Читать книгу Menschenwürde nach Nietzsche - Stefan Lorenz Sorgner - Страница 7
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1 Einleitung
In dieser Abhandlung setze ich mich mit der Frage auseinander: Wie ist der gegenwärtige normative Begriff der Menschenwürde unter besonderer Berücksichtigung der Kritik des Moralkritikers Nietzsche einzuschätzen? Meine These ist: Hinsichtlich des gegenwärtigen normativen Begriffs der Menschenwürde besteht Revisionsbedarf, insbesondere bezüglich des Merkmals der Sonderstellung des Menschen in der Welt. Bei der Behandlung der Frage habe ich mich speziell mit Nietzsches Kritik des Begriffs „Menschenwürde“ auseinandergesetzt, da Nietzsche einer der schärfsten Kritiker von Normen und auch der Menschenwürde ist und ich seine Kritik für hilfreich erachte, um die Plausibilität der Menschenwürde besser einschätzen zu können. Ich gehe dabei wie folgt vor:
In der Einleitung wird der Menschenwürde-Begriff, der innerhalb dieser Arbeit verwandt wird, formal und analytisch gefasst. Dabei erläutere ich, welche Begriffe das Wort „Würde“ umfassen kann, welche Probleme mit dem Wort „Menschenwürde“ zusammenhängen und welche möglichen Aspekte bei der Klärung des Begriffs hinsichtlich der Zusammenhänge von Begründung, Extension und Implikationen bezüglich von Rechten und Pflichten berücksichtigt werden können. Hierbei gebe ich sicherlich keine umfassende Begriffserläuterung, jedoch gehe ich davon aus, eine klare Definition von dem Begriff zu vermitteln, der für diese Arbeit relevant ist. Eine wichtige Unterscheidung wird die zwischen der kontingenten und der notwendigen Menschenwürde sein. Die Bedeutung der auf den ersten Blick möglicherweise problematischen Ausdrücke „kontingente Menschenwürde“ und „notwendige Menschenwürde“ wird in diesem Rahmen herausgearbeitet.
Im Anschluss stelle ich zwei wichtige Diskurse vor, die die Problematik, aber auch die Relevanz des Menschenwürde-Begriffs verdeutlichen: 1. die Rolle des Begriffs „Menschenwürde“ in rechtlichen Kontexten; 2. die Bedeutung des Begriffs „Menschenwürde“ in bioethischen Diskursen. Hier stelle ich besonders heraus, dass der Begriff häufig im Verdacht steht, inhaltlich leer zu sein. Trotzdem kommt dem Begriff eine enorme Bedeutung innerhalb zahlreicher Verfassungen zu, u.a. im Grundgesetz der BRD. Zwei unterschiedliche einflussreiche Traditionslinien der Kommentierung des Artikels 1 des deutschen Grundgesetzes werden thematisiert und problematisiert. Als einen weiteren Bereich, für den der Begriff zentral ist, greife ich exemplarisch den der Bioethik heraus und erwähne kurz Fragestellungen, die bezüglich des Verhältnisses des Menschenwürde-Begriffs und Problemen am Lebensanfang und -ende auftreten.
Die Arbeit ist in drei Abschnitte untergliedert. Im ersten Teil stelle ich vier Menschenwürde-Konzepte dar, die paradigmatisch die vier wichtigsten Möglichkeiten der Begründung des Begriffs der notwendigen Menschenwürde repräsentieren (Kapitel 2 bis 5). Nietzsches explizite Kritik des Begriffs „Menschenwürde“ wendet sich nur gegen den Begriff der notwendigen Menschenwürde.
Im zweiten Teil deute ich Nietzsches explizite Kritik des Begriffs der notwendigen Menschenwürde, die aus seiner Sicht auf vier Irrtümern beruhe (Kapitel 6). Ich lege Varianten der Deutung der Irrtümer dar und zeige auf, inwiefern sie sich gegen die Begründungen der Menschenwürde richten, die von den im ersten Teil näher thematisierten Denkern gegeben wurden.
Im dritten Teil reflektiere ich über die Bedeutung von Nietzsches Kritik der notwendigen Menschenwürde für die gegenwärtige Diskussion, wobei ich auch Nietzsches implizite Kritik der kontingenten Menschenwürde thematisiere (Kapitel 7). In diesem Zusammenhang setze ich mich kritisch mit Nietzsches radikaler Ablehnung sowohl der notwendigen als auch der kontingenten Menschenwürde auseinander und erörtere, ob und, wenn ja, in welcher Form die Menschenwürde als normativer Begriff beizubehalten ist.
Nach dieser Kurzzusammenfassung der einzelnen Teile soll die Argumentationsstruktur der Arbeit noch etwas detaillierter hervortreten:
Im ersten Hauptteil der Arbeit stelle ich die paradigmatisch bedeutendsten Konzeptionen der notwendigen Würde vor. Hier habe ich die Positionen Ciceros, Manettis, Pico della Mirandolas und Kants ausgewählt, da bei ihnen nicht nur, formal betrachtet, ein Menschenwürde-Begriff auftritt, wie er von Nietzsche kritisiert wird und wie er für gegenwärtige Debatten der Angewandten Ethik relevant ist, sondern bei ihnen ist der Begriff auch in eine komplexe Weltanschauung eingebunden. Außerdem repräsentieren diese vier Denker paradigmatisch die wichtigsten Arten der Begründung des Begriffs „Würde“. Bei Cicero liegt die Würde in der Vernunftfähigkeit oder der Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“ (Spezieszugehörigkeit) begründet, bei Manetti in der Gottebenbildlichkeit, bei Pico im freien Willen und bei Kant in der Autonomiefähigkeit. In allen vier Fällen ist die Würde jedoch in eine komplexe Ethik1 eingebunden und kann nur vor dem Hintergrund der zahlreichen Verstrickungen in ihrer Komplexität nachvollzogen werden. Aus diesem Grund sind die vier Kapitel des ersten Hauptteils wie folgt und analog gegliedert:
In einer kurzen Einleitung mache ich einige allgemeine Bemerkungen zum jeweiligen Denker, um dessen Position historisch und systematisch besser einzuordnen. Dann gehe ich auf die erkenntnistheoretische Grundlage der jeweiligen Würdekonzeption ein, denn nur diese Erörterung ermöglicht nachzuvollziehen, wie der Denker zu seiner eigenen Begründung gekommen ist. Eine angemessene Möglichkeit, um gegen die jeweilige Begründung zu argumentieren, wird hier sein, dass gegen die Plausibilität der Erkenntnistheorie der Begründung argumentiert wird. Im darauf folgenden Abschnitt thematisiere ich die jeweilige Begründung der Würde. Eine umfassende Darstellung der jeweiligen Würdekonzeption kann jedoch nur erfolgen, wenn außerdem analysiert wird, was das Hauptanliegen der Ethik des jeweiligen Denkers ist, welche Rolle die Würde innerhalb der Ethik spielt und welche Forderungen und Implikationen (Rechte, Pflichten, Tugenden etc.) die jeweilige Ethik hat. Hierbei wird sowohl deutlich, dass die zentrale Frage der Ethik der dargestellten Positionen die nach dem höchsten Gut ist und deren Würdekonzepte für die jeweilige Ethik allenfalls von marginaler, sicherlich nicht von zentraler Bedeutung sind. Weiterhin wird ersichtlich, dass deren Würdekonzepte stets in komplexe Metaphysiken eingebunden sind, die für ihre Gültigkeit notwendig sind. Abschließend fasse ich zentrale Punkte der dargelegten Würdekonzeption kurz zusammen.
Im zweiten Hauptteil analysiere ich die Argumente Nietzsches gegen den Begriff der notwendigen Würde. Der Begriff des Arguments darf hier nicht im strengen Sinne eines Syllogismus verstanden werden. Vielmehr bemüht sich Nietzsche darum aufzuzeigen, dass die Menschenwürde auf Irrtümern beruht, wobei ich die speziellen Irrtümer genauer erörtere. Auf diese Weise liefert Nietzsche letztendlich vier abstrakte Gründe gegen notwendige Menschenwürde-Konzepte, die durch zahlreiche Teilargumente untermauert werden. Nietzsche argumentiert dabei nicht direkt gegen eine der im ersten Hauptteil vorgestellten Theorien. Trotzdem lehnt er alle Begründungen ab, die von den Ethikern im ersten Teil vorgestellt werden.
In jeder umfassenderen Arbeit zu Nietzsche muss zunächst geklärt werden, auf welcher Basis und auf welchem Grundverständnis die Darstellung der Philosophie Nietzsches geschieht. Ich gehe sowohl auf meine Textauswahl als auch auf die Begründung der Textauswahl ein. Es macht einen großen Unterschied, ob man sich mit der Philosophie seiner Früh-, Mittel- oder Spätperiode auseinandersetzt, genauso wie es wichtig ist zu klären, wie man mit den, bei Nietzsche in großem Umfang vorhandenen, nicht von ihm selbst publizierten Schriften umgeht. Außerdem gebe ich eine kurze Zusammenfassung von Nietzsches Aussagen zu den vier im ersten Kapitel erwähnten Denkern, damit deutlich wird, warum ich mich hier nicht mit der expliziten Kritik Nietzsches an den Würdekonzepten der vier Denker auseinandersetze, sondern mit seiner impliziten Kritik an den Positionen der vier Denker und seiner expliziten Kritik an der notwendigen Menschenwürde. Nachdem ich die Basis meiner Nietzsche-Exegese erläutert habe, fasse ich einige Grundlagen seines Denkens zusammen, die von zentraler Relevanz für seine Menschenwürde-Kritik sind. Hierzu zählen seine Erkenntnistheorie, seine Lehre vom Willen zur Macht und seine Ethik. Im Anschluss beschäftige ich mich mit Nietzsches vierteiliger Würdekritik (die vier Irrtümer, auf denen die Würde beruhe). Jedem der vier Teile widme ich ein spezielles Kapitel. Nach Nietzsche beruht die Konzeption der Menschenwürde darauf, dass der Mensch sich erstens nur unvollständig erkennt, zweitens Eigenschaften zum eigenen Wesen hinzudichtet, drittens von einer falschen Rangordnung des Menschen zum Tier und der Natur ausgeht und viertens innerhalb nicht vorhandener ewiger und unbedingter Gütertafeln enthalten ist. In den jeweiligen Kapiteln steht eine Darlegung der so genannten Irrtümer im Mittelpunkt. Hierbei gehe ich auf Nietzsches Kritik an Begründungen der notwendigen Menschenwürde ein, auf die Nietzsche implizit hinweist, die sich jedoch an unterschiedlichen Stellen innerhalb seines Werks finden lassen und somit rekonstruktiv von mir kompiliert werden.
Im dritten Hauptteil der Arbeit reflektiere ich über den Begriff der Menschenwürde in der Gegenwart, wobei ich zunächst die Bedeutung von Nietzsches expliziter Kritik an der notwendigen Menschenwürde analysiere, indem ich darstelle, wie heutzutage mit Konzepten der notwendigen Menschenwürde umgegangen wird. Da in der Gegenwart kontingente Würdebegründungen weiter verbreitet sind als notwendige, wende ich mich diesen zu, stelle fest, dass Nietzsche diese implizit ebenfalls kritisiert, und stelle seine Kritikpunkte dar. Nach der Darlegung, dass sich Nietzsche implizit und explizit gegen alle Arten des Begriffs „Menschenwürde“ wendet, stelle ich Nietzsches Alternativvorschlag dar, der einen neuen Begriff der Würde beinhaltet und eine Entwicklung hin zum Übermenschen fördern soll. Um Nietzsches Kritik am Begriff der Menschenwürde sowie seinen Gegenentwurf kritisch einschätzen zu können, erläutere ich meine eigene Einschätzung der Positionen Nietzsches. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass ein Großteil seiner Philosophie plausibel ist, jedoch zentrale Elemente seines Denkens auch kritisiert werden müssen, was dazu führt, dass Nietzsches radikale Kritik der Menschenwürde nicht geteilt werden muss. Im Rahmen dieser Überlegungen stellt sich heraus, dass insbesondere ein zentrales Element der Menschenwürde, das Nietzsche ebenfalls kritisiert hat, an Plausibilität eingebüßt hat: die Sonderstellung des Menschen in der Welt. Abschließend stelle ich Reflexionen darüber an, welche Konsequenzen mit dem Verlust der Plausibilität der menschlichen Sonderstellung in der Welt einhergehen.