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1.1 Der Begriff „Menschenwürde“
ОглавлениеDas Wort „Menschenwürde“ hat zahlreiche In- und Extensionen. In dieser Arbeit behandle ich einen speziellen Begriff der Menschenwürde. Ich thematisiere nicht das Wort „Würde“. Erörterte ich das Wort „Würde“, dann müsste ich mich mit vielen unterschiedlichen Varianten der Würde auseinandersetzen. Im Rahmen dieser Arbeit steht aber nur ein bestimmter Begriff der Würde im Mittelpunkt. Wenn man vom Wort spricht, meint man ausschließlich eine bestimmte Zusammensetzung von Buchstaben. Zu jedem Begriff gehören jedoch eine Intension und eine Extension, wobei die Intension nach Frege als Sinn und die Extension als Bedeutung bezeichnet werden. Die Extension umfasst die Menge aller Dinge, die unter den Begriff fallen. Die Intension hingegen bezeichnet die Merkmale und die gegenseitigen Beziehungen der Merkmale eines Begriffes.
Bevor ich die Eigenschaften des hier behandelten Würdebegriffs aufliste, stelle ich Facetten des Wortes dar. Würde ist eine Eigenschaft, die dem Träger entweder notwendigerweise oder kontingenterweise zukommen kann. In den bisherigen Artikeln zur Menschenwürde wurde meist zwischen der inhärenten und der kontingenten Würde unterschieden.2 Diese Unterscheidung ist sprachlich problematisch. Zumindest handelt es sich bei der Unterscheidung um keine Disjunktion, da hier eine Vermischung von Kategorien vorgenommen wurde. Als eine Disjunktion oder einen kontradiktorischen Gegensatz wird die Unterscheidung jedoch zumeist fälschlicherweise aufgefasst. Um keinen Kategorienfehler zu begehen, unterscheide ich die notwendige und die kontingente Würde. Die notwendige Würde ist eine Eigenschaft, die dem Träger notwendigerweise zukommt, wobei es metaphysisch unmöglich ist, dass sie ihm nicht zukommt. Die kontingente Würde jedoch ist eine Eigenschaft, die nicht notwendigerweise dem Träger zukommt. Sprachlich treffender als die Ausdrücke der notwendigen oder der kontingenten Menschenwürde wäre es, von der Würde, die eine notwendige Eigenschaft des Menschen darstellt, bzw. der Würde, die eine kontingente Eigenschaft des Menschen ist, zu sprechen. Um die Arbeit lesbarer zu machen und viele Relativsätze zu vermeiden, benutze ich im Folgenden die Ausdrücke „notwendige“ und „kontingente Würde“. In jedem Fall handelt es sich beim Begriff „Würde“ um eine Eigenschaft. Es gibt verschiedene Arten von Eigenschaften. Eigenschaften resultieren aus der Beschaffenheit des Objektes oder aus der Art der Wechselwirkung mit anderen Objekten (z.B. Relation, Dependenz). Ich beabsichtige nicht, alle Arten von Eigenschaften zu erfassen. Von besonderer Bedeutung für diese Arbeit ist zunächst einmal der Status der Würde, d.h., ist sie notwendig oder kontingent.
Eine notwendige Würde kann sowohl inhärent sein als auch dependent. Wenn es der Fall ist, dass im Wesen eines Menschen notwendigerweise der freie Willen vorhanden und der freie Willen der Grund für die Würde ist, dann besitzt jeder Mensch die notwendige, inhärente Menschenwürde. Wenn Gott jedoch dem Menschen notwendigerweise Würde zusprechen sollte, dann handelt es sich um die notwendige, dependente Würde, die bei allen Menschen zu finden ist. Beide Fälle wären jedoch Arten der notwendigen Menschenwürde.
Auch die kontingente Würde kann an unterschiedliche Eigenschaften gebunden sein. Wenn Menschen sich gegenseitig Würde zusprechen, dann handelt es sich um kontingente, dependente Menschenwürde. Wenn jedoch den Menschen Würde zukommt, weil sie die Fähigkeit besitzen, logische Schlussfolgerungen zu ziehen, und diese Fähigkeit eine körperliche ist, dann besitzen die Menschen, die diese Fähigkeit haben, kontingente, inhärente Menschenwürde (schließlich ist diese Fähigkeit keine notwendige). Beide Fälle stellen jedoch eine Art der kontigenten Menschenwürde dar.
Die kontingente und notwendige Würde müssen jedoch noch weiter unterschieden werden. Der Würdebegriff, der in dieser Arbeit thematisiert wird und der auch für die Diskurse innerhalb der Angewandten Ethik relevant ist, impliziert die normative Gleichheit hinsichtlich der Beachtung aller Träger der Würde, d.h. hier der Menschen. Das Wort „Würde“ kann auch so benutzt werden, dass es die Ungleichheit der Träger der Würde impliziert (Würdenträger innerhalb einer sozialen, z.B. kirchlichen, Hierarchie), wobei dieser Begriff für diese Arbeit nicht relevant ist. Beide Arten der Würde können sowohl auf notwendigen als auch auf kontingenten Würdekonzepten beruhen. Es gibt somit eine notwendige Würde, welche die Gleichheit, wie auch eine, welche die Ungleichheit der Inhaber der Würde impliziert. Gleiches trifft auf die kontingente Würde zu. Eine Würde ist notwendig, wenn sie notwendigerweise auf alle diejenigen zutrifft, die die Eigenschaften besitzen, mit denen die Eigenschaft der Würde begründet wird. Die notwendige Würde beruht auf metaphysischen Eigenschaften, wobei Metaphysik hier als die Disziplin aufgefasst wird, die sich mit dem Wesen der Welt, das jenseits (altgr. meta – nach) der sinnlichen Erscheinungen (altgr. physis – Natur) vorhanden ist, auseinandersetzt.3 Die kontingente Würde kommt den Würdeträgern nicht notwendigerweise zu, sondern beruht auf nicht notwendigen Eigenschaften. Eine Eigenschaft kann mit einer Beschaffenheit oder einer Dependenz, wie der Entscheidung eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen, identifiziert werden.
Die kontingente Würde, die die Ungleichheit nach sich zieht und die im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigt wird, kann auf unterschiedliche Weise auftreten. U.a. wird zwischen einer ästhetischen, sozialen oder expressiven Würde unterschieden (Balzer/Rippe/Schaber 1998, 18f). Die ästhetische ist etwa an die Monumentalität der Erscheinung, die soziale an die soziale Position, z.B. Würde des Bischofs, und die expressive an den Ausdruck und das Verhalten gebunden. Diese Arten der Würde sind kontingent und implizieren eine Hierarchisierung der Würdeträger und Ungleichheit. Die Eigenschaft des Bischofseins ist keine notwendige, da der Träger der Eigenschaft auch einmal nicht Bischof war. Außerdem ist diese Art der Würde eine hierarchische, da dem Bischof eine größere Würde zukommt als dem einfachen Priester.4
Es gibt auch eine notwendige Würde, die die Ungleichheit nach sich zieht. Auch diese wird im Rahmen dieser Arbeit nicht näher berücksichtigt. Jedoch wird sie hier der Vollständigkeit wegen erwähnt. Die notwendige Würde kann an der Intelligenz festgemacht werden, wenn man davon ausgeht, dass Intelligenz dem Wesen eines Menschen zu eigen ist und darin seine Würde begründet liegt. Intelligenz ist jedoch zu unterschiedlichen Graden bei verschiedenen Menschen vorhanden. In diesem Fall ergibt sich eine Hierarchie der Träger notwendiger Würde, weshalb diese Art der notwendigen Würde eine Ungleichheit der Träger impliziert.
Weiterhin gibt es Theorien der notwendigen und kontingenten Würde, die die Gleichheit der Würdeträger zur Folge haben. Auf diese werde ich später noch genauer eingehen und nur diese sind zunächst einmal für die vorliegende Arbeit relevant. Beide Arten von Würdekonzeptionen können für sozial- und individualethische Reflexionen eine Bedeutung haben.
Der Begriff der hier behandelten, nicht abstufbaren Würde ist an sechs Merkmalen festgemacht: 1. Würde kann nicht für sich alleine bestehen, sondern ist stets an einen Träger gebunden; 2. Einem Träger kommt die Eigenschaft „Würde“ zu, wenn er eine nicht abstufbare Eigenschaft X besitzt, in der die Würde begründet liegt5; 3. Zwischen den Trägern derselben besteht das Verhältnis der Gleichheit, d.h., alle Träger der Würde besitzen eine Eigenschaft X, die nicht abstufbar ist und aufgrund der das Verhältnis zwischen ihnen als deskriptive Gleichheit beschrieben werden kann; 4. Die Gleichheit der Träger impliziert eine normative Gleichbeachtung (normative Gleichheit), wobei diese an ein Konzept des sittlich Guten (des Rechten bzw. Richtigen) gebunden ist und nicht an ein Konzept des Schlechten, da der hier thematisierte Begriff der Würde nur vorhanden ist, wenn alle Träger gleich gut, nicht aber, wenn alle Träger der Würde gleich schlecht berücksichtigt werden sollen; 5. Die Träger der Würde nehmen eine Sonderstellung innerhalb der Welt ein, d.h., dass sie sich kategorial von anderen Wesen in der Welt unterscheiden und ihnen im Unterschied zu anderen Wesen eine nicht unmittelbar empirisch aufweisbare Eigenschaft zukommt; 6. Der Begriff wird mit dem Wort „Würde“ oder einem äquivalenten Wort in einer anderen Sprache benannt.6 Alle sechs Merkmale zusammen sind notwendig und hinreichend für das in dieser Arbeit thematisierte Konzept der Würde.7
Der hier thematisierte Begriff der Menschenwürde ist der, der für die gegenwärtigen moralischen Debatten, insbesondere innerhalb von Deutschland, relevant ist. Ein Begriff hat, wie gesagt, stets eine In- und eine Extension. Die Extension ist direkt von der Intension des Begriffs abhängig. Die Extension des Begriffs „Menschenwürde“ ergibt sich aus der Überschneidung der Extensionen der Begriffe „menschliches Wesen“ und „Würdeträger“. Ein Wesen A gehört zur Menge der menschlichen Wesen, wenn es zur Spezies der menschlichen Wesen gehört, d.h., wenn es potenziell ein Teil der Fortpflanzungsgemeinschaft der menschlichen Wesen ist. Ein Wesen B gehört zur Menge der Träger der Eigenschaft „Würde“, wenn es die Begründungen erfüllt, d.h., wenn ihm die Eigenschaften zukommen, an die die Eigenschaft der Würde gekoppelt ist. Die Begründung der Eigenschaft „Würde“ kann sowohl in einer Beschaffenheit als auch in einer Relation oder Dependenz liegen.
Menschenwürde kommt jedoch nur den Wesen zu, die zur Gruppe der menschlichen Wesen und zu der der Würdeträger gehören. Hierbei ergeben sich fünf Möglichkeiten von Verhältnissen: 1. Die Extension der Begriffe „menschliches Wesen“ und „Würdeträger“ ist identisch; 2. Die Extensionen der Begriffe „menschliches Wesen“ und „Würdeträger“ ergeben keine Schnittmenge; 3. Die Extension des Begriffes „menschliches Wesen“ ist so, dass die Extension des Begriffes „Würdeträger“ eine Teilmenge der Extension des Begriffes „menschliches Wesen“ ist; 4. Die Extension des Begriffes „Würdeträger“ ist so, dass die Extension des Begriffes „menschliches Wesen“ eine Teilmenge der Extension des Begriffes „Würde“ ist; 5. Die Extension des Begriffes „menschliches Wesen“ und die Extension des Begriffes „Würdeträger“ überlappen, es gibt jedoch „menschliche Wesen“, die keine „Würdeträger“ sind, sowie es auch „Würdeträger“ gibt, die keine „menschliches Wesen“ sind. Auf die Möglichkeiten der Verhältnisse der Begriffe „menschliches Wesen“ und „Würdeträger“ gehe ich gleich noch genauer ein.
Wenn eine Menschenwürde-Konzeption positiv verfasst, d.h. auf politischer Ebene wirksam werden soll, muss sie von den Herrschenden bzw. Verantwortlichen dort etabliert werden. Ich gehe hier von einer Sanktionstheorie der Normen aus, die behauptet, dass Normen nur dadurch gegeben sind, dass Sanktionen angedroht und (meist) auch vollzogen werden, falls auf eine bestimmte Weise gehandelt wird. Bei der Etablierung einer kontingenten Würdekonzeption ist dafür alleine die Entscheidung der Verantwortlichen notwendig. Bei notwendigen Konzepten ist die Entscheidung der Verantwortlichen zwar ebenfalls notwendig, jedoch kommt hinzu, dass davon ausgegangen wird, dass die Eigenschaften, an die die Würde gekoppelt ist, metaphysisch (sei es als Beschaffenheit oder Dependenz) vorhanden und somit auch gültig ist, ohne dass sie irgendjemand berücksichtigt oder in irgendeiner Form institutionell verankert hat.
Ausschließlich Theorien der notwendigen und kontingenten Würde, die die Gleichheit der Würdeträger implizieren und auf die die Eigenschaften des gerade beschriebenen Menschenwürde-Begriffs zutreffen, sind im Rahmen der gegenwärtigen Fragestellungen relevant, weshalb auch nur diese erörtert werden.8 Es ist dabei zunächst einmal irrelevant, ob die Eigenschaften, an die die Würde gekoppelt ist, mithilfe der Beschaffenheit des Trägers, der Relation oder auch der Dependenz des Trägers zu etwas anderem begründet werden.