieraus resultierende Etablierung von Ermächtigungsgesetzen.

– Die fehlende verfassungsgerichtliche Kontrolle der Tätigkeit der Staatsorgane und der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen.

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