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2.1 Ciceros Erkenntnistheorie

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Um Ciceros Konzept der Menschenwürde verorten zu können, ist zunächst darzulegen, auf welcher Erkenntnistheorie seine Philosophie beruht. Es wurde bereits erwähnt, dass Cicero Skeptiker ist. In welcher Form sein Skeptizismus auftritt, erörtere ich im Folgenden:

Es wird an zahlreichen Stellen innerhalb Ciceros Werk deutlich, dass die Suche nach der Wahrheit eine Aufgabe des Menschen ist12, denn Erkenntnis ist notwendig, „weil sie Bedingung der Möglichkeit sei, glückselig zu werden“ (Hossenfelder 1985, 22; Luc. 36). Jedoch wird ebenso deutlich, dass er mit der Meinung der akademischen Skepsis übereinstimmt, gemäß der nur das Wahrscheinliche zu erreichen sei.13 Die objektive Wahrheit zu erreichen sei jedoch unmöglich.14 Cicero geht davon aus, „dass nichts mit Gewissheit erkannt werden könne, dass aber der Weise dem Nichtgewissen zustimmen, d.i. meinen (opinari) werde, so jedoch, dass er sich seines Meinens bewusst sei und wisse, dass es nichts gebe, was mit Gewissheit erkannt werden könne“ (Luc. 148).

Um das Wahrscheinliche zu erfassen, griff er auf die Methode des „utramque partem disputare (Das Für und Wider erörtern) [zurück.] Wenn nun ein Mann dieses so ermittelbare Wissen mit forensischer Erfahrung und stetigen Üben verbindet, dann wird er der ‚wahre, der perfekte, der alleinige Redner‘ sein“ (Maurach 1997, 60). Bei der Anwendung der Methode ist wichtig, dass „beide Seiten zu Wort kommen und gehört werden (in utramque partem dicendo et audiendo) [, um] etwa hervorzulocken und gewissermaßen herauszuquetschen, was entweder wahr ist oder möglichst nahe an die Wahrheit herankommt“ (Leonhardt 2000, 62; Luc.). Cicero geht nicht so weit und zweifelt an der Möglichkeit, das Wahrscheinliche zu erkennen. Zu einem radikalen postmodernen Relativismus, bei dem jede Auseinandersetzung mit der Erkenntnis zu einem Spiel wird, wobei es unmöglich wird, zwischen besseren und schlechteren Spielen zu unterscheiden, gelangt er nicht. „(Wir würden uns widersprechen), wenn wir das Wahre vollständig aufhöben. Wir tun dies nicht, denn wir nehmen sowohl wahre wie falsche Dinge wahr. Jedoch gibt es nur den Charakter der Glaubhaftigkeit, ein Zeichen sicherer Erkenntnis haben wir nicht.“15 Schließlich weiß er ganz genau, dass ohne die Unterscheidung von Glaubhafterem und weniger Glaubhaftem das Leben unmöglich wird. Man wäre nicht mehr in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. „Es ist gegen die Natur, dass nichts glaubhaft sein soll, und es folgt daraus jene Zerstörung des gesamten Lebens.“16 Schließlich geht es um „ein Kriterium für die Lebensführung und für den Erwerb der Glückseligkeit“.17

Trotzdem gibt Cicero zu, dass es dem Weisen geschehen kann, „dass ihm trotz alles umfassender, sorgfältigster Prüfung etwas wahrscheinlich erscheine, was dennoch sehr weit vom Wahren entfernt sei“18. Daran wird deutlich, dass die akademische Skepsis und damit auch Ciceros Philosophie davon ausgehen, dass Täuschung nie ausgeschlossen werden kann. Es ist jedoch nicht der Fall, dass sich widersprechende Sätze den gleichen Grad an Glaubhaftigkeit besitzen, wie dies bei der pyrrhonischen Skepsis der Fall ist.19

Auch der Weise könne irren. Hossenfelder betont, dass Cicero mit Recht behaupte, „einen Grundsatz Epikurs verwendend, dass der Nachweis, dass eine falsche Vorstellung einmal ‚glaubhaft‘ war, genüge, um alles zweifelhaft zu machen“20

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Cicero geht sogar so weit zu behaupten, „dass es zwischen wahren und falschen Vorstellungen für die Zustimmung des Verstandes keinen Unterschied gibt“21. Obwohl er davon ausgeht, dass der Verstand nicht zwischen wahren und falschen Vorstellungen unterscheiden kann, soll die Möglichkeit, einen Irrtum zu erkennen, ebenso möglich sein. Um jedoch einen Irrtum erkennen zu können, muss man ein Kriterium für Wahrheit haben. Hossenfelder hat herausgefunden, „dass das Kriterium die ‚Normalität‘ der Erkenntnisbedingungen sei und dass unsere Vorstellungen ‚im großen und ganzen‘ die Welt so darstellen, wie sie wirklich sei“ (1985, 20). Die Beispiele, die Cicero und Sextus anführen, um die Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Irrtum aufzuzeigen, „weisen nach, wie unter besonderen subjektiven oder objektiven Bedingungen, wie Wahn oder Traum oder sehr große Ähnlichkeit der Gegenstände, falsche Vorstellungen die Handlungen bestimmen, woraus geschlossen wird, dass sie für den Handelnden ebenso ‚glaubhaft‘ sind wie wahre Vorstellungen“ (Hossenfelder 1985, 17). Das Wahrheitskriterium bezieht sich hier nur auf Fälle der sinnlichen Erkenntnis. Es lässt sich zusammenfassen, dass keine Unterschiede zwischen wahren und falschen Vorstellungen für den Verstand, die ratio, vorhanden seien und man bei der sinnlichen Erkenntnis, insbesondere bei unnormalen Zuständen, zum Irrtum gelangen könne. Trotzdem geht Cicero davon aus, dass bestimmte Urteile bezüglich der Wahrheit, und diese ist eine notwendige Voraussetzung für das gute Leben, plausibler sind als andere.

Cicero ist kein Opfer des Lügner-Paradoxons. Seine Erkenntnistheorie geht nicht von der selbstwidersprüchlichen Theorie aus: Es ist gewiss, dass nichts gewiss sein kann. Ihm war klar, dass er, um konsistent zu sein, davon ausgehen musste, „dass auch der Satz, dass nichts gewiss sei, nicht gewiss sei“ (Hossenfelder 1985, 22; Luc. 28). Diese Erkenntnis wurde sogar als „die wohl glänzendste Durchführung des ‚skeptischen Selbsteinschlusses‘ (d.h. der Satz – nichts ist sicher erkennbar – ist selbst nicht sicher erkennbar), die wir aus der Antike besitzen“, bezeichnet (Leonhardt 2000, 67). Hossenfelder versucht jedoch aufzuzeigen, dass Ciceros Erkenntnistheorie in sich widersprüchlich ist:

„Wenn Cicero sagt, das ‚Nichts kann erkannt werden‘ dürfe selbst nur als ‚glaubhaft‘, nicht aber als gewiss verstanden werden, dann heißt das, dass der Nachweis, dass bestimmte ‚glaubhafte‘ Vorstellungen falsch seien, nur ‚glaubhaft‘ zu sein beanspruche. Das hätte den Gewinn, dass auch die dogmatische Voraussetzung einer sicheren Erkenntnis falscher Vorstellungen als solcher nicht mehr nötig wäre; sie widerstritte sogar und müsste aufgegeben werden. Dann lässt sich jedoch der akademische Beweis nicht mehr führen. Denn wenn die Vorstellung, dass eine andere ‚glaubhafte‘ Vorstellung falsch sei, selbst nur glaubhaft ist, also auch falsch sein kann, so hat man keinen Grund ihr mehr zu trauen als der anderen.“ (Hossenfelder 1985, 25)

Dieser Schluss ist an verschiedenen Stellen falsch: 1. Wie Hossenfelder selbst herausgestellt hat, haben sich die Beispiele Ciceros, an denen „die dogmatische Voraussetzung einer sicheren Erkenntnis falscher Vorstellungen“ festgemacht wurde, nur auf empirische Erkenntnisse bezogen. Es besteht kein Grund, diese Voraussetzung auch auf metaphysische Erkenntnisse zu übertragen. 2. Selbst wenn es verschiedene glaubhafte Vorstellungen gibt, die alle falsch sein können, hat jeder Mensch Präferenzen, was bedeutet, dass für ihn unterschiedliche Positionen eine unterschiedliche Glaubhaftigkeit besitzen. Da wir handeln und auswählen müssen, bleibt uns nichts anderes übrig, als nach dem zu handeln, was wir für glaubhafter erachten. Dies kann nur geschehen, indem man eine Wahl trifft und somit eine Handlung den anderen möglichen Handlungen vorzieht. Wenn man das, was einem plausibler erscheint, vorzieht, dann ist dies die einzig mögliche Basis, auf der eine Entscheidung für eine Handlung getroffen werden kann. Die Möglichkeit, dass beide Positionen falsch sein können, spielt keine Rolle. Es reicht, dass man sie für glaubhafter erachtet. Hossenfelder führt jedoch noch weitere Gründe gegen Ciceros Erkenntnistheorie an:

„Man kann auch nicht verschiedene Grade der ‚Glaubhaftigkeit‘ zu Hilfe nehmen, weil es den Akademikern ja gerade darauf ankam, den Stoikern die mögliche Falschheit des höchsten Glaubhaftigkeitsgrades, der Evidenz, zu beweisen. Sie brauchten also Gewissheit. Wenn es aber gewiss ist, dass evidente Vorstellungen täuschen können, dann ist auch gewiss, dass die ‚Glaubhaftigkeit‘ als Wahrheitskriterium ausscheidet, und wenn die Akademiker hieraus schlossen, dass nichts gewiss sein kann, dann müsste dieser Satz für sie gewiss sein.“ (Hossenfelder 1985, 22)

Auch dieser Schluss ist nicht notwendigerweise zutreffend. Wenn die Skeptiker beweisen wollen, dass die Stoiker Unrecht haben, wenn diese Evidentes notwendigerweise mit der Wahrheit identifizieren, dann können sie dies nicht, wenn von einem Beweis die Notwendigkeit gefordert wird. Dann würde man von einem Beweis eines Skeptikers jedoch etwas fordern, das dieser von vorneherein zu leisten nicht im Stande ist und auch gar nicht beabsichtigt. Verschiedene Grade der Plausibilität plausibel zu machen ist hingegen durchaus möglich. Um die skeptische Grundhaltung, dass jede Weltanschauung eine Interpretation ist und somit falsch sein kann, zu widerlegen, müsste man aufzeigen, dass eine Weltanschauung notwendigerweise wahr ist. Dies ist bislang nicht gelungen. Die Tatsache, dass dies bislang nicht gelungen ist, kann als Grund gedeutet werden, der für die Plausibilität dieser epistemologischen Grundposition spricht. Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein Grund, der für diese Form des Skeptizismus spricht und sie für wahrscheinlich gelten lassen kann. Dies bedeutet zwar nicht, dass diese Position wahr ist, trotzdem kann sie als plausibler als alle anderen angesehen werden, da es noch keine Theorie geschafft hat zu zeigen, dass sie die einzig wahre ist. Dass sie jedoch noch nicht widerlegt wurde, kann als Grund gelten, der für sie spricht und die Wahrscheinlichkeit ihrer Angemessenheit erhöht. Es ist außerdem durchaus vernünftig, auf das zu vertrauen, was wahrscheinlicher ist, als auf das, was unwahrscheinlicher ist, schließlich hat man für die eine Theorie einen Grund, für die andere jedoch nicht. Natürlich könnte das, was unwahrscheinlicher ist, durchaus wahr sein, jedoch besteht die praktische Notwendigkeit zu handeln und Entscheidungen zu treffen, und dann sollte man klugerweise nicht davon ausgehen, dass das, was unwahrscheinlicher ist, wahr ist, sondern klugerweise darauf hoffen, dass das, was wahrscheinlicher ist, wahr ist.

Außerdem haben wir gesehen, dass sich nur bei empirischen Erkenntnissen gezeigt hat, dass das, was glaubhaft ist, auch falsch sein kann. Bei Fragen bezüglich der metaphysischen Wahrheit kann sich nicht gezeigt haben, dass das, was glaubhaft ist, falsch ist. Für eine solche Feststellung benötigte man nämlich ein Kriterium für Wahrheit. Da wir dieses aus der Sicht Ciceros nicht besitzen, wir jedoch Antworten auf diese Fragen benötigen, da sie eine notwendige Voraussetzung für das gute Leben sind, bleibt uns keine andere Wahl, als darauf zurückzugreifen, was wir für glaubhaft halten. Es stellt sich nur die Frage, auf wen sich das „wir“ bezieht, das die Vorstellungen für glaubhaft zu halten hat. Das „wir“ kann sich auf Cicero, die römischen Aristokraten, die römische Bevölkerung oder alle Menschen beziehen. Über die Stoiker sagt Cicero: „Dieselben Dinge, die ihr mit Gewissheit zu erkennen (percipi comprendique) vorgebt, nennen wir, gesetzt nur, dass sie glaubhaft sind, wahrscheinlich (videri).“22 Aufgrund des Kontextes dieser Aussage schließe ich, dass das „wir“ sich nicht auf Cicero alleine, sondern auf die, die sich mit der Weisheit beschäftigen (die Weisen), bezieht. Sie alle erachten nach Cicero das Gleiche für plausibel. Dies wiederum sei das, was der Wahrheit am nächsten komme. Dabei sei zu beachten, dass die Weisheit nicht alleine mit der ratio zu erlangen sei. Schließlich betont Cicero, dass der Verstand alleine uns nicht zwischen Wahrem und Unwahrem unterscheiden lässt. Der Grund, der eine wahrscheinliche Theorie von einer unwahrscheinlichen unterscheidet, werde nur unter den Weisen als ein relevanter Grund angesehen. Dass es Weise gebe, deren Urteil zu bevorzugen sei, sei wiederum nur glaubhaft, aber Glaubhaftigkeit genüge, um sich für etwas zu entscheiden. Wenn man die Möglichkeit der Glaubhaftigkeit auf persönlicher Ebene bezweifelt, dann widerspricht dies jeder Erfahrung. Menschen halten manches für glaubhafter als anderes. Somit könnte die Position, dass keine Position für glaubhafter als eine andere wahrgenommen wird, mit dem Hinweis widerlegt werden, dass sowohl die Weisen als auch die Masse der Menschen stets eine Unterscheidung bezüglich der Glaubhaftigkeit getroffen haben und dies als Kriterium für die Glaubhaftigkeit dieser These ausreicht. Und es ist gut, dass nicht alle Positionen die gleiche Glaubhaftigkeit haben, schließlich müssen wir Entscheidungen treffen und bei jeder Entscheidung ist eine Handlung den anderen vorzuziehen. Selbst wenn man entscheidet, nicht zu handeln, ist dies eine Entscheidung. Wir treffen dann die Entscheidung, nicht zu handeln.

Auf der Basis dieser Erkenntnistheorie kann Cicero sowohl eine Metaphysik vertreten als auch Skeptiker sein. Um zu einer Metaphysik zu gelangen, müsse man die ratio nutzen und „nach beiden Seiten Argumentieren“, denn die Vorgehensweise „diente der Gewinnung des ‚Glaubhaften‘, ‚weil das Glaubhafte nicht hervorleuchten könnte, wenn man in den Streitfragen nicht beide Standpunkte verteidigt hätte‘“ (Hossenfelder 1985, 28; De off. II 8). Auf diese Weise nähere man sich der Wahrheit an, die das gute Leben mit sich bringe. Hossenfelder liegt somit bezüglich der folgenden These nicht richtig: „Ein kontinuierliches absolut richtiges Verhalten ist letztlich reiner Zufall, und es ist ebenso die Möglichkeit eines kontinuierlichen Fehlverhaltens denkbar“ (1985, 29).

Da die Stoiker, wie Cicero, die Tugend der Weisheit besitzen, kommen sie, abgesehen von der Erkenntnistheorie, zu ähnlichen Erkenntnissen. Pohlenz betont treffend, dass Cicero mehrfach hervorhebt, „dass er nicht etwa die stoische Theologie für falsch halte, sondern nur die zwingende Beweiskraft ihrer Argumente bestreite“ (1959, 270).

Die vorangegangene Abhandlung hat ergeben, dass Cicero einen moderaten Skeptizismus vertritt, d.h., er geht davon aus, dass sowohl empirische als auch metaphysische Erkenntnisse falsch sein können. Dass empirische Urteile falsch sein können, unterstreicht er durch die Beschreibung von Beispielen, bei denen sie falsch waren. Eine Falsifizierbarkeit von empirischen Urteilen sei somit möglich. Dies unterstreiche seine Grundhaltung der Skepsis bezüglich empirischer Urteile. Metaphysische Urteile erlange man insbesondere mithilfe der ratio und der Tätigkeit des „nach beiden Seiten Argumentieren“. Bezüglich der auf diese Weise erlangten Urteile könne man sich nicht sicher sein, ob man sich so der Wahrheit annähert. Schließlich sei es denkbar, dass sich auf diese Weise ausschließlich stets feinere vom Menschen erschaffene Theorien entwickeln, die nichts mit der Wahrheit zu tun haben. Es sei jedoch so, dass Cicero eine Basis für sein Handeln benötigt, handeln muss und davon ausgeht, dass die hier beschriebene Methode das beste ist, das er tun kann, um sich der Wahrheit bezüglich der Frage nach dem Guten und dem Sein anzunähern, was die anderen Personen, die sich mit metaphysischen Fragen auseinandersetzen, teilen. Im Unterschied zu empirischen Urteilen seien metaphysische nicht falsifizierbar, da man dafür die sichere Erkenntnis eines falschen metaphysischen Urteils erlangen können müsste, was Cicero aufgrund seines Skeptizismus für unmöglich hält. Die im Folgenden beschriebenen metaphysischen Erkenntnisse Ciceros wurden alle auf die hier thematisierte Weise erlangt und haben den Status des für die Weisen Wahrscheinlichen inne.

Menschenwürde nach Nietzsche

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