Читать книгу Allgemeines Verwaltungsrecht - Stefan Storr - Страница 10

3.Verwaltung im liberalen Rechtsstaat

Оглавление

4Die Ideen von einem liberalen Rechtsstaat – wie sie im 19. Jahrhundert verfochten wurden – standen einem absolutistischen Staatsverständnis diametral entgegen. Das geistige Fundament des liberalen Rechtsstaats reicht bis in die Aufklärung zurück, in der die Stellung des Menschen und seine Beziehung zum Staat neu definiert wurden. So hatte Johann Stephan Pütter bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Beschränkung der Staatstätigkeit gefordert, weil der Bürger nicht „zu seinem Glück gezwungen“ werden dürfe, und Adam Smith7 hatte 1776 in seinem Werk zum Wohlstand der Nationen aus volkswirtschaftlichen Gründen einen freiheitlichen Staat propagiert, doch erst im liberalen Rechtsstaat, wie er sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln begann, wird diese Forderung Programm eines neuen Staats- und Verwaltungsverständnisses: Der Staat soll sich aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich zurückziehen und auf die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung konzentrieren; die allgemeine Wohlfahrt soll nicht seine Sache sein.8 Es geht um den Schutz individueller Freiheit vor obrigkeitlicher Bevormundung, Willkür und „Zwangsbeglückung“9.

5Ausdruck dieses Staats- und Verwaltungsverständnisses ist die Eingriffsverwaltung, die mit Erlaubnisvorbehalten, Befehlen, gegebenenfalls auch hoheitlichem Zwang in Freiheit und Eigentum der Bürger zur Abwehr von Gefahren eingreift. Für den liberalen Rechtsstaat sind zwei Verfassungsgrundsätze maßgebend: Die Teilung der Staatsgewalten, d. h. die Abgrenzung der vollziehenden Gewalt gegenüber Gesetzgebung und Rechtsprechung, sowie die Vorgabe, dass Eingriffe des Staates in die Rechte der Bürger einem gesetzlichen Reglement unterliegen müssen. Mit diesen Bedingungen war das Fundament für die Entfaltung einer eigenen Verwaltungsrechtswissenschaft gelegt. Es bildete sich das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung heraus: Die Verwaltungsbehörden sind an die Gesetze gebunden und dürfen sie nicht aufheben oder abändern (Vorrang des Gesetzes Rn. 31), aber auch Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger bedürfen einer gesetzlichen Grundlage (Vorbehalt des Gesetzes Rn. 32). Obwohl erst spät ergangen (1882), war das „Kreuzberg-Urteil“ des Preußischen OVG für diese Bindung der Verwaltung an das Gesetz wegweisend:10

Das Berliner Polizeipräsidium hatte eine Rechtverordnung „zum Schutze des auf dem Kreuzberge bei Berlin zur Erinnerung an die Siege der Freiheitskriege errichteten, im Jahre 1878 erhöhten Nationaldenkmals“ erlassen, wonach Gebäude nur in solcher Höhe errichtet werden durften, „dass dadurch die Aussicht von dem Fuße des Denkmals auf die Stadt und deren Umgebung nicht behindert und die Ansicht des Denkmals nicht beeinträchtigt wird“. Das PrOVG wies auf die Gesetzesbindung der Verwaltung hin und lehnte es ab, § 10 II 17 preuß. ALR, der die Aufgabe der Polizei i. S. d. „Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ bestimmt, als wohlfahrtspolizeiliche Ermächtigung auszulegen. Die Rechtsgrundlage erfasse nicht „alles, was die Interessen des öffentlichen Wohls, des Gemeinwohls“ angehe, sondern sei nur eine Rechtsgrundlage zur Gefahrenabwehr. Für den Schutz der Ästhetik des Denkmals sei das Polizeipräsidium folglich nicht zuständig gewesen.

6Doch konnte der Staat kein „Nachtwächterstaat“ sein – und war es auch nie11 – sondern musste sich der sozialen Konflikte annehmen, wo die gesellschaftlichen Selbstregulierungskräfte versagten.12 Bereits Robert v. Mohl,13 einer der Wegbereiter der Dogmatik des Verwaltungsrechts, hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Staatszweck auch auf den Wohlfahrtsgedanken erstreckt und gefordert, die Leistungsverwaltung in das öffentliche Recht zu integrieren. Für Mohl war Verwaltung noch eine politische Aufgabe, die die Verfassungsgrundsätze zu verwirklichen und dabei nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu agieren hatte. Der Rechtsstaat sollte aber nicht Schranke staatlicher Tätigkeit sein, sondern ihr Ziel. Wurde zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch grundlegend zwischen Staatsrecht/Staatswissenschaft und Privatrecht unterschieden,14 war es Mohls Verdienst, früh erkannt zu haben, dass die Verwaltung in Abgrenzung zum Verfassungsrecht, aber doch in Bezugnahme auf dieses, zu „verrechtlichen“ ist.

7Diese beiden Anforderungen an das Verwaltungsrecht sind noch heute grundlegend für die moderne Verwaltungsrechtsdogmatik: In einem Rechtsstaat ist es Aufgabe der Verwaltungsrechtsdogmatik, die Verwaltung in die Lage zu versetzen, die an sie gestellten Aufgaben effektiv zu erfüllen („Bereitstellungsfunktion des Rechts“15) und die Bürger vor Eingriffen in ihre Rechte durch die Verwaltung zu schützen. Oder O. Mayer: „Der Rechtsstaat ist der Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts“.16

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind die Staatsaufgaben deutlich gewachsen (Verstaatlichung des Eisenbahn- und Hüttenwesens, Aufbau des Telegraphenwesens, Schaffung einer Sozialversicherung). Dies hatte auch Bedeutung für die Verwaltung, die Art ihrer Aufgabenerfüllung und für die Verwaltungsrechtsdogmatik: Während des 1. Weltkriegs begann der Staat mit den Instrumenten des öffentlichen und privaten Rechts intensiv die Grundversorgung der Bevölkerung und die Kriegswirtschaft zu organisieren („Kriegsverwaltungsrecht“).17 Im Bereich der Ernährungsverwaltung stand an leitender Spitze das Kriegsernährungsamt, dem Lebensmittelstellen und Spezialbehörden unterstellt waren. Soweit die Behörden neben der Verwaltung mit dem Warenumsatz beauftragt waren, wurden ihnen hierfür Geschäftsabteilungen in Form von Gesellschaften mit beschränkter Haftung „angegliedert“, deren Gesellschafter in der Regel das Reich, die Bundesstaaten, Kommunen und manchmal Private waren. Der Zugriff des Staates auf das Privatrecht führte zur Gemeinwohlbindung privatrechtlichen Handelns und später zur Entwicklung eines Verwaltungsprivatrechts (Rn. 291 ff.).

Allgemeines Verwaltungsrecht

Подняться наверх