Читать книгу Menschenwürde nach Nietzsche - Stefan Lorenz Sorgner - Страница 19
2.2.1 Vernunft
ОглавлениеCicero macht deutlich, dass die Verbundenheit der gesamten Menschheit (dieser Zusammenhalt beruht auf der Gemeinsamkeit der ratio) an das gemeinsame Denk- und Redevermögen, das Lehren und Lernen, das Gespräch mit- und gegeneinander und das Urteilen gebunden ist.23 Weitere Aspekte der ratio werden anhand von Ciceros Unterscheidung von Mensch und Tier deutlich.
Der Mensch unterscheide sich vom Tier wie folgt: Tiere sind sich nur der Gegenwart bewusst, Menschen besitzen ein Erinnerungsvermögen und sind sich somit auch der Vergangenheit bewusst. Diese Aspekte seien nach Cicero zwar nur beim Menschen vorhanden, aber die Vernunft ermögliche den Menschen, Pläne für die Zukunft zu schmieden, Schlussfolgerungen zu ziehen und sich sprachlich zu verständigen. Diese Fähigkeiten setze der Mensch insbesondere dafür ein, um sowohl sein eigenes als auch das Leben seiner Familie und Freunde zu verbessern, mit denen er besonders eng verbunden ist. Weiterhin lasse ihn die Vernunft nach Erkenntnis streben, sobald er frei von Arbeiten ist, die für das Überleben notwendig sind. Cicero hält dieses Streben für „notwendig zum glücklichen Leben“ (De off. I 11ff). Darauf gehe ich genauer ein, wenn ich auf die Tugend der Weisheit zu sprechen komme. Durch die Vernunft sollen Menschen außerdem Schönheit und Harmonie erkennen.24
Die beschriebenen Eigenschaften legen nahe, dass nach Cicero Kleinkinder noch keine Vernunft haben, denn sie können noch nicht sprechen. Eine Möglichkeit für Cicero wäre es jedoch, davon auszugehen, dass bereits die Seelen der Kinder vernunftfähig sind, ihre Körper aber noch nicht in der Lage sind, diese Fähigkeit auszudrücken. Eine weitere Möglichkeit wäre es, darauf zu verweisen, dass Kinder potenziell vernunftfähig sind. Dann müsste es jedoch auch so sein, dass die Würde an die potenzielle Vernunftfähigkeit gebunden ist, wenn man behauptet, dass auch Kleinkinder Würde haben. Die Begründung der Würde impliziert direkt deren Extension. Zu behaupten, die Würde sei an die aktuelle Vernunftfähigkeit gebunden, was der Fall wäre, wenn man in der Lage ist zu sprechen, impliziert, dass nur Wesen mit aktueller Vernunftfähigkeit Würde haben. Wesen, die potenzielle Vernunftfähigkeit besitzen, hätten keine Würde, da Würde nur an die aktuelle Vernunftfähigkeit gebunden ist. Damit wir das Verhältnis von Würde, Vernunft und Seele klären können, muss also noch genauer auf die Seele eingegangen werden.25